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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Frankfurt am Main

Tröstliches Fragen - 450 Jahre "Heidelberger Katechismus"

Tröstliches Fragen - 450 Jahre "Heidelberger Katechismus"

Der, die, das
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt, bleibt dumm.
Tausend tolle Sachen
gibt es überall zu sehn.
Manchmal muss man fragen,
um sie zu versteh'n.

Der, die, das
Wer, wie, was?
Wieso, weshalb, warum?
Wer nicht fragt, bleibt dumm.

(Titelsong der Sesamstraße)

Das Lied am Anfang der Kindersendung „Sesamstraße“ ist vielen aus dem Fernsehen vertraut.  Dass Kinder nach allem und jedem fragen, ist selbstverständlich, wenn auch hin- und wieder nervig. Sie werden zu Fragen ermutigt, aber zu viele sollen es dann auch nicht sein. Nach dem dritten „Warum?“, auf das Eltern keine rechte Antwort geben können, ist es vielen oft genug. Vielleicht weil sie das Gefühl haben, zu dumm zu sein. Aber nicht die fehlenden Antworten, sondern die nicht gestellten Fragen machen dumm. Denn Kinderfragen stecken voller Neugier und Staunen, aber auch ihr Erschrecken und ihre Angst lösen Fragen aus.

„Warum ist der Himmel blau?“ und „Wohin zieht sich der Schatten zurück?“ sind Fragen, die nicht allein durch wissenschaftliche Erklärungen zu beantworten sind. Kinderfragen rühren an das Geheimnis des Lebens. Kinder wollen wissen, die Welt entdecken, verstehen und Wege finden. Alles ist ihnen zunächst unvertraut und neu. Langsam eignen sie sich durch Frage und Antwort ihre Welt an. Und das Fragen hört nicht auf, sondern nimmt noch zu. Nur die Antworten werden komplizierter oder es gibt keine mehr. Dann kann das Fragen der Kinder auch verstummen. Mit ihren Fragen möchten sie ein nicht endendes Gespräch mit den Erwachsenen eröffnen. Wer ihre Neugier teilen kann, wird auch als Erwachsener neugierig bleiben.

Musik: J. Albeniz, Sevilla

Kinderfragen führen nicht nur zum Wissen, sondern können die Welt auch verzaubern. Wo das Fragen des Kindes nicht verlernt wird, da kann sogar große Poesie entstehen. Auf einer Reise nach Chile habe ich das Haus des Dichters Pablo Neruda in Valparaiso besucht. Von dort hat man einen wunderbaren Blick auf das Meer, der zum Staunen und zum Fragen einlädt.  Am Ende seines Lebens hat Neruda in 74 kurzen Gedichten auf  sehr poetische  Weise noch einmal ganz neu gefragt. „Das Buch der Fragen“ hat er seine Sammlung überschrieben. „Wird unser Leben nicht ein Tunnel sein / zwischen zwei vagen Klarheiten? / Oder wird es nicht eine Klarheit sein / zwischen zwei dunklen Dreiecken? / Oder wird Leben nicht ein Fisch sein / vorbereitet darauf ein Vogel zu sein? / Wird Tod bestehen aus Nicht-Sein / oder aus gefährlichen Dingen?“

Das Woher und das Wohin des Lebens ist fraglich, entzieht sich schlichtem Begreifen und Verstehen und hüllt sich in ein rätselhaftes Dunkel. Die Fragen halten die Sehnsucht nach Antworten wach, die Menschen Trost und Halt geben. Wer fragt, der will nicht nur etwas wissen und verstehen, sondern in der Erkenntnis auch Trost und Orientierung für sein Leben finden. Noch einmal Pablo Neruda: „Sag mir, ist die Rose nackt oder ist dies ihr einziges Kleid?“ oder „Warum verbergen Bäume die Großartigkeit ihrer Wurzeln?“ oder „Wie teilen die Orangen das Sonnenlicht auf im Orangenbaum?“ und schließlich „Wen kann ich fragen, was zu vollbringen ich in diese Welt kam?“ und „Wenn alle Flüsse süß sind, woher hat der Ozean sein Salz?“ Die Fragegedichte Nerudas weisen auf das Wunderbare in der Wirklichkeit. Er hat sich das Staunen und den überraschenden Blick des Kindes bewahrt.

Es gibt viel mehr zu fragen als zu erklären. Fragen haben ihre eigene Würde. Wer fragt, sucht Trost. Denn er ist nicht fertig mit seiner Welt und seinen Mitmenschen, mit sich selbst nicht und auch nicht mit Gott. Deshalb ist auch der christliche Glaube immer ein fragender Glaube. Mit seinen 129 Fragen und Antworten hat der „Heidelberger Katechismus“, an den ich heute erinnern möchte, das Fragen zum Ausgangspunkt des Lernens gemacht. Das war neu und unerhört und ist genau 450  Jahre her.

