Jahreslosung 2013: Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir
Unterwegs. Wir sind unterwegs durch die Zeit. Wie eine mächtige, unaufhaltsame Strömung umgibt sie uns. Wir haben keine Wahl, als ihr zu folgen. An kaum einem Tag wird das so deutlich wie am Übergang zwischen Silvester und Neujahr. 2013 heißt das Jahr seit heute Nacht. Die Zählung der Jahre ist eng mit den verschiedensten Kulturen und Traditionen verbunden. Im christlichen Teil der Welt beziehen sich die Menschen seit alters her auf das angenommene Geburtsjahr Jesu. Nach dem jüdischen Kalender sind wir schon im Jahr 5773 seit der Erschaffung der Welt, die Muslime zählen jetzt das Jahr 1433 seit Mohammed Mekka verließ.
Aber was heißt diese Zahl für das eigene Leben? Niemand weiß doch wirklich, woher wir kommen, und niemand, wohin es geht und wie lange das eigene Leben dauern wird. Wie lange ist es noch bis zum Ende? Wir kommen aus dem Dunkel und gehen wieder dorthin. Dazwischen liegen einige Jahrzehnte im Licht, die wir das Leben nennen. Und bei alledem ist nur eines sicher: Seit unserer Geburt sind wir unterwegs.
Selten wird einem das so deutlich ins Bewusstsein gerufen wie heute. An diesem frühen Morgen des ersten Tags im Neuen Jahr möchte ich Sie einladen, mit mir in Gedanken auf eine Zeit-Reise zu gehen, weit zurück in die Vergangenheit. Vorbei am letzten Jahrhundert mit seinen beiden fürchterlichen Weltkriegen, vorbei am Mittelalter, wo die Lebenszeit der Menschen kurz war und die Dome und Kathedralen der Himmel auf Erden waren. Vorbei an den dunklen und blutigen Jahrhunderten, die dem Zusammenbruch des römischen Weltreichs folgten. Fast zweitausend Jahre gehen wir zurück ins erste Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung. Wir treffen einen Mann, der aus guten Gründen lieber unerkannt bleiben möchte.
Kommen Sie doch herein! Ich freue mich, Sie zu sehen. Ich werde Ihnen jetzt die Binde von den Augen nehmen. Nehmen Sie Platz! Es tut mir leid, dass wir uns unter diesen konspirativen Umständen treffen müssen. Wir lassen es auch besser bei dieser einen Öllampe da hinten. Dann können Sie später mein Gesicht nicht so gut beschreiben. Auch mein Name tut nichts zur Sache. Über mich selbst ist wenig bekannt, und das soll auch so bleiben. Wissen Sie: Die Römer haben ihre Ohren überall. Deshalb müssen Sie auch nicht wissen, wo ich mich jetzt befinde. Die einen vermuten mich in Rom, die anderen in Palästina. (lacht ein wenig) Gut so! Ein wenig Verwirrung bei den Behörden ist in meiner Lage nicht das Schlechteste. (seufzt) Ich bin nicht mutig genug, um als Märtyrer zu sterben.
Wo sind wir? Vielleicht im Hinterzimmer einer versteckten kleinen Wohnung, irgendwo im alten Viertel einer Hafenstadt am östlichen Mittelmeer. Die Sonne steht schon dicht über dem Horizont. Es dämmert, in wenigen Minuten wird es Nacht sein. Der Mann, dem wir gegenübersitzen, ist nur in vagen Umrissen zu sehen. Übrigens ist das bis heute so. Er hat einen der ganz wichtigen Texte des Neuen Testaments geschrieben, den so genannten Hebräerbrief. Aber über ihn selbst weiß die Wissenschaft so gut wie nichts. Zufall? Tarnung? Woher kam er, wo lebte er, an wen richtete er in Wahrheit seinen Brief? An Juden oder Judenchristen? Und wann genau hat er ihn geschrieben? Es gibt viele Vermutungen, aber nichts wirklich Handfestes. Wir nehmen uns jetzt einfach die Freiheit, ihm in unserer Phantasie zu begegnen. Denn von diesem geheimnisvollen Verfasser des Hebräerbriefs stammt ein Wort, das zur Jahreslosung dieses neuen Jahres 2013 geworden ist:
Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Wir haben hier keine bleibende Stadt … Bei Beerdigungen ist das heute oft zu hören, und dann klingt es meist wie ein resignierter Abgesang mit einer fernen, unbestimmten, wenig konkreten Hoffnung auf ein weiteres Leben nach dem Tode. Doch genau so hat es der Verfasser des Hebräerbriefes nicht gemeint, ganz im Gegenteil. Kommen Sie jetzt wieder mit mir wieder in das halbdunkle Zimmerchen mit der rußenden Öllampe irgendwo am östlichen Mittelmeer, das wir unter konspirativen Umständen aufgesucht haben. Der Mann hat begonnen, von sich zu erzählen.
