Musik berührt die Menschen
Zu allen Zeiten haben die Menschen gesungen - bei fröhlichen Festen, beim Wandern, zu den Jahreszeiten. Wer kennt nicht die Lieder des Frühlings: "Alle Vögel sind schon da\" oder \"Der Mai ist gekommen"? Lieder begleiten unser Leben. So wenig ich mir vorstellen kann, dass die Vögel draußen im Garten, in Feld und Wald nicht mehr singen und zwitschern, so wenig kann ich mir Menschen vorstellen ohne Gesang. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen haben Lieder und Gesang das Leben begleitet.
Uralte Zeugnisse dafür sind die Psalmen. Einhundertfünfzig davon stehen in der Bibel. Es gibt die Lob- und Dankpsalmen: „Lobe den Herren, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat“. Und es gibt Lieder, in denen die Not der Menschen ausgedrückt wird; man nennt sie Klagepsalmen: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“. Oder: „Mein Gott, mein Gott warum hast du mich verlassen?“. Schöpfungspsalmen sind überliefert, in denen die frühlingshaft aufwachende Natur oder die reiche Ernte besungen werden. Zum Beispiel: „Groß und viel sind deine Werke, o Herr. Die Erde ist voll deiner Güter; du hast sie alle weise geordnet“.
Und dann gibt es da noch die Vertrauenspsalmen, Lieder, welche die Lebenszuversicht der Menschen stärken sollen. Der bekannteste ist der Psalm dreiundzwanzig: „Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Und ob ich schon wandere in finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir“. Zu unterschiedlichen Anlässen haben die Menschen auch unterschiedliche Lieder gedichtet. Dank für gutes Gelingen hat andere Lieder als die Klage über Elend und Tod. Das ist bis heute so geblieben. In Kinderliedern spiegelt sich die Welt der Kleinen: „Hänschen klein“ oder: „Ihr Kinderlein kommet“. Der Gesang im Eintrachtstadion hört sich anders an als ein Choral in der Kirche. Lagerfeuerromantik hat andere Lieder als ein Jubiläumskonzert. Es liegt eine Faszination in Musik und Gesang. Melodien, ob in einem Konzert gehört oder im Lied gesungen dringen ins Innere des Menschen, in seine Seele ein. Manchmal steht es do in der Zeitung. „Von einem wunderschönen Konzert der Kirche waren die Zuhörer tief bewegt“. Töne, Melodien, Lieder und Musik tragen die Gefühle der Menschen weiter als karge Worte.
Auch in der Religion hat die Musik immer diese besondere Bedeutung gehabt! Man kann sich auch keinen Gottesdienst vorstellen ohne Orgelspiel und Gesang. Daran erinnert dieser Sonntag, der den Namen Cantate trägt, das heißt singt, musiziert, lasst euch von der Musik berühren.
Musik: John Rutter, Cantate Domino (Nordic Chamber Choir, Nicol Matt)
Töne und Melodien, Lieder und Musik berühren das Gefühl der Menschen in besonderer Weise. Gilt das nur für die festlichen Augenblicke im Leben - Konzertabend oder Gottesdienst, Hochzeit oder Trauerfeier? Ich glaube, dass mindestens die Lieder Menschen auch in ihrem Alltag begleitet haben.
Ein Beispiel: Ein 16-jähriger Junge arbeitete in seinen Ferien in einer Metallwarenfabrik. Er saß vor einer großen Maschine, schob eine Tafel Blech hinein, löste mit beiden Händen einen Mechanismus aus. Unter ohrenbetäubendem Lärm stanzte die Maschine aus der Blechtafel ein Stück heraus, aus dem dann später eine Gießkanne wurde. Dieser Vorgang wiederholte sich an einem Tag mehrere tausendmal, und bei dieser Arbeit hat der Junge gesungen. Vor lauter Lärm konnte das in der Fabrikhalle niemand hören. Doch der Meister, der an einer Maschine ein Stück weitergearbeitet hat, der hatte es bemerkt, an der Mundbewegung gesehen.
"Redest Du bei der Arbeit mit Dir selbst?" hat er den Jungen gefragt "oder singst Du dabei?" "Ja, ich singe" hat der Junge geantwortet“. Der Meister wollte wissen was er singt. "Was mir so einfällt und was ich kann - Frühlings- oder Wanderlieder, Kirchen- oder Küchenlieder, Schlager und Volkslieder." Dann hat der Meister mit dem Jungen bei der Arbeit in der Fabrik über die Lieder und das Singen geredet. "Ich habe es schon öfter gesehen, dass Du singst", hat der Meister zu dem Jungen gesagt. Manchmal würde er es selber tun, bei der Arbeit singen. Dann ginge die Zeit schneller rum; und alles wäre nicht mehr so eintönig. Einmal in der Woche ginge er zur Singstunde in einen Chor hat er weiter erzählt. Da sängen sie Choräle und Lieder, übten für Auftritte in Gottesdiensten oder bei Festen. Das wäre schön, das täte ihm gut.