Musik: Jean Francaix, Divertissement, Vivace (1. Satz)

Die erste Frage des „Heidelberger Katechismus“ kann als Leitfrage verstanden werden: „Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?“ Anders formuliert: Was trägt und hält die Menschen in ihrem Leben angesichts des Todes? Was gibt dem Leben einen Sinn, den auch der Tod nicht zu zerstören vermag?  Schönheit und Macht, Erfolg und Reichtum sind vergänglich. Sie können zwar Tröstungen für eine gewisse begrenzte Zeit sein, aber sie bieten kein Ziel, durch welches das Leben sinnvoll wird. Die Frage setzt das Vertrauen voraus, dass es eine überzeugende Antwort gibt. Das Kind, das nach dem blauen Himmel fragt, wird bereits in eine Welt von Antworten hineingeboren. Wie bei allen Fragen geht auch hier die Antwort der Frage voraus.

Als die Reformatoren ihre Fragen an die katholische Kirche stellten, merkten sie sehr schnell, dass für die Fähigkeit zum weiteren Fragen Bildung, d.h. vor allem Lesen und Schreiben, nötig ist. Es war Martin Luthers Freund Philipp Melanchthon, der als humanistisch gebildeter Gelehrter, größten Wert auf den Ausbau des Schulwesens in den protestantisch gewordenen Ländern legte. Die Kinder sollten als Schüler nicht nur das Fragen nicht verlernen, sondern durch genaues Hinhören und Hinsehen ihre Fragefähigkeiten verbessern. Einer der Schüler Melanchthons, der 1534 in Breslau geborene Zacharias Ursinus, gilt als Hauptverfasser des „Heidelberger Katechismus“. Als Kind hatte er seine Mutter verloren und der Tod des Vaters stürzte ihn als 21-Jährigen in eine tiefe Krise. Er fühlte sich weder berufstauglich noch lebensfähig. Viel ist in seinen Briefen aus jener Zeit vom „Elend“ die Rede.

Ich stelle mir ihn vor als jemand, der nach dem Sinn des Lebens fragt und intensiv nach Trost sucht. In einer Zeit massiver Konflikte zwischen Reformierten und Lutheranern wollte er mit seinen Fragen und Antworten einen verbindlichen Kanon evangelischer Lehre schaffen, der das Glaubensbekenntnis, die zehn Gebote, das Verständnis von Abendmahl und Taufe und das „Vater unser“ umfasste. Ursinus war als junger Mann durch halb Europa gereist und hatte unzählige Gespräche mit namhaften Vertretern der Protestanten in Wittenberg, Straßburg, Basel, Genf, Paris und Zürich geführt. 1561 wurde er mit 27 Jahren an die Universität Heidelberg berufen. In drei großen Abschnitten „Von des Menschen Elend“, „Von des Menschen Erlösung“ und „Von der Dankbarkeit“ werden diese Fragen im „Heidelberger Katechismus“ dann geordnet. Sie entstammen der alltäglichen Erfahrung und führen zum Dialog mit allen, die nicht aufgehört haben zu fragen.

Musik: Jean Francaix, Divertissement, Lento (2. Satz)

Existentiell und elementar sind die Fragen des „Heidelberger Katechismus“. Beispielsweise Frage 3 „Woher erkennst du dein Elend?“ oder Frage 7 „Woher kommt denn diese böse und verkehrte Art des Menschen“ oder Frage 91 „Was sind denn gute Werke?“ Durch das Fragen wird das eigene Nachdenken herausgefordert. Wie soll ich antworten, wenn ich die Antwort selbst noch nicht kenne? Bei wem und wo Antwort finden, dem und der ich vertrauen kann? Kinder fragen zunächst ihre Eltern, weil sie ihnen Antworten zutrauen. Doch im Lauf der Zeit wachsen die Zweifel, ob die Antworten der Eltern stimmen, ob sie nicht einfach nur das wiederholen, was immer schon auf bestimmte Fragen geantwortet wurde. Leerformeln treten an die Stelle lebendiger Sprache. Ja, Fragen und Antworten werden eingepaukt, so dass langsam die Neugier und das Interesse am eigenen lebendigen Fragen verloren gehen.

Auch der „Heidelberger Katechismus“ hat als „Zwangs- und Paukbuch“ in strengen reformierten Kirchen eine zweifelhafte Berühmtheit erlangt. Wie vielen jungen Menschen ist durch einen solchen autoritären Katechismusunterricht die Freude an der befreienden Botschaft des christlichen Glaubens ausgetrieben worden! Mit dem Geist des freien zwanglosen Fragens hatte ein solcher Unterricht nichts zu tun. Aber das Auswendiglernen und „Einpauken“ prägen bis heute Schule und Universität. Um das Wissen nachzuweisen, wird abgefragt. Prüfungen sind oft nur ein Nachweis, wie diszipliniert gelernt wurde. Da es in Prüfungen auch um Macht geht, ist die Prüfungsangst bei vielen nur allzu verständlich. Im Quiz dagegen wird mit Fragen und vorgegebenen Antworten gespielt und es dient der Unterhaltung. Hier das Fragespiel, dort die Fragedisziplin: beide sind vom existentiellen Ernst der Katechismusfragen weit entfernt. Denn wie und bei wem Menschen Trost finden und wer und was ihnen Orientierung auf ihrem Lebensweg gibt, bleibt im Spiel und in der Wissensübung unbeantwortet. Die Fragen besitzen hier kein eigenes Gewicht, eröffnen keine neuen Horizonte und sind nicht mit hohen Erwartungen erfüllt.