Sehen Sie: Meine Eltern – Gott hab’ sie selig – hatten es zu einigem Wohlstand gebracht. Mein Vater sprach nicht nur die Sprache unserer Väter, sondern auch fließend Latein und Griechisch. Sie wollten unbedingt, dass ich diese Weltsprachen auch beherrschen sollte. Deshalb haben sie mir eine sorgfältige Erziehung angedeihen lassen. Ich habe dann nicht nur unsere jüdischen Traditionen, sondern auch die großen antiken Philosophen studiert. Die heiligen jüdischen Schriften habe ich auf Griechisch gelesen, in der Septuaginta. Nichts schätze ich so sehr wie eine geschliffene Rede und eine sorgfältige Beweisführung.
So viel ist sicher: Der Verfasser des Hebräerbriefes war ein hoch gebildeter Mann. Sein Wortschatz war wesentlich größer der als aller anderen Autoren des Neuen Testaments, auch als der des Apostels Paulus. Er stand zwischen den großen Kulturen seiner Zeit – der israelischen, der griechischen und der römischen. Leben und Denken wurden von harter römischer Machtpolitik, zahllosen griechischen Philosophenschulen und einem unglaublichen Gewimmel in der Götterwelt bestimmt. Einheimische Kulte in den eroberten Provinzen verboten die Römer nach Möglichkeit ja nicht, sondern vereinnahmten sie. Auf ein paar rauchende Altäre mehr oder weniger auf den Marktplätzen kam es ihnen nicht an, solange nur als erstes dem Gottkaiser in Rom geopfert wurde.
Nur bei den Juden hatte das nie so recht funktioniert. Auch wenn es dort nach dem Einmarsch der Römer nicht wenige angepasste Vasallen, Wendehälse und Mitläufer gab, so war den Besatzern doch eines klar: Der jüdische Glaube an den einen und alleinigen Gott Israels ließ im tiefsten Grund eine bequeme Toleranz anderer Kulte nicht zu. Schon gar nicht die Unterwerfung unter einen selbsternannten göttlichen Kaiser in Rom. Deshalb waren die römischen Machthaber in der Provinz Judäa auch ziemlich nervös. Genau diese Nervosität hatte ja seinerzeit Jesus von Nazareth das Leben gekostet.
Still! War da jemand auf der Treppe? (seufzt) Es kam mir so vor. Jedenfalls: Eines Tages kam ein Mann in unsere Stadt und trat in unserer Synagoge auf. Er erzählte von einem Mann, den die Römer damals vor 20, 25 Jahren in Jerusalem hingerichtet hatten: Jeschuah Ben Josef aus Nazareth. Der Hohe Rat hatte ihm religiös motivierte Umsturzpläne vorgeworfen. (lacht ein wenig) Darauf reagieren die Römer ja hoch empfindlich. Auf dem Henkersplatz Golgatha vor der Stadt ist dieser Jeschuah dann gekreuzigt worden, am Tag vor dem Passahfest. Es dauerte Stunden, bis er starb.
Der uns davon erzählte, war einer seiner Jünger gewesen. Und er schwor beim Leben seiner Mutter, dass dieser Jeschuah nach drei Tagen wieder auferstanden und später in den Himmel aufgenommen worden sei. In Wahrheit sei er der Messias gewesen, auf den unser Volk seit vielen Jahrhunderten gewartet hat. Aber Jeschuah war ganz anders als man sich den Messias vorgestellt hatte. Er wollte keinen Aufstand gegen die Römer. Er wehrte sich nicht, als er verhaftet wurde. Und man sagt, er habe noch am Kreuz um Vergebung für seine Henker gebeten.
Irgendwann wurde der kluge Verfasser des Hebräerbriefs Christ und ließ sich taufen. Wieder wissen wir nichts über Umstände, Zeit und Ort. Aber der Brief zeigt auf jeder Seite, dass diesem Mann die Beschäftigung mit seinem neuen, aufregenden Glauben keine Ruhe ließ. Er war Jude gewesen wie Jesus auch, er kannte die uralten Traditionen des Judentums in allen Einzelheiten. Aber er spürte, wie viele Christen in seiner Umgebung begannen, das alles zu vergessen und damit die Verbindung zu einer lebensnotwendigen Wurzel ihres Glaubens abzuschneiden.
