hr2 MORGENFEIER
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Eine Sendung von

Journalistin und Autorin im Ruhestand, evangelisch, Frankfurt

Protestanten im hohen Amt - Gustav Heinemann: Querdenker mit Fundament

Protestanten im hohen Amt - Gustav Heinemann: Querdenker mit Fundament

Sieben Bundespräsidenten hat die Bundesrepublik Deutschland seit 1949 gehabt, und wer diese Liste durchgeht, von Theodor Heuss bis Joachim Gauck, wird mit Verblüffung feststellen, dass dieses Amt vor allem von Protestanten geprägt wurde. Nur zwei Bundespräsidenten, Heinrich Lübke nämlich, und Christian Wulff waren katholisch. Doch würde niemand auf die Idee kommen, ihre Amtsführung mit dem Katholizismus in einer herausgehobenen Weise zu verbinden.

Anders liegen die Dinge bei Joachim Gauck, dem Pfarrer,  bei Johannes Rau, dem Mitglied der Herrnhuter Brüdergemeinde, bei Richard von Weizsäcker, dem langjährigen Kirchentagspräsidenten  – und bei dem vierten in der Reihe bewusster Protestanten im hohen Amt: bei Gustav W. Heinemann, Jurist und Politiker mit wechselnden Parteizugehörigkeiten, der von 1969 – 74 der dritte Bundespräsident unseres westdeutschen Teilstaats war. Er wurde in der Öffentlichkeit immer auch als Mann der Kirche wahrgenommen.

An Gustav Heinemann möchte ich in dieser Morgenfeier erinnern. Die Denkanstöße, die er uns hinterlassen hat, wirken wie in unsere Zeit hineingesprochen und haben an Aktualität eher gewonnen als verloren.

MUSIK: Zoltán Kodály, Psalmus Hungaricus, RIAS-Symphonie-Orchester Berlin und RIAS-Kammerchor unter Ferenc Fricsay , Ernst Haefliger, Tenor

Wir müssen Alarm schlagen, damit niemand den Ernst der Lage verkennt. Wir sind im Begriff in eine Weltkatastrophe hinein zu taumeln, wenn wir nicht bereit sind, eine Revolution im wirtschaftlichen Denken zu entfesseln.

Die Humanität unserer Gesellschaft muss sich an den Rändern beweisen.

Das längste Verhandeln ist besser als der kürzeste Krieg.

Es ist der Kirche nirgendwo in der Bibel verheißen, dass sie triumphiere, dass sie eine große Herde sei.


Gustav Walter Heinemann, mit dessen Gedanken wir Sie eben schon konfrontierten, wurde 1899 in Essen geboren. Er war der einzige Sohn eines Mannes, der es aus kleinen Verhältnissen, ohne Abitur und Studium, vom Sparkassen-Angestellten bis zum Prokuristen bei Krupp geschafft hatte. Dieser Otto Heinemann kannte die Welt jenseits des bürgerlichen Wohlstands, zu dem er es gebracht hatte, und förderte in dem Sohn Gustav den Geist innerer Unabhängigkeit gegenüber Hierarchien und Autoritäten. „Mach dem Jungen niemals Angst“, schrieb er an seine Frau und versprach dem Fünfjährigen einen Taler für die erste eingeworfene Fensterscheibe. Der Junge sollte sich trauen, die Möglichkeiten der Freiheit auszuloten, Furcht zu überwinden, sich zu wehren und durchzusetzen.

Damit traf er bei seiner Frau Johanna Walter auf offene Ohren. Ihre  Vorfahren hatten 1848 bei Rastatt auf den Barrikaden mitgekämpft und  die Erinnerung an dieses Engagement für Demokratie, Freiheit und staatliche Einheit wurde vor allem von Großvater Walter, einem tüchtigen Dachdecker-Meister aus Wuppertal, in hohen Ehren gehalten. Gustav W. Heinemann, der den Familienamen Walter als zweiten Vornamen trug, hat sich zu diesem Erbe immer bekannt. Er hat es sich zu eigen gemacht.

Beiden Herkunftsfamilien war trotz wachsendem Wohlstand eine unaufwändige Lebensführung selbstverständlich geblieben. Das hat auch Gustav Heinemann geprägt. Er war ein Mann, der weder für unnötige Ausgaben noch für unnötige Worte zu haben war. „Gustav der Karge“ war sein Spitzname im Familienkreis, und das Zeremoniell seines hohen Amtes später hat ihn eher belastet als erfreut. Einen persönlichen Orden hat Gustav Heinemann nie angenommen, „das Bad in der Menge“ gescheut. Er dachte daran, wer schon alles bejubelt worden war und ging auf Distanz. Die Außenstehenden nahmen an diesem Mann vor allem eines wahr: eine große, aufgabenorientierte Nüchternheit.

