Johann von Staupitz (1465 – 1524) – konfessioneller Grenzgänger
MUSIK
Ich erinnere mich noch ganz genau an mein schönstes Karnevalskostüm. Ich war damals vielleicht acht Jahre alt. Als der Rosenmontag endlich da war, stand ich mit anderen Kindern oben auf einem umgebauten Wagen, der von einem Traktor gezogen wurde. Die meisten Jungs in meinem Alter gingen als Indianer oder Cowboy oder als Sheriff. Aber das war meine Sache nicht. Ich war lieber Prinz. So stand ich auf dem Wagen und winkte huldvoll meinen Untertanen zu. Wenn ich mich nicht täusche, nahm das Volk auch dankbar meine Grüße entgegen. Denn ohne Zweifel sah es einen echten Prinzen in mir. Denn nur ein echter Prinz konnte so edel und kostbar gekleidet sein wie ich.
Mehr noch als die Krone auf meinem Kopf musste mein glänzender Umhang die Leute blenden. Einen so schönen Umhang hatte man in meinem nordhessischen Heimatdorf bestimmt noch nicht gesehen! Er war aus einem blau-glänzenden Seidenstoff gefertigt und an den Rändern mit Spitzen besetzt. Der Umhang war selbstverständlich kein Produkt von der Stange aus irgendeinem Laden, sondern war handgefertigt von einer Meisterin ihres Faches. Das war sie gewiss, meine Tante Beer, wie sie von mir genannt wurde. Die Schneidermeisterin war nach dem Krieg aus dem Sudetenland vertrieben worden und lebte zusammen mit ihrem Lebenspartner, meinem Onkel Grohmann, in einer kleinen Wohnung in meinem Elternhaus. Die beiden Heimatvertriebenen waren wie Großeltern für mich. Ich liebte es, bei ihnen zu sein. Denn viel Neues gab es bei ihnen zu entdecken. Nicht nur, dass das Essen bei ihnen ganz anders schmeckte – etwa die herrlichen Zwetschgenknödel oder der lecker Apfelstrudel; solche süße Küche gab es damals in Nordhessen nicht. Auch sonst gab es so manchen Unterschied. Dazu gehörte, dass in einer Ecke ihrer gemütlichen Wohnküche ein ziemlich großes Kruzifix an der Wand hing: Jesus am Kreuz und darüber eine Tafel mit den Buchstaben INRI.
Niemand von den Einheimischen hatte zuhause solch ein Kruzifix – schon allein der Name für ein solches Kreuz mit Gekreuzigtem, „Kruzifix“, kam einem fremd und merkwürdig vor. Denn das Dorf war seit Jahrhunderten evangelisch, und Kruzifixe gab es sonst nirgendwo, selbst in der Kirche nicht. Nur in den Wohnungen der Heimatvertriebenen sah man sie. Die Zugezogenen waren alle katholisch. Das war für mich schon als Kind sehr interessant. Katholisch – evangelisch: was ist denn da der Unterschied?
Nicht nur das Kruzifix war für mich von Interesse, sondern auch der Fasching – wie die Heimatvertriebenen bei uns sagten. Auch der Fasching war was Neues im evangelischen Nordhessen. Das hatte es vor dem Krieg hier nicht gegeben. Erst die katholischen Neubürger hatten ihn mitgebracht. Es dauerte nicht lange, und das Faschingfeiern war aus dem Dorfleben nicht mehr wegzudenken. So war es der katholische Einfluss, dem ich es zu verdanken hatte, dass ich in aller Öffentlichkeit Prinz sein durfte. Mit einem glänzenden Umhang, wie es keinen zweiten gab.
MUSIK
Als Kind in einem traditionell evangelischen Dorf bin ich schon früh mit katholischen Traditionen bekannt geworden. Für mich gab es nie Berührungsängste. Während meiner Schulzeit in den liberalen 70-ziger Jahren konnte ich sogar erleben, dass der Religionsunterricht gemeinsam war: katholische und evangelische Schülerinnen und Schüler wurden gemeinsam unterrichtet. Mehrfach waren Katholiken meine Religionslehrer, und mein Prüfer im Abitur war ein katholischer Priester.
Ich freue mich noch heute an diesem Geist der Freiheit und der Ökumene, der diese Jahre damals bestimmt hat. Und umso schmerzlicher war dann für mich zu erleben, wie mit dem polnischen Papst Johannes Paul II. wieder stärker auf die Trennung der Konfessionen geachtet wurde. So manches war jetzt nicht mehr möglich. Das war bitter für mich. Wie gesagt: ich war ja mit Katholiken groß geworden. Und das Gefühl der Verbundenheit war und ist so viel stärker als alles, was Katholiken und Protestanten voneinander trennt.
Als ich dann später evangelische Theologie studierte, besuchte ich gerne auch die Vorlesungen der katholischen Fakultät. Was mich besonders interessierte, waren Gestalten der Kirchengeschichte, die sozusagen konfessionelle Grenzgänger waren. Personen und Gruppen, die immer über ihren eigenen Tellerrand hinausschauten und offen waren für Neues. Nie verbohrt und verhaftet in den Lehren der eigenen Tradition. Einen dieser faszinierenden Grenzgänger möchte ich Ihnen heute Morgen näher vorstellen. Es ist der bedeutendste Lehrer Martin Luthers, Johann von Staupitz. Luther hat von ihm in den höchsten Tönen gesprochen. Ihre Theologie lag auf derselben Linie. Aber während Luther mit der katholischen Kirche brach, blieb sein Lehrer Staupitz der hergebrachten Tradition treu. Er starb 1524 als Mönch und Abt des Petersstifts in Salzburg.
MUSIK
Immer wieder in seinem Leben hat Martin Luther über seinen Lehrer Johann von Staupitz Geschichten erzählt. So auch im Jahr 1531 – da war Staupitz schon seit sieben Jahren verstorben. In einer Tischrede erzählte Luther seinen Gästen:
„Mein Prior Staupitz saß einmal sinnend unter dem Birnbaum, der noch jetzt mitten in meinem Hofe steht; endlich sprach er zu mir: Herr Magister, Ihr sollt den Doktorgrad erwerben, so kriegt Ihr etwas zu schaffen. (...)“
Und Luther fährt fort:
„Als Staupitz ein zweites Mal unter dem Birnbaum über dieselbe Frage mit mir sprach und ich mich weigerte, indem ich viele Gegengründe herbeizog, vor allem, dass ich ganz von Kräften sei, so dass ich (bei Übernahme neuer Arbeit als Doktor der Theologie) nicht mehr lang leben würde, da erwiderte Staupitz: Wisst Ihr nicht, dass unser HerrGott viel großer Sachen hat auszurichten? Da bedarf es viel kluger und weiser Leute zu, die ihm helfen raten. Wenn Ihr denn immer sterbet, so müßt Ihr sein Ratgeber (im Himmel) sein.“
Diese zwei kleinen Episoden unter dem Birnbaum des Wittenberger Augustinerklosters hatten sich Luther tief eingeprägt. Das ist nicht verwunderlich. Denn sie werfen ein Schlaglicht auf die Persönlichkeit seines Lehrers Staupitz. Eines Mannes, dessen Bedeutung für die Entwicklung Luthers zum Reformator nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Und dies gleich in mehrfacher Hinsicht. Denn Staupitz war nicht nur Luthers Ordensvorgesetzter (u.a. als Prior des Wittenberger Augustinerklosters, in das Staupitz selbst den Mönch Martin Luther gerufen hatte). Staupitz war auch Luthers Förderer, er war sein theologischer Lehrer als Professor an der Wittenberger Universität, und er war sein Seelsorger und sein väterlicher Freund. Ich meine: mindestens zwei dieser wichtigen Rollen können wir in den zwei kleinen Birnbaum-Szenen deutlich erkennen:
Staupitz zu Luther: „Herr Magister, Ihr sollt den Doktorgrad erwerben!“ – da hören wir ihn, den Förderer einer Karriere, die ihresgleichen sucht. Als dann der junge Luther sich sträubt und sagt, er habe schreckliche Angst, ja Todesangst davor, sich dieser Arbeit zu stellen (man muss wissen: Doktor sein bedeutete damals zugleich Professor zu sein an der Universität), - als Luther sich sträubt in seiner Angst vor so viel Verantwortung, da zeigt sich neben dem Förderer Staupitz auch der begnadete Seelsorger: der Menschenkenner, der weiterhilft und Luther auf andere Gedanken bringt: „Gott braucht kluge und weise Leute – sagt Staupitz -, und wenn du, lieber Bruder Martin, denn nun unbedingt sterben willst, wenn du an das Doktorat denkst, dann musst du dann eben Gottes Ratgeber im Himmel sein!“
So können wir aus dieser Antwort lernen, was einen guten Seelsorger ausmacht, nämlich: gelassen zu bleiben in den Dramen, die unser Leben schreibt, und wenn irgend möglich, Humor zu bewahren, denn das Leben ist schon ernst genug.
Ja, besonders war es die hohe Tugend der Gelassenheit, der Staupitz ein Leben lang nachstrebte. Eine Tugend, die die großen Mystiker der Kirchengeschichte immer wieder hervorgehoben haben. Und Gelassenheit ist es auch, die in Staupitzens Lebensmotto zum Ausdruck kommt. Dafür hatte er sich einen Vers aus Psalm 119 (Vers 94) ausgesucht, der in der lateinischen Bibel lautet „Dein bin ich, mach mich selig“. In diesem Bibelwort drückte sich Staupitzens Glaube aus wie in keinem anderen. „Dein bin ich, mach mich selig“.
MUSIK
„Dein bin ich, mach mich selig“ – dieses persönliche Leitwort war Staupitz so wichtig, dass er es allen seinen gedruckten Traktaten vor- und nachgestellt hat. „Dein bin ich, mach mich selig“ – darin drückt sich ein Urvertrauen in Gottes Wege aus, ein Glaube, dass Gott es gut machen wird mit mir und meinem Leben und dass ich mich nicht zu fürchten brauche.
Aus Luthers Biographie wissen wir sehr gut, wie groß die Angst am Ende des Mittelalters oft war: die Angst vor dem Gericht Gottes, die Angst vor der ewigen Verwerfung und die Angst vor der Hölle. Viele Menschen des späten Mittelalters waren umgetrieben von dieser tiefen Angst, am Ende vor Gott nicht bestehen zu können. Wie gesagt: gerade auch Luther hat furchtbar unter solchen Ängsten gelitten. Geholfen hat ihm in diesen schweren Depressionen und Zweifeln immer wieder der Rat seines Lehrers und Seelsorgers Johann von Staupitz: „Dein bin ich, mach mich selig“ – Das bedeutete: Vertraue dich nur ganz und gar Gott an. Er wird dich behüten und nicht fallen lassen!
In den Worten von Staupitz blitzte für Luther etwas völlig Neues auf, etwas so Großes, dass Luther später sagen konnte: „Ich hab all mein Ding von Doctor Staupitz“. Im letzten Brief, den Luther seinem verehrten Lehrer 1523, ein Jahr vor dessen Tod, nach Salzburg schrieb, heißt es, er, Staupitz, sei derjenige, „durch den zuerst das Licht des Evangeliums aus der Finsternis in unseren Herzen aufzustrahlen begonnen hat“.
MUSIK
Im Jahr 1523, als Luther seinem alten Lehrer ein letztes Mal schrieb, war die reformatorische Bewegung schon weit fortgeschritten. Im Zentrum der Reformation stand kein anderer als Martin Luther selbst. Der verneigte sich tief vor seinem alten Professor und Seelsorger, und er machte kein Hehl daraus: Staupitz war’s, der mir die Freiheit des Evangelium deutlich gemacht hat. Bei Staupitz habe ich alles Wesentliche gelernt. Dazu gehörte für Luther auch ein neuer Blick auf Jesus Christus. Denn Staupitz lehrte Christus weniger als strafenden Richter des Weltgerichts als vielmehr als die Offenbarung von Gottes großer Barmherzigkeit.
