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Eine Sendung von

evangelische Pfarrerin im Ruhestand, Frankfurt am Main

Sermon von der Bereitung zum Sterben – im 21. Jahrhundert

Sermon von der Bereitung zum Sterben – im 21. Jahrhundert

Heute werden in vielen evangelischen Kirchen besondere Kerzen angezündet. Es ist Totensonntag. Wir gedenken der Menschen, die in den vergangenen zwölf Monaten gestorben sind und begraben wurden. Ihre Namen und ihr Alter werden vorgelesen. Für jede und jeden wird eine Kerze angezündet und an sie im Gebet erinnert. Meist sind die Angehörigen eingeladen. Sie dürfen ihre Trauer zeigen, auch ihre Tränen. Das Abendmahl, das in diesen Gottesdiensten gefeiert wird, verbindet die Trauernden mit der Gottesdienstgemeinde. Wenn sie die Kirche verlassen, ist es wie der Weg in ein neues Leben. Auch in diesem Jahr sind nicht nur alte Menschen gestorben. Nicht jeder Tod hat sich vorher angekündigt. Ein altes Kirchenlied sagt:

„Wer weiß, wie nahe mir mein Ende! Hin geht die Zeit, her kommt der Tod; ach, wie geschwinde und behende kann kommen meine Todesnot“.

Einmal im Jahr wird der Tod zum Thema. Der Monat November scheint dafür besonders geeignet. Alle Religionen versuchen, eine Antwort zu geben auf die zentrale Frage der Menschen, die Frage nach dem Sinn von Leben angesichts des Todes. Der Tod ist die einzig sichere Tatsache, aber er ist nicht der Sinn und das letzte Wort über ein Menschenleben. Er ist das Ende des Lebens, aber nicht ein endgültiges Ende, allenfalls ein Durchgang in eine andere, eine bessere Welt. Dafür haben alle Religionen ihre je eigenen Bilder. Das Besondere am Christentum: der Tod selber ist Trost. Davon schreibt Martin Luther in seinem „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ aus dem Jahr 1519, der nach der nächsten Musik zur Sprache kommen soll.

Musik: Jesu meine Zuversicht (Text Otto von Schwerin), Vocal Concert Dresden, Leitung: Peer Kopp, Orgel: Sebastian Knebel

„Je tiefer der Tod betrachtet, angesehen und erkannt wird, desto schwerer und bedenklicher ist das Sterben“.

So schreibt Martin Luther bereits 1519 in seinem „Sermon von der Bereitung zum Sterben“. Dagegen hilft der Glaube, dass der Tod gleichsam ein zweites Geborenwerden ist.

„Im Sterben öffnet sich der schmale Pfad zum Leben; darauf muss sich jeder fröhlich wagen. Denn er ist wohl sehr enge, aber er ist nicht lang; es geht hier zu, wie wenn ein Kind aus der kleinen Wohnung in seiner Mutter Leib mit Gefahr und Ängsten hineingeboren wird in diesen weiten Raum von Himmel und Erde, das heißt auf diese Welt: ebenso geht der Mensch durch die enge Pforte des Todes aus diesem Leben…"

Natürlich weiß auch Martin Luther, dass der Tod nur deshalb so stark ist, weil Menschen Angst vor ihm haben. Diese Angst vor dem Tod lässt sich nicht durch Fröhlichkeit oder Unbekümmertheit überdecken. Um die Angst aber nicht übermächtig werden zu lassen, rät er zu einer besonderen Strategie:

„Im Leben sollte man sich mit dem Gedanken an den Tod beschäftigen und ihn vor uns treten heißen, so lange er noch ferne ist und uns noch nicht bedrängt; im Sterben dagegen, wenn er schon von selbst nur allzu stark da ist, ist es gefährlich und nichts nütze. Da muss man sich sein Bild aus dem Sinn schlagen und es nicht sehen wollen“.

Das klingt wie Verdrängung oder Autosuggestion. Viele Menschen heutzutage haben weniger Angst vor dem Tod als vor langem Siechtum oder Schmerzen. Hospize, Palliativmedizin und mancherlei freiwillige Dienste bieten da Hilfe an. Martin Luthers „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ ist in zwanzig Abschnitte gegliedert. Überraschend beginnt er mit ganz praktischen Überlegungen, ehe er zum theologischen und geistlichen Teil kommt. Offenbar gab es schon im 16. Jahrhundert die gleichen Probleme wie heute:

„Erstens: Weil der Tod ein Abschied ist von dieser Welt und allen ihren Geschäften, ist es nötig, dass der Mensch sein zeitlich Gut in Ordnung bringe, wie es sich gehört oder er es zu regeln gedenkt, damit nach seinem Tode kein Anlass zu Zank, Hader oder sonst einem Zweifel unter seinen Verwandten zurück bleibt. Das ist ein leiblicher oder weltlicher Abschied von dieser Welt; hier Hab und Gut entlassen und verabschiedet“.

In heutiger Sprache: Ein Testament verfassen und vor dem Tod, wie es so schön heißt: „mit warmen Händen verschenken“.  Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht gehören auch zu den weltlichen Dingen, die Luther sicher heute anraten würde.