Religiöse Fragen spielten für den jungen Rechtanwalt, dem früh die Rheinischen Stahlwerke eine glänzende Karriere boten, zunächst keine Rolle. Das änderte sich durch seine Frau, die Bremer Kaufmannstochter Hilda Ordemann, die er 1926 heiratete, und durch die Begegnung mit dem Essener Gemeindepfarrer Friedrich Graeber. Dieser Mann, so erinnerte sich Heinemann, „konnte predigen, dass die Fetzen flogen“. Er konnte aber auch „bedürftige Bauern ansiedeln und kranke Kumpels verarzten“. Von dieser im Alltag geerdeten Verkündigung ließ Heinemann sich ergreifen. Er wurde ein bekennender und engagierter Christ und ist auch als Politiker diesem inneren Kompass treu geblieben.

Mein Fundament ist das Evangelium von Jesus Christus. Ich habe dieses Fundament weder ererbt noch erworben, weil es kein Mensch ererben oder erwerben kann – es ist mir, nach Jahren völliger Entfremdung, von dem geschenkt worden, der allein darüber verfügt. 

MUSIK: Einojuhani Rautavaara, Symphony No. 7, “Angel of Light”, Helsinki Philharmonic Orchestra unter Leif Segerstam

Wer Gustav Heinemanns Leben nachzeichnen will, gerät in Zeiten großer Umbrüche und tiefer Krisen, die das Land wie auch die Kirche nachhaltig beschädigten. Hitler und die Seinen hatten 1933 die Macht im Staat übernommen und machten sich daran, die Kirchen in ihr System einzubinden. „Ein Volk, ein Reich, ein Führer – eine deutsche evangelische Kirche“ – das war ein Angebot an die Protestanten, dem zunächst große Verführungskraft innewohnte.

Seit Martin Luther hatte der Protestantismus die Nähe zur weltlichen Macht gesucht.  Der Sturz der Monarchie, das Ende der Verbindung „von Thron und Altar“ 1918, war  von vielen als Katastrophe empfunden worden. Vor allem die Pfarrerschaft hat sich in ihrer Mehrheit mit der Weimarer Demokratie nie anfreunden können.

Hitlers Lockruf tat also Wirkung. Es entstand die Bewegung der Deutschen Christen, die die Prinzipien des Nationalsozialismus auf die Kirche übertragen wollten: rassistisch, antisemitisch, dem Führerprinzip verpflichtet, mit dem Ziel, die vielen Landeskirchen in einer großen Reichskirche aufgehen zu lassen. Die Deutschen Christen brachten es bei den Kirchenwahlen 1933 auf beachtliche Erfolge und übernahmen in einigen Landeskirchen die Leitung. Zeitgleich aber organisierte sich geistlicher Widerstand.

In der Bekennenden Kirche sammelten sich ab 1934 diejenigen, die dem Zeitgeist der Deutschen Christen die alleinige Bindung an Jesus Christus und das Evangelium gegenübersetzten. Gustav Heinemann, Vorstandsmitglied der Firma Rheinstahl in Essen, Kirchenvorstandsvorsitzender seiner Gemeinde, war von Anfang an dabei.  Er nahm an der Barmer Bekenntnis Synode teil und hat die Abgrenzung gegenüber den Deutschen Christen in der sogenannten Barmer Erklärung mitformuliert. Im Keller seines Hauses wurden eine Zeit lang Flugschriften der Bekennenden Kirche gedruckt – für eine Familie mit vier Kindern eine durchaus riskante Angelegenheit. Und als die Rheinische Kirchenleitung den unbequemen Pfarrer Friedrich Gräber mit Disziplinarverfahren überzog und aus dem Amt zu heben suchte, hat der Presbyter Heinemann mit deutlichen Worten dagegen protestiert.

Und mehr als das: er hat anschließend dafür gesorgt, dass die Gemeinde, die sich um diesen Pfarrer gesammelt hatte, eigene Räumlichkeiten anmieten konnte und von der Landeskirche als selbstständige Personalgemeinde anerkannt wurde.