Der Junge von damals bin ich. Das ist über fünfzig Jahre her. Mit dem Meister habe ich mich prima verstanden - nicht nur in den Jahren, in denen ich als Schüler und Student in seiner Firma gearbeitet habe. Es ist daraus eine lebenslange freundschaftliche Beziehung geworden. Das Singen, die Lieder von damals haben uns dabei geholfen.
Musik: Paul Gerhardt, Geh aus mein Herz (Otto Sander, Thorsten Laux, Thomanerchor Leipzig, C.G. Biller)
Melodien und Lieder berühren die Seele, sie tragen unsere Gefühle weiter - Freude oder Trauer, Mühsal oder Glück. Lieder und Musik können offensichtlich besser ausdrücken was einen Menschen bewegt oder wie es ihm geht.
Wenn ich im Auto unterwegs bin - das ist häufig der Fall - dann singe oder summe ich vertraute Lieder vor mich hin. Irgendwie finde ich es schön. Es tut mir auch gut. Der Stau, in dem ich vielleicht stehe, oder der Raser, der mir die Vorfahrt genommen hat sind nicht mehr ganz so schlimm und bedrohlich. Ein vertrautes Lied - gesungen, gesummt oder gepfiffen - macht ruhig, verbreitet Gelassenheit statt Hektik. Und es vertreibt die Eintönigkeit einer Autofahrt oder stupiden Arbeit.
Darüber hinaus habe ich auch erlebt, wie stark gemeinsames Singen verbindet .Ich singe im Gesangsverein meines Dorfes in zwei verschiedenen Chören. Es fällt uns sehr schwer den Männerchor und den gemischten Chor aufrecht zu erhalten. In unserem Dorf im Vogelsberg fehlen vor allem die jungen Leute, die in den wöchentlichen Singstunden abends nicht da sein können. Sie sind als Pendler oft lange unterwegs zur Arbeitsstelle nach Frankfurt und zurück. So singen fast nur alte Leute im Chor. Aber wenn wir dann singen, bei runden Geburtstagen oder in Gottesdiensten, bei einer Goldenen Hochzeit oder einem Dorffest, dann ist es irgendwie schön und es verbindet uns miteinander. Singen und Musizieren verbindet die Menschen, berührt ihre Seele und beflügelt sie auch. Es liegt eine befreiende Kraft, ja geradezu therapeutische Funktion in Musik und Liedern. Das wird schon in der Bibel beschrieben. Wenn der gewalttätige König Saul in Wut geriet und Tobsuchtsanfälle bekam, dann holten die Leute am Königshof den Hirtenjungen David, der dann mit seiner Laute auftrat.
"Spiel, Hirtenjunge, sing und spiel, entlock den Saiten Lieder, spiel bis der böse Geist entflieht; zum Menschen mach ihn wieder". So wird in einem zeitgenössischen Kirchenlied die Geschichte mit David und Saul und die heilende Kraft der Musik besungen. Ich hatte einmal eine Jugendgruppe in der Gemeinde, die hat dieses Lied von dem Hirtenjungen David geradezu geliebt. Die Mädchen und Jungen haben mit unserem Kirchenmusiker zusammen ein Musical daraus gemacht. Und das haben sie dann in einem Gottesdienst aufgeführt. Die Leute waren begeistert. Irgendwie hat jeder gespürt mit welcher Leidenschaft die Jugendlichen bei der Sache waren und wie tief sie die Geschichte bewegt hat: Die Laute, die Lieder, die heilende Kraft der Musik.
Musik: John Rutter, Musica Dei, Donum (Nordic Chamber Choir, Nicol Matt)
Die heilsame Kraft der Lieder, die geradezu therapeutische Funktion der Musik hat vielleicht Martin Luther gemeint, als er von der musica sacra, der heiligen Musik geredet hat. Heilig das heißt doch: Da ist etwas Himmlisches verborgen in Musik und Gesang. Da ist eine Kraft, die uns über den Alltag des Lebens hinausträgt, die uns gewissermaßen ganz und gar erfasst und erfüllt. Diese tiefe innere Bewegung kann durch ein gemeinsam gesungenes Lied, den Besuch in einem Konzert ausgelöst werden oder wenn man eine Melodie summt, die man liebt. Diese Kraft, diese innere Bewegung soll man nicht einfangen oder mit zu hohen Anforderungen lähmen.