„Zweitens soll man auch geistlich Abschied nehmen, das heißt man soll freundlich, rein um Gottes willen, allen Menschen vergeben, so sehr sie uns auch Leid zugefügt haben mögen. Umgekehrt soll man auch, rein um Gottes willen, von allen Menschen Vergebung begehren; denn zweifellos haben wir vielen von ihnen Leid zugefügt, zum mindesten mit bösem Beispiel oder mit zu wenig Wohltaten, wie wir nach dem Gebot brüderlicher, christlicher Liebe schuldig gewesen wären. Das sollen wir tun, damit die Seele nicht mit irgendwelchen Händeln auf Erden behaftet bleibe“.

Es gehört zu den schönsten Erfahrungen, die wir machen können, wenn Menschen vor dem Tod mit sich und anderen ins Reine gekommen sind, wenn sie versöhnt sterben können. Oft braucht es dazu keine großen Worte, aber der Frieden wird spürbar, das Sterben leichter. In den beiden letzten Abschnitten seiner Schrift betont Luther, welche Bedeutung das Kreuz Jesu Christi für das Sterben hat.

„Nun sieh, was soll dir dein Gott mehr tun, damit du den Tod willig annimmst, nicht fürchtest und überwindest? Er zeigt und gibt dir in Christus das Bild des Lebens, der Gnade und der Seligkeit, damit du dich nicht vor dem Bild des Todes, der Sünde und der Hölle entsetzest…. Man darf sich nicht so sehr vor dem Tod fürchten: man muss allein seine Gnade preisen und lieben. Denn die Liebe und das Loben erleichtern das Sterben gar sehr; so sagt Gott durch Jesaja: ‚Ich will deinen Mund mit meinem Lobe zäumen, dass du nicht untergehst‘. Dazu helfe uns Gott. Amen“.

Musik: Max Reger, Der Mensch lebet und bestehet, aus 8 Geistliche Gesänge, Opus 138, The Netherlands Chamber Choir unter Leitung von Uwe Gronostay

Mich fasziniert, wie aktuell der Text aus dem 16. Jahrhundert ist. Martin Luther schreibt für Menschen, die in den Kirchen schier grauenhafte Bilder vom Tod vor sich sehen mussten. Es waren die „Totentänze“, Bilder, die den Tod als Gerippe zeigen, der sich willkürlich Menschen greift und sie abführt, Menschen aller Stände, aller Berufe, Alte, Junge, Kinder. Dem diese manchmal entrissen werden von Dämonen und Fratzen, die die Hölle repräsentieren. Gegen diese Bilder setzt Luther das Kreuz Christi, das Bild der Liebe Gottes. Das Bild vom Sieg des Lebens über Tod und Hölle. Und er schreibt gegen diese Bilder:

„Wenn nun der Tod an einen gläubigen Christen herantritt, so sagt der Christ: Willkommen, lieber Tod, was bringt ihr Gutes? Was sucht ihr hier? Weißt du nicht, wen ich bei mir habe? Christus ist meine Gerechtigkeit. Lieber, komm her und nimm sie mir; wenn du sie mir nimmst, so will ich dir folgen. Du wirsts aber wohl lassen. So trotzen die Christen dem Tod und sagen mit Paulus: Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?... Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn. Sterbe ich, so habe ich Gewinn, denn ich komme desto eher zum Leben. So siehest du, was der Tod bei den Christen ausrichtet. Er ist nur ihr Gewinn, sie verlieren nichts an ihm, er aber beißt sich an ihnen zu Tode“.

Ein wenig Schadenfreude klingt an in den alten biblischen Worten. Dem Tod, der Hölle wird gleichsam eine lange Nase gedreht wie in manchen barocken Texten in Kantaten von J. S. Bach. Das Osterlachen, weil der Glaube Vergnügen macht.  Martin Luther hat das bitterernste Thema Tod immer wieder mit befreiendem Lachen, ja Witzen kommentiert. So zum Beispiel, als er in einer Hetzschrift für tot erklärt wurde. Da soll er gesagt haben, er habe diese Nachricht fast gern und fröhlich gelesen und fühle sich „sanft auf der rechten Kniescheibe und an der linken Ferse gekitzelt“.

Ja, wenn es so einfach wäre! Es mag Zeiten geben, da lässt sich so fröhlich glauben. Aber was ist, wenn ein junger Mensch an Krebs erkrankt und nicht geheilt werden kann? Ein Kind stirbt, warum? Warum müssen manche so leiden, sich quälen? Warum gibt es so viel sinnloses Sterben? Da siegen Tod und Hölle täglich, und das Kreuz Christi steht weit entfernt von so viel Sinnlosigkeit. Die Erinnerung, dass Jesus am Kreuz in Todesangst gerufen hat:  „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ stärkt allenfalls den Zweifel, ob Leiden wirklich Gottes Wille ist.