Eine solche Entwicklung hin zum Mündigwerden der Gemeinden wollte Heinemann auch von der Bekennenden Kirche gefördert sehen, denn für ihn stand fest, dass dieser Kirchenkampf zu einem neuen Verständnis von Kirche und Gemeinde führen müsse. Mit Bedauern sah er stattdessen, wie sich in den Leitungsgremien der Bekennenden Kirche der alte theologische Dogmatismus wieder ausbreitete und mit ihm der innerprotestantische Konfessionalismus: die Abgrenzung der lutherischen Landeskirchen von den reformierten und beide dann von den unierten, zu denen auch die Rheinische Kirche gehörte. In einer Denkschrift formulierte er im Sommer 1938 sein Unbehagen.

Es geht alles nach dem alten Schema weiter… Man bildet sich ein, dass man Krieg führe, weil man protestiere, antichambriere, Rechtsansprüche feierlich aufrecht erhält, Synoden oder Sitzungen abhält und umherreist, und hat in Wahrheit überhaupt noch nicht mobil gemacht. Solange Pfarrer den Kampf mit Reichsnetzkarten oder mit noch so guten bekenntnismäßigen oder kirchenrechtlichen Gedanken führen, ohne Mann für Mann eine unabhängige Gemeinde hinter sich zu haben, sind sie für den Gegner wahrhaft harmlos. Wir haben nichts getan, um eine echte und glaubwürdige Bereitschaft zum Verzicht auf die öffentlich-rechtliche Kirche zu wecken.

Ja, Sie haben recht gehört: Heinemann sah in der öffentlich-rechtlichen Verfasstheit der Kirche – auf Grund der Verschränkung mit dem Staat – eine historische Bürde, die es abzuschütteln gelte. Er war gegen den Kirchensteuer-Einzug durch staatliche Institutionen und empfand theologische Abgrenzungen aufgrund von Bekenntnis-Schriften aus dem 16. Jahrhundert als völlig unbiblisch. Mit dieser Haltung machte er sich innerkirchlich keine Freunde. 1939 legte Heinemann seine Ämter in der Bekennenden Kirche nieder, ohne jedoch aus ihr auszutreten. Der eigentliche Gegner war für ihn der NS-Staat, nicht seine Satrapen, die Deutschen Christen.

MUSIK: Einojuhani Rautavaara, Symphony No. 4, Satz 4, Radio-Sinfonie-Orchester Leipzip unter Max Pommer

Sich für den Wiederaufbau des Landes zu engagieren, war nach dem Krieg eine Selbstverständlichkeit für den in der Wolle eingefärbten Demokraten Gustav Heinemann. Den bekennenden Christen führte es zunächst in die CDU. Heinemann, von den Engländern als Oberbürgermeister seiner zerstörten Heimatstadt Essen eingesetzt und frisch ernannter Justizminister von Nordrhein-Westfalen, hat 1947 am Ahlener Programm mitgeschrieben. Gleichwohl gehörte eine Karriere in der großen Politik nicht zu seinen vorrangigen Ambitionen. Dazu war ihm das Engagement in seiner evangelischen Kirche zu wichtig, die den integren Mann gleich 1945 in den Rat der EKD geholt hatte. In dieser Funktion hat er, aus voller Überzeugung, das Stuttgarter Schuldbekenntnis mit unterzeichnet und bitter darunter gelitten, dass es innerkirchlich auf so wenig Verständnis stieß. 1949 wurde er zum ersten Präses der ersten EKD-Synode gewählt. Gustav Heinemann war in jenen Jahren ein öffentlich bekannter Vorzeige-Protestant.

Das hat Konrad Adenauer 1949 bewogen, ihn als Innenminister in sein erstes Kabinett zu holen. Das katholische Profil der rheinischen CDU musste auch für evangelische Wähler annehmbar gemacht werden. Doch diese Zweck-Ehe zerbrach nach nur einem Jahr. Auslöser war Adenauers einsame Entscheidung für die Wiederbewaffnung. Er hatte, unter Umgehung seines Kabinetts, im August 1950 den Alliierten die Aufstellung deutscher Truppen angeboten. Inhalt und Verfahren dieses politischen Schritts verletzen Heinemanns Gefühl für Fairness. Er trat unverzüglich zurück. Fünf Jahre nach dem grauenvollen Krieg sollte, so fand er, Deutschland noch nicht wieder bewaffnet werden. Auch die Ausschließlichkeit der Westbindung, die Adenauer betrieb, fand Heinemanns Zustimmung nicht. Er dachte gesamtdeutsch.