Vor allem aber kannte er das größte Problem vieler Gemeinden ein, zwei Generationen nach Jesus: Die Zeit verging, nichts geschah, das Leben ging weiter, und nach und nach hatten sie aufgehört, die baldige Rückkehr ihres Herrn zum Jüngsten Gericht zu erhoffen. Notgedrungen richteten sich die meisten Christen in ihrem Alltag ein. Weiter feierten sie ihre Gottesdienste am ersten Tag der Woche und das Abendmahl, aber es waren längst nicht so viele wie früher und all das wurde mehr und mehr zur Gewohnheit. Das Feuer, die Begeisterung, der lebendige Geist des Anfangs, sie waren weitgehend erloschen, und der Druck der Behörden und die Verfolgung der Christen durch die römische Staatsmacht nahmen zu.
Sagen Sie bitte: Hat Sie auch wirklich niemand gesehen, als Sie die Gasse herauf gekommen sind? Man kann nie wissen, wem alles die Römer ein paar Sesterzen versprochen haben, wenn der ihnen einen Christen ans Messer liefert. Wahrscheinlich werde ich auch hier nicht mehr lange bleiben können. (seufzt) Aber ich weiß es noch nicht.
Es hat mich damals schlaflose Nächte gekostet. Mein Glaube war doch noch jung. Ich hatte Feuer gefangen. Viele andere in meiner Gemeinde schienen mir aber so abgeklärt, so resigniert. Sie hatten auf eine baldige Wiederkunft von Jesus auf die Erde gehofft. Aber die Jahre vergingen, und nichts geschah. Nur der Terror durch die Römer nahm zu. Die Spitzel waren überall. Wer denunziert wurde und dann dem Kaiser nicht das rituell vorgeschriebene Opfer brachte, der musste mit Folter rechnen. Schlimmstenfalls mit den Galeeren oder gar mit Hinrichtung. Wir alle hatten Angst. Aber meine Mitchristen brachten so wenig Kraft auf, sich innerlich gegen die Angst zu wappnen. Und dabei kursierten die unglaublichsten neuen Lehren über Jesus von irgendwelchen Leuten. Wir alle suchten ja nach Orientierung, nach einer neuen, tragfähigen Begründung für unseren Glauben.
Der Verfasser des Hebräerbriefes ist fest davon überzeugt, dass es ein Christentum ohne enge Beziehung zum Glauben der jüdischen Väter nicht geben kann. Zugleich aber gilt es, diese alten Wurzeln im Lichte des Lebens und des Leidens Jesu neu zu verstehen. Wo ist die Verbindung, wo nicht als Ersatz oder als Konkurrenz, sondern als Deutung, als Schlüssel zum Verständnis des eigenen, des christlichen Glaubens?
Immer wieder beschäftigt mich die Frage, was es denn zu bedeuten hat, dass unser Herr Jesus damals vor die Mauern von Jerusalem nach Golgatha, auf den Henkersplatz geführt wurde, um dort zu sterben. Und ich bin zu der Überzeugung gekommen: Das musste so sein.
Wie war denn das bei unseren Vätern? Da wurde die Sünde des Volkes den Opfertieren aufgeladen. Sie wurden im Tempel geschächtet. Später wurden sie außerhalb der Stadt verbrannt. Außerhalb, verstehen Sie, außerhalb! Man hatte ihnen ja die Sünden des Volkes aufgeladen, und diese Sünden durften nicht in der Stadt bleiben!
Und sehen Sie: Das ist die Verbindung zwischen dem alten jüdischen Glauben und dem Glauben von uns Christen. Genau deshalb musste auch unser Herr Jesus auf Golgatha außerhalb der Stadt sterben. Seine Jünger haben erst viel später verstanden, was da heschah: Denn er hatte doch die Sünden von uns allen auf sich genommen. So wie der Sündenbock in alter Zeit. Sie können mir folgen?
Der Mann in einem halbdunklen Zimmerchen irgendwo am östlichen Mittelmeer von bald 2000 Jahren, der Mann, der den Hebräerbrief schrieb, ist bei seinem wichtigsten Thema angekommen: Kraft für den christlichen Glauben aus der Tradition des Judentums: Die Geