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Eine Sendung von

evangelische Pfarrerin, Königstein im Taunus

Sackgasse Selbstrechtfertigung: Karl May und Paulus

Sackgasse Selbstrechtfertigung: Karl May und Paulus

Bestimmte Standardsätze gehören zum Ritual einer öffentlichen Selbstverteidigung. Sie lauten: „Ich kann mich nicht erinnern.“ „Es geschah doch alles in guter Absicht“. „Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt“. „Ich kann mir keinen Vorwurf machen.“  Ob Ministerin und Minister, Bischof oder Vorstandsvorsitzender, Spitzensportler, Politikerin, Wissenschaftler oder Schiffskapitän: alle greifen zu den immer gleichen Formeln, um Angriffe auf ihre Person, ihren guten Ruf, ihre Integrität abzuwehren. Auch in diesem Sommer sind wir Zeugen: einerseits von öffentlicher Anklage und Infragestellung.  Anderseits von energischer Selbstrechtfertigung, die wenig Selbstkritik zulässt.

Das verfolgen viele. Zum einen aus dem berechtigtem Interesse der Öffentlichkeit an politischen Vorgängen, die jeden Bürger angehen. Und dem Wunsch, die Wahrheit zu erfahren. Zum anderen, weil das Thema Selbstrechtfertigung die meisten Menschen auch persönlich interessiert und angeht. Jeder Mensch ist schon einmal bei einem Fehler ertappt worden ist. Vielleicht bei einem, der lange zurückliegt. Man erinnert sich nicht mehr so genau und ist gleichzeitig froh, dass alles doch schon so lange zurückliegt. Gut, wenn niemand daran rührt, besser noch, wenn das Ganze vergessen ist. Das erspart einem peinliche Verteidigungsmanöver. Wehe dem, der erwischt wird bei einer Lüge oder einer Vertuschung. Wie leicht manövrieren sich ertappte Sünder durch panisches Abstreiten eines Vorwurfs immer tiefer in das Gespinst aus Unwahrheit, Ängstlichkeit und Abwehr, das sie immer mehr fesselt und ihre Kräfte bindet.

Was soll man aber tun, wenn die anderen mit Fingern auf einen zeigen und man anfängt, sich zu rechtfertigen? Es geht um die Frage: Wie komme ich heraus aus der Selbstrechtfertigungs-Falle?

Musik: Johann Sebastian Bach, Zweistimmige Invention Nr. 11, G-Moll, Janine Jansen + Maxim Ryxanov

Dass die Falle der Selbstrechtfertigung über jedem zuschnappen kann, liegt auf der Hand. Fehlerlose Menschen gibt es nämlich nicht. Einer, der dies besonders hart zu spüren bekam, war der Schriftsteller Karl May. Noch immer gehören seine Bücher zu den am meisten gelesenen oder verfilmten Werken der deutschen Literatur. Auch wenn die Popularität bei den Jüngeren nachgelassen hat: immer noch lassen sich Leser und Zuschauer faszinieren von seinen spannenden Geschichten aus dem Wilden Westen und dem Orient.

Karl May hatte einen eigenartigen Lebenslauf. Er stammte aus  bitterarmen Verhältnissen in Sachsen. 1842 wurde er in eine kinderreiche Weber-Familie geboren. Der begabte Junge durfte eine Lehrerausbildung beginnen. Unter den Gleichaltrigen, von denen die meisten besser gestellt waren als er, geriet er durch einen kleinen Diebstahl auf die schiefe Bahn. Eine erste Verurteilung zu einer mehrwöchigen Haftstrafe bedeutete das Aus für den bürgerlichen Beruf des Lehrers. Nun verstrickte Karl May sich immer tiefer in kriminelle Machenschaften, bis er schließlich als vorbestrafter Mehrfachtäter gefasst und zu einer langjährigen Strafe im berüchtigten Zuchthaus von Waldheim verurteilt wurde.

Erst nach Verbüßung seiner Strafe fand er als Mann von Anfang 30 seinen Weg: Er wurde Redakteur bei Unterhaltungsblättern und dann freier Schriftsteller, der so bekannte Gestalten wie Winnetou, Old Shatterhand und Kara ben Nemsi geschaffen hat.

Dass er neben den berühmten Wildwest- und Orientgeschichten unter anderem Namen schwülstige Kitschromane veröffentlicht hatte, blieb lange unbemerkt. Lange blieb verborgen, dass er die Abenteuer des edlen Apachenhäuptlings und seines weißen Freundes nicht selbst erlebt, sondern mit langen Passagen ausgeschmückt hatte, die er aus Reiseführern und geographischen Beschreibungen abgeschrieben hatte. Obwohl er nie eine Universität besucht hatte, legte May sich einen Doktortitel zu und sorgte dafür, dass man ihn mit Old Shatterhand identifizierte und seine Romane für authentische Reiseberichte hielt. Um diese verkaufsfördernde Legende glaubhaft zu machen, ließ er sich in Wildwestkleidung mit einem eigens für ihn angefertigten Gewehr, dem berühmten „Henrystutzen“, ablichten. Er behauptete, über tausend Sprachen und Dialekte zu beherrschen und Winnetous Nachfolger als Anführer der Apachen zu sein. Man glaubte ihm bereitwillig. In dieser Zeit galt sein Werk als moralisch erhebend. Besonders die katholische Kirche empfahl seine Werke der Jugend zur Lektüre. Karl May konnte sich eine repräsentative, heute noch sehenswerte Villa in Radebeul bei Dresden bauen und sonnte sich im spät erworbenen Ruhm.

Da brach unversehens die Katastrophe über ihn herein. Es wurde ruchbar, dass er die angeblich bereisten Länder nie gesehen und seine Abenteuer erfunden hatte und dass sich in seinem Werk Plagiate fanden. Er sah sich plötzlich mit seiner kriminellen Vergangenheit konfrontiert und als ehemaligen Zuchthäusler bloßgestellt. Dass Karl May, der rührselige Marienlegenden  geschrieben hatte, in Wahrheit Protestant war, passte in dieses neue, hässliche  Bild. Über Nacht galt May als Hochstapler, Betrüger, Lügner und Verderber der Jugend. Die katholische Kirche zog sich von ihm schlagartig zurück. Der mühsam erworbene Ruhm, seine angestrengt erreichte moralische Reputation zerbrach in tausend Scherben.

In dieser katastrophalen Situation schrieb May seine Lebensgeschichte nieder. Sie trägt den Titel: Mein Leben und Streben“ und ist eine einzige Selbstrechtfertigung. Karl May stellt sich als unschuldiges Opfer dar, dem man die Jugend geraubt habe und der lediglich durch das infame Ränkespiel böser Neider ins Zuchthaus gekommen sei. Umgekehrt verdanke er sein Aufstieg zum umjubelten Schriftsteller allein seinen edlen Bemühungen: er habe die Jugend bessern und ihr den Drang zum Höheren einpflanzen wollen. „Empor ins Reich der Edelmenschen“ lautet denn auch ein Motto seines späten schriftstellerischen Werkes. Seinen tiefen Absturz konnte May nur als böse Tat seiner hasserfüllten Gegner verstehen. Gegen sie führte er nervenaufreibende Prozesse bis zu seinem Tode im Jahr 1912.

Musik: Johann Sebastian Bach, Dreistimmige Invention Nr. 13, A-Moll, Janine Jansen

In Frage gestellt zu werden, tut weh. Kein Zweifel. Wie das Beispiel Karl Mays und seiner verzweifelten Selbstrechtfertigung zeigt. Es ist wohl typisch menschlich. Dieser Mechanismus, sich selbst von allen Vorwürfen reinzuwaschen und ein Idealbild von sich zu entwerfen. Oft wird dieses Selbstbild mit Zähnen und Klauen verteidigt. Wie viele Therapiestunden, Gespräche mit Freunden oder mit einem Seelsorger kann es kosten, bis die Einsicht reift, dass in einer Krise jeder seinen eigenen Teil zum Misslingen beigetragen hat; einen größeren oder kleineren, aber - einen eignen. Häufig beginnt dann sofort eine neue Runde, sich zu verteidigen.   Wie bei Karl May, der auf seine frühe Kindheit verwies, in der andere für ihn die Weichen falsch gestellt hatten. Natürlich wollte er damit seine Verantwortung für die weitere Entwicklung seines Lebens kleinreden.

Aus der Falle der Selbstrechtfertigung herauszukommen, das kann nur gelingen durch eine besondere Art der Aufrichtigkeit, vor allem sich selbst gegenüber. Sich selbst aufrichtig zu begegnen - wie geht das? Wie kann ich dahin kommen, dass ich meine persönlichen Grenzen und Schwächen angemessen wahrnehme? Dass ich sie vor mir selbst nicht verhehle dadurch, dass ich ein großartiges, aber leider nicht haltbares Selbstbild von mir entwerfe? Und wie kann ich realistisch über mich denken, ohne gleichzeitig traurig darüber zu sein, dass ich eben so bin, wie ich bin?

Selbsterkenntnis ist nicht ausschließlich eine philosophische Aufgabe, die dem Grundsatz „Erkenne dich selbst“ folgt. Es ist auch nicht ausschließlich eine psychologische Aufgabe.  Sich selbst besser zu verstehen, das ist auch nicht nur eine Angelegenheit, um die sich Therapeuten kümmern. Auch wenn es - Gott sei Dank - diese Möglichkeiten heute gibt; anders als noch etwa vor 100 Jahren.

Selbsterkenntnis ist eine zutiefst religiöse Frage. Wer das Neue Testament aufschlägt, begegnet früher oder später dem Apostel Paulus, einem Menschen, der den Weg aus der Falle der Selbstrechtfertigung gefunden hat. Von ihm kann man lernen, sich selbst zu begegnen - aufrichtig, ohne den grellen Grundton der Selbstverteidigung.

Musik: Johann Sebastian Bach, Orchester-Suite Nr. 2, H-Moll; La Stravaganza Köln, Andrew Manze

Von Paulus kann man lernen, wie ein Leben ohne die Falle der Selbstrechtfertigung aussieht. Paulus war berühmt als Apostel, aber er hatte nicht nur Anhänger. Vor seiner Bekehrung hatte er Christen verfolgt. Nachdem er ungefähr 50 nach Christus als Missionar eine gewisse Autorität erlangt hatte, wandte er sich einem neuen Arbeitsgebiet zu: der christlichen Mission unter den sogenannten Heiden außerhalb Palästinas. In dem Gebiet der heutigen Türkei und in Griechenland gründete er christliche Gemeinden und hielt über viele Jahre brieflich zu ihnen Kontakt, als urchristlicher Netzwerker. Ein Abschnitt aus dem Zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth ist besonders wertvoll für unsere Frage. Was war geschehen?

Paulus hatte in Korinth das Evangelium verbreitet. In den Mittelpunkt seiner Verkündigung rückte er den gekreuzigten Christus. Zwar war Paulus Jesus nie persönlich begegnet, aber das schien ihm auch nicht wichtig. Entscheidend war das, was Jesus für die Menschen getan hatte mit seiner Liebe, für die er sogar den Tod am Kreuz auf sich genommen hatte.

Die Korinther hatten sich Paulus angeschlossen und ein lebendiges Gemeindeleben aufgebaut. Nach seiner Abreise tauchten dann aber Konkurrenten auf: Andere Apostel, die direkt aus Jerusalem gekommen waren und die den Gemeindegliedern auf einmal viel interessanter erschienen. Diese neuen Prediger sprachen nicht so abstrakt wie Paulus, und vor allem: sie waren Zeugen der ersten Stunde. Sie brachten etwas von der authentischen Atmosphäre mit, hatten vielleicht Petrus persönlich getroffen oder einem Bruder Jesu die Hand geschüttelt. Ihre Botschaft und ihr Auftreten faszinierte die korinthische Gemeinde. Im Vergleich mit ihnen sah der vorher so verehrte Apostel Paulus auf einmal ziemlich alt aus. Das bekam er zu spüren. Die Vorwürfe lauteten: Du kannst nicht so gut reden wie die anderen, und wenn du redest, dann immer nur über den ohnmächtigen, gekreuzigten Christus. Mag sein, dass das zu deinem unansehnlichen Äußeren passt. Die anderen, ihr Auftreten, ihre Botschaft gefallen uns im Vergleich mit dir besser.

Dazu konnte Paulus nicht vornehm schweigen. Er antwortete. Und seine Antwort hat es in sich. Denn Paulus war so mutig, den Angreifern recht zu geben. Anstatt von sich das Ideal eines unfehlbaren Apostels zu entwerfen und sich damit zu verteidigen, schrieb er nach Korinth:

„Gott, der gesprochen hat: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat es in meinem Herzen hell werden lassen, so dass ich das wunderbare Geschenk, Gott zu erfahren, anderen Menschen weitergeben kann. Die Kraft dazu kommt aber nicht aus mir selbst. Ich bin nur ein schwaches und zerbrechliches Gefäß. Die überschwängliche Kraft, die ich in mir spüre, kommt von Gott selbst. Das merke ich an Folgendem: Obwohl ich von allen Seiten bedrängt bin, werde ich nicht erdrückt. Obwohl ich oft nicht mehr weiter weiß und Angst habe, verliere ich nicht den Mut. Ich werde niedergeworfen, aber ich komme wieder auf die Beine. Ich bin kränklich, schüchtern und schwach, wirklich ein zerbrechliches Gefäß, aber erfüllt von einer Kraft, die nicht von mir kommt, sondern von Gott.“ (2. Kor 4,6-10).