Die Fragen des Heidelberger Katechismus sind tröstlich, weil sie bereits von einer Antwort herkommen, die alle nur erdenklichen Fragen der Menschen aufzunehmen vermag. Denn die Kinder wie die Erwachsenen finden nur fragend zum Grund und Geheimnis ihres Lebens. Ihre Antworten sind zeitabhängig, vorläufig und begrenzt. Vieles würde heute anders formuliert werden als im „Heidelberger Katechismus“. Doch Gott hat bereits geantwortet, bevor der Mensch alle seine Fragen stellen kann. Gottes Antwort macht den Menschen frag-würdig im doppelten Sinn: er wird in Frage gestellt und hat das Recht, eigene Fragen zu stellen.

Musik: Johann Sebastian Bach, Präludium und Fuge G-Moll

Der „Heidelberger Katechismus“ ist ein Fragebuch. Menschen wollen wissen, warum sie sich Christinnen und Christen nennen. Wie kann das menschliche Elend und das Böse erkannt werden und was hat es auf sich mit dem Zuspruch der Erlösung und der Vergebung von Schuld? Lebensnah sind die Fragen und Antworten, denn sie geben die Erfahrungen der Menschen zur Zeit der Reformation wieder.

Wie könnte ein Katechismus heute aussehen?  Wie entstehen aus alten und bekannten Fragen neue Fragen? Was tröstet, wenn alles trostlos und dunkel scheint? Wohin geht die Großmutter, fragt das Kind, als diese gestorben ist? Wird sie zu einem Stern am Himmel oder geht sie zu den Wurzeln der Bäume? Die Untröstlichen schreien ihre Fragen heraus. Wo ist Gott angesichts unermesslichen Leids? Als Jesus einsam am Kreuz hing, hat er sich verzweifelt mit einer ihm vertrauten Gebetsfrage an Gott gewandt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Und nach Ostern haben die Jüngerinnen und Jünger zunächst einfach nur ungläubig gefragt, ob Jesus wirklich der Maria Magdalena und den beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus erschienen ist?

Ihre Trauer war zu schmerzhaft, um das Leben neu zu sehen. Aber fragen konnten sie. Denn der Glaube kommt durchaus auch aus dem skeptischen Fragen, das aufmerksam zuhört. Die mit ganzem Herzen und wachem Verstand Fragenden werden zu Zeuginnen und Zeugen eines unerhörten Geschehens. Sie erkennen, dass Gott bereits geantwortet hat, indem er ihnen ein Leben in Fülle versprochen hat.  Erstarrte Herzen geraten durch das Fragen wieder in Bewegung.  Schlimmer als jede kritische Frage ist das tödliche Schweigen. Was macht Menschen stumm und lässt sie fraglos auch das Fürchterlichste hinnehmen? Mit den Kindern die Fragen zu teilen, statt immer schon fertige Antworten parat zu haben, befreit vom Zwang des Allwissens.

Warum weinst Du? Was macht Dich so unzufrieden? Woher kommt dein Glück? Warum staunst Du und was macht Dir Angst? Der „Heidelberger Katechismus“ will eine Übung für existentielles Fragen sein. Ein heutiger Katechismus wäre eine Sammlung von solchen Fragen, die an das Glaubensbekenntnis, die zehn Gebote oder das „Vater unser“ gestellt würden. Dabei gibt es keine dummen Fragen. Manche können frech und indiskret, unverschämt und quälend sein, aber deshalb sind sie nicht unberechtigt.

Respektvolles Fragen will gelernt sein. Es nimmt Rücksicht auf das Gegenüber, will nicht verletzen oder bloßstellen. Tröstlich ist, wenn nachsichtig und  barmherzig gefragt wird. Der Ton macht auch hier die Musik. Ein Katechismus ist ein Lehrbuch, mit dem man lernt dem Geheimnis und dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen. Wie bei den Kindern sind alle Fragen, die einfachen und die schweren, erlaubt. So entsteht eine Gemeinschaft der Neugierigen und Erwartungsvollen, die mit Gott so wenig fertig ist wie mit der Welt und den Mitmenschen.

Wieso? Weshalb? Warum? Mit jeder Frage wird ein Atemraum zwischen den Menschen und Gott geöffnet. Gottes Leben schaffende und bejahende Antwort hält allen Fragen stand und lädt auch in der größten Verzweiflung und Ratlosigkeit zu vertrauensvollen Anfragen und Rückfragen ein.

Musik: Torrie Zito, Divertimento