Eine junge Frau aus unserem Dorf hat mir das erzählt. Hier hatte sie in einem Gospelchor gesungen. Den hatten zwanzig Mädchen aus irgendeiner Laune heraus gegründet. Sie haben aus purer Freude an den Liedern gesungen. Und wo immer sie aufgetreten sind waren die Leute begeistert. Die vielen jungen Stimmen klangen schön und die Melodien waren bewegend. Ungefähr ein Jahr lang gab es den Chor. Dann hat er sich aufgelöst. Manche sind weggezogen wegen Studium oder Arbeitsplatz. Die junge Frau zog in eine große Stadt. Dort ging sie zu einem Chor. Singen verbindet; das hatte sie ja daheim erlebt. Sie wurde als \"Neue\" herzlich begrüßt. Dann fragte sie jemand ob sie vom Blatt singen könne. Mit dieser Frage konnte sie nichts anfangen. Später hat sie dann kapiert: Ob sie aus diesen Punkten und Strichen, dem Notengeflecht die aufgeschriebene Melodie erfassen und eben - vom Blatt - absingen könnte. Sie konnte es nicht. Das hatte sie in der Schule in ihrem Musikunterricht niemals gelernt. In diesem Chor hat sie dann auch nicht gesungen.
Musik: Andreas Hammerschmidt, jauchzet dem Herrn, alle Welt (Himmlische Cantorey Knabenchor Hannover, J. Rosenmüller, Ensemble Jörg Breiding)
Die Kraft der Musik und der Lieder liegt darin, dass sie die Gefühle der Menschen berührt und ihre Seele beflügelt weniger in dem exakten Befolgen von Notenskizzen und liturgischen Abfolgen. Nichts gegen das Üben der Lieder und Musikstücke; wir üben in unseren wöchentlichen Singstunden auch - manchmal mit Mühesal die Töne richtig zu treffen und die Melodie in den verschiedenen Stimmen zu singen. Da kann auch nicht jeder drauflos singen wie er will, und die Chorleiterin hat oft genug Arbeit mit uns. Aber wir merken auch: Wenn es zu schwer wird und das Einüben fast quälend, dann brauchen wir ein Lied, dass wir können und das zu singen, einfach Spaß macht. Dann singen wir uns sozusagen wieder frei.
Bei Harvey Cox, einem amerikanischen Theologen, der in den sechziger Jahren Studentenpfarrer im damaligen Westberlin war, habe ich folgendes gelesen: „Wir waren zu einem Kirchentag eingeladen. In einer riesigen Messehalle waren viele Menschen versammelt - aus unterschiedlichen Ländern und mit verschiedenen Sprachen. Wir freuten uns einfach zusammen zu sein. Und aus lauter Freude sangen wir: We shall overcome.
Mitten in unseren Gesang kam die Ansage aus dem Lautsprecher. Bitte stellen sie jetzt das Singen ein. Gehen sie ruhig in die Halle 1b. Dort findet gleich der Eröffnungsgottesdienst statt. Wir gingen - nicht mehr singend - dorthin und setzten uns auf die aufgestellten Stühle. Wir bekamen ein Blatt in die Hand gedrückt. Darauf stand, wann wir was zu singen hatten und wie wir uns benehmen müssten. Das sollte ein Gottesdienst sein; es war aber keiner“. Soweit Harvey Cox.
Ich kann diese Komik nachempfingen. Auf der einen Seite die Freude am Zusammensein und das gemeinsame Singen - auf der anderen Seite so ein regulatives Formular auf dem genau steht, wann man was zu singen hat - selbst wenn man das Lied weder kennt noch mag. Nun ist das keine Alternative: entweder spontan singen oder einem Gottesdienst folgen, bei dem die Lieder ausgewählt sind. Manchmal braucht – gerade in der Kirche – das freie und befreiende Singen mehr Raum. Wenn in einem gut besuchten Gottesdienst viele Menschen gemeinsam singen, ist das nicht nur schön, sondern auch bewegend.
Wenn eine Kirche ganz und gar vom Gesang oder der Musik erfüllt ist, dann vergisst man den Alltag mit seinen Sorgen und Mühen. Die Musik, welche die Seele berührt und das Lied, das uns innerlich erfüllt, tragen uns über das übliche Einerlei des Daseins hinaus. Vielleicht liegt darin verborgen der Klang der himmlischen Chöre.
Musik: Johann Sebastian Bach, Singet dem Herrn ein neues Lied, Bach Collegium Japan, Masaaki Suzuki