Auch Martin Luther hat Sterben erlebt, das ihm sehr nahe ging, wo er nicht mehr lachen konnte. Als seine kleine Tochter Magdalena gestorben war, konnte der Blick auf Christi Tod den Schmerz nicht nehmen. Er sagt: Erst „durch eine Art von schnaubendem Zorn gegen den Tod „  seien die Tränen gestillt worden. Es fällt auch Christen und Christinnen schwer, an der Hoffnung festzuhalten, dass der Tod besiegt ist und am Ende des Sterbens neues Leben auf uns wartet. Manche suchen, das eigene Sterben selbst zu bestimmen. Sie erwarten, dass diese letzte Selbstbestimmung ihnen mehr Frieden gibt als der Tod zu einem Zeitpunkt, auf den sie keinen Einfluss haben.

Musik: Johannes Brahms, Herr, lehre doch mich, aus: Ein deutsches Requiem, Chicago Symphony Orchestra unter Sir Georg Solti

Martin Luthers Schrift „Sermon von der Bereitung zum Sterben“ aus dem Jahr 1519 enthält praktische und geistliche Ratschläge, wie man sich auf den Tod vorbereiten kann. Die praktischen leuchten auch heute noch unmittelbar ein, zum Beispiel, dass man ein Testament machen und sich mit den nahen Menschen verständigen soll. Die geistlichen Ratschläge sind ungleich schwerer zu übernehmen, vor allem weil wir heute mancherlei Rituale von damals nicht mehr kennen oder praktizieren. Dazu gehört der Blick auf die Heiligen, die für Luther noch sehr wichtig waren. Ihr Sterben anzusehen, meint er, könne helfen, auf Christus zu sehen. Da sei der Stachel des Todes fern.

Allerdings kann auch heute wichtig sein, zu hören oder zu lesen, wie unterschiedlich Menschen sterben, oft wenig schrecklich, sondern ruhig, gelassen, friedlich, vorausgesetzt, sie müssen keine Schmerzen aushalten. Viele Alte fühlen ihre Zeit gekommen und sterben einverstanden, alt und lebenssatt. Früher hätte man das „ein seliges Sterben“ genannt.

Von Luthers eigenem Sterben am 18. Februar 1546 haben wir genaue Berichte von den vielen Menschen, die zugegen waren. Er war wegen des Erbstreites der Mansfelder Grafen, den er schlichten wollte, mit seinen drei Söhnen und seinem Freund Justus Jonas nach Eisleben, seinem Geburtsort, gekommen. Auf dem Weg ergab sich noch einmal eine Szene für kräftigen Spott. Sie fuhren mit einem Kahn über die Saale bei starkem Hochwasser. Luther meinte, das würde dem Teufel gefallen, ihn hier ersaufen zu sehen.

Der Tag vor seinem Sterben verlief wie andere. Eine letzte Predigt, das gemeinsame Abendessen mit gutem Essen und Trinken, Musik, weil der Teufel die genauso flieht wie die Worte der Theologie. Dann geht er zu Bett, das man ihm wie gewohnt vorgewärmt hat. Er betet in lateinischer Sprache und fordert die Anwesenden dann auf:

„Für unseren Herrn Gott und sein Evangelium zu beten, dass es ihm wohl gehe. Denn das Konzil zu Trient und der leidige Papst zürnen hart mit ihm“.

Bald darauf stirbt Luther vermutlich an einem Herzanfall. Sein letztes Wort „Ja!“ auf die Frage, ob er auf Christus und die Lehre, wie er sie gepredigt habe, beständig bleiben und sterben wolle. Letzte Worte, letzte Erinnerungen, sie können auch heute wichtig sein, können zeigen, wie Christus durch den Tod bringt, wie der Tod seinen Stachel verliert und die Hölle ihren Sieg. Alte Rituale helfen. Das Abendmahl am Sterbebett ist für viele eine Vergewisserung, dass Christus anwesend ist und dem Tod die Macht genommen hat. Manche sterben ruhiger, wenn sie von bekannten Gebeten begleitet werden. Davon berichten auch Notfallseelsorger und Seelsorgerinnen, die oft mit Angehörigen die ersten tröstenden Worte suchen müssen.

Wer nicht biblisch gefestigt oder bewandert ist, hat das Vaterunser zum mindesten schon mal gehört. Oder Psalm 23: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir“. Die alten Worte tragen auch angeblich Ungläubige, sogar Menschen anderen Glaubens. Christus begegnet bis heute in Menschen, gerade in denen, die Sterbende begleiten.

Manche möchten allein gelassen werden, wenn es zum Sterben kommt. Auch das sollte akzeptiert werden, hat Christus doch viele Möglichkeiten, uns durch den Tod zu begleiten. Und wenn ich zuletzt alles nicht mehr glauben kann, wenn mir Christus fern bleibt und die biblischen Worte hohl klingen, hat dann die Hölle gesiegt, behält der Tod seinen Stachel? Dann hoffe ich, dass andere an meiner Stelle glauben und beten und für mich die Hoffnung festhalten, damit es – mit Martin Luther -  ein seliges Sterben wird.

Musik: Gabriel Fauré, In paradisum, aus Requiem, The Choir of Trinity College, Cambridge unter Richard Marlow