Paulus gibt zu: Was seine Widersacher an ihm kritisieren, stimmt. Im Vergleich mit den anderen besitzt er weniger Charisma, weiß nicht immer gleich eine Antwort, redet nicht so eindrucksvoll, und wer weiß, wie es mit dem Singen stand.

Aber dann zieht Paulus eine wichtige Grenze. Leistungen lassen sich vergleichen. Da steht der eine besser da als der andere. Es gibt bessere und schlechtere ärztliche Behandlungen, Schulzeugnisse oder Sportergebnisse. Verglichen wird andauernd. Der Vergleich darf sich aber nicht auf die Person erstrecken. Da muss das Vergleichen aufhören. Ein Mensch ist nicht identisch mit dem, was er kann oder tut. Von uns Menschen sagt die Bibel: Wir sind in erster Linie Gottes Geschöpfe sind und nicht Leistungsträger. Darum muss das Vergleichen dort aufhören, wo es nicht um Leistungen geht, sondern um die einzelne Person. Das, was den Menschen im Innersten ausmacht, ist geschützt durch Gottes Wertschätzung.

Diese Wertschätzung hat Paulus erfahren. Gott hatte ihm ein Licht aufgehen lassen und ihm den Impuls verliehen, seine Glaubenserfahrung weiterzugeben. Wohlgemerkt: Gott hat das einem Mann wie Paulus zugetraut, der eine zweifelhafte Vergangenheit besaß als Verfolger der Christen. Und der bei seinen Zeitgenossen offenbar nicht gerade als Übermensch rüberkam. „Ich bin zwar wie ein zerbrechliches Gefäß“, schreibt Paulus, „und doch hat Gott mir den Glauben, diesen kostbaren Schatz seiner Wertschätzung anvertraut.“

Zwischen den Zeilen spürt man: Paulus war aufgebracht. Aber trotz aller Empörung war er souverän genug, nicht in die Selbstrechtfertigungsfalle zu tappen. Er erinnert sich daran, dass es keinem Menschen der Welt zusteht, seinen Wert als Person zu taxieren, zu vergleichen, in ein Ranking einzuordnen. Diese innere Gewissheit macht ihn frei, zu seinen Unzulänglichkeiten zu stehen. In der Begegnung mit Gott findet er zu einer Aufrichtigkeit, die ihn selbst aufrichtet.

Musik: Arcangelo Corelli, Sonate Nr. 2, H-Moll; Andrew Manze + Richard Egarr

Ich meine: Das Modell des Apostels auch eines für uns. Ich kann von ihm lernen, zu meinen Unzulänglichkeiten zu stehen und so der Falle der Selbstrechtfertigung zu entgehen. Unsere Zeit ist geprägt von perfektionistischen Ansprüchen. Dazu trägt auch das Internet bei, das zur Plattform der Selbstdarstellung geworden ist. Es dient aber leider auch als öffentlicher Pranger. Das Internet vergisst nicht und es vergibt auch nichts. Starr hält es Verfehlungen und Missgeschicke fest. Deshalb fühlen sich viele heute sogar noch mehr zur Selbstrechtfertigung gezwungen, als es schon zu Karl Mays Zeiten nötig schien, als Meldungen und Meinungen nur gedruckt wurden.

Mit dem Bild des Paulus vom Schatz im zerbrechlichen Gefäß kann man sich in eine andere Richtung bewegen. Weg vom Perfektionismus, immer alles richtig zu machen, hin zu einer  bescheideneren und realistischeren Sicht auf sich selbst. Sie beruht auf der Einsicht: wir sind keine Halbgötter und auch keine Übermenschen. Wir gleichen dem zerbrechlichen Gefäß, das vielleicht schon einige Macken und Kratzer hat. Dort aber, im Herzen, wo wir uns selbst begegnen, da ist innen drin auch Gott, der uns begrenzten Wesen persönlich seine unbegrenzte Liebe zusagt. Wer weiß - vielleicht liebt er uns gerade um unserer Grenzen willen!

Musik: Johann Sebastian Bach, Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf, Bach Collegium Japan, Masaaki Suzuki