Ja, und was die Barmherzigkeit Gottes anlangt, ging Staupitz in gewisser Weise sogar über Luthers Standpunkte hinaus. Denn während sich Luther ein Leben lang mit dem Teufel und seiner Macht abplagte, hatte Staupitz für sich das Problem schon in ganz anderer Weise gelöst. Für Staupitz galt: Gottes allmächtige Barmherzigkeit hat den Satan schon derart gebändigt, dass man sich selbst vor dem Teufel nicht mehr zu fürchten braucht: Sozusagen: Soll doch der Teufel machen, was er will, für mich gilt: „Dein bin ich, mach mich selig!“ Was soll mir da noch passieren?
Noch ein letzter Punkt scheint mir wichtig zu erwähnen: Im Unterschied zu Luther und vielen seiner Zeitgenossen haben Staupitzens Schriften nichts von der übermäßigen Aggressivität gegen Juden und Häretiker. Er war eben ein Menschenfreund durch und durch.
MUSIK
Trotz der großen Übereinstimmung in grundsätzlichen theologischen Dingen ist Staupitz den radikalen Weg Luthers ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr mitgegangen. Die Aufhebung der Klöster und die Absage an das Papsttum, die Luthers Reformation bewirkten, wollte Staupitz nicht selber nachvollziehen. Für ihn war das Mönchtum die Lebensform, für die er sich einmal entschieden hatte und die er weiterhin für gut und wichtig hielt. Im Jahr 1520, als die Reformation bereits in vollem Gange war, verließ Staupitz Wittenberg und ging nach Salzburg. Dort wurde er zwei Jahre später Abt des Benediktinerklosters St. Peter. Ganz dem geistlichen Ideal der „Gelassenheit“ entsprechend, suchte Staupitz die äußere und die innere Ruhe in der Distanz zu den Kämpfen um Luther. Von Luthers Theologie aber hat er sich nie distanziert.
Als Luther die erste Enttäuschung über Staupitz’ Weggang überwunden hatte, kehrte auch sein Gefühl der Dankbarkeit und Zuneigung wieder zurück, die er seinem – wie er schreibt „verehrten Oberen, Vater und Lehrer in Christus“ entgegenbrachte. Und noch viele Jahre später rühmte Luther in einer Tischrede „Dr. Staupitz, seinen Geist und seine Lauterkeit, - er sei immer edel gewesen, nie niedrig“!
Auch Staupitz lässt es bis zuletzt nicht an Hochachtung vor seinem großen Schüler fehlen, den er vor Jahren gewissermaßen entdeckt hatte. In seinem letzten Brief aus dem Sterbejahr 1524 schreibt Staupitz an Luther: „Wir schulden dir, Martin, vieles, denn du hast uns vom Futter für die Schweine auf die Weiden des Lebens, zu den Worten des Heils zurückgeführt“. Und, ein Wort aus dem 2. Samuelbuch (1,26) zitierend, beteuert er, dass seine Liebe zu Luther von ungebrochener Festigkeit sei, „beständiger sogar als Frauenliebe“.
Johann von Staupitz starb am 28. Dezember 1524 und wurde in der Veitskapelle von St. Peter in Salzburg begraben. Seine Schriften kamen 1557 auf den römischen Index, wurden also in der katholischen Kirche verboten. 1584 – 60 Jahre nach seinem Tod – übergab der damalige Abt von St. Peter den persönlichen schriftlichen Nachlass seines Vorgängers dem Scheiterhaufen.
So spiegelt sich denn in seiner Hinterlassenschaft das Schicksal eines Mannes, der zwischen die konfessionellen Fronten geriet – in diesem Grenzgebiet aber sich selber treu blieb und seinem Glauben. Gemäß dem Motto: „Dein bin ich, mach mich selig!“