MUSIK: Einojuhani Rautavaara, Symphony No. 3, Satz 3, Radio-Sinfonie-Orchester Leipzip unter Max Pommer

Der Rücktritt machte Heinemann politisch zur Unperson. Auch protestantische Kreise distanzierten sich. Er wurde als Präses der EKD nicht wieder gewählt. Die Rückkehr in den Vorstand von Rheinstahl wurde ihm verwehrt, er musste als Rechtsanwalt ganz neu anfangen. 1952 verließ er die ihm fremd gewordene CDU, scheiterte mit der Gründung einer gesamtdeutsch orientierten Partei und schloss sich dann 1957 der SPD an. Es gab genug Übereinstimmung in den Zielen, doch den Stallgeruch des Genossen hat er nie angenommen.

Gustav Heinemann ist dann von 1966 bis 1969 der Justizminister einer Großen Koalition gewesen, und wir verdanken ihm eine segensreiche Entrümpelung unseres Gesetzbuches. Es fiel der Paragraph, der Homosexualität unter Strafe stellte. Es fiel der Paragraph, der Ehebruch unter Strafe stellte. Es fiel der Paragraph, der Gotteslästerung unter Strafe stellt. Vor allem aber wurden jene Regelungen aufgehoben, die uneheliche Kinder als nicht verwandt mit ihrem Erzeuger definiert und sie so vom Erbrecht und weitergehenden Unterhaltsregelungen ausgeschlossen hatten.

Es war ein Schritt, der dem Besitzbürgertum wehtat, der für Heinemann aber eine unabweisbare Konsequenz seines Glaubens war. Es ging um die Aufhebung krasser Benachteiligung aufgrund mittelalterlicher kirchlicher Normen, es ging um Gerechtigkeit. 

1969 wurde Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten gewählt. Auch in diesem Amt sorgte er für frischen Wind. Er förderte die in Deutschland unterentwickelte Friedens- und Konflikt-Forschung und brachte, beraten von seinem Freund Helmut Gollwitzer, ein grundsätzliches Verständnis auf für die damals lautstark sich artikulierende außerparlamentarische Opposition der jungen Leute.   Dem Radikalenerlass, der ab 1972 zur Überprüfung ganzer Jahrgänge und oft genug zum Ausschluss einer Anstellung im Öffentlichen Dienst führte, stand er ablehnend gegenüber. Er sah darin ein Bild vom Staat wiederbelebt, dass er für vordemokratisch hielt.

Es muss darauf geachtet werden, dass das Grundgesetz nicht mit Methoden geschützt wird, die seinem Ziel und seinem Geist zuwider sind. 

Jahre später hat der Europäische Gerichtshof den Radikalen-Erlass als unvereinbar mit der Europäischen Menschenrechtskonvention kassiert. Heinemann verstand sich als Bürger-Präsident und hat die Türen der Villa Hammerschmidt dann weit für unsereins geöffnet. Er wollte auf Empfängen nicht nur Exzellenzen, hohe Militärs, kirchliche Würdenträger, Spitzenbeamten und Unternehmer um sich sehen, sondern auch Krankenschwestern, Lehrer, Müllarbeiter, Migranten und Bürger, die sich in Vereinen und Hilfsorganisation für das Gemeinwohl engagieren. Der Staat das sind wir alle. Am Zeremoniell lag ihm wenig. Als er 1974 aus dem Amt schied, verbat er sich den Großen Zapfenstreich und lud stattdessen zu einer Schiffsfahrt auf dem Rhein. Zwei Jahre später, am 7. Juli 1976, ist Gustav Heinemann in Essen gestorben.

Was beeindruckt mich so an diesem Mann? Ich denke, es ist die Verbindung von Nüchternheit und Frömmigkeit. Heinemann war kein Träumer, der glaubte mit der Bergpredigt Politik machen zu können. Er war erfahren im Bohren harter Bretter und wusste um die Notwendigkeit kleiner Schritte. Aber er war auch erfüllt von der Freiheit der Kinder Gottes, die durch Christus in die Welt gekommen ist und hat das immer auf ganz unbefangene Weise gesagt und danach gehandelt.

Seine Ideale entnahm er der Aufklärung, seinen Auftrag dem Evangelium. Diese Mischung ist ungewöhnlich. So ungewöhnlich wie der ganze Mann, an den dankbar sich zu erinnern die protestantischen Kirchen allen Grund haben. Die Demokratie nämlich war lange ein unerledigtes Kapitel in der lutherschen Theologie. Dass sie es heute nicht mehr ist, ist auch Gustav Heinemann zu verdanken.

MUSIK: Einojuhani Rautavaara, Symphony No. 7, “Angel of Light”, Helsinki Philharmonic Orchestra unter Leif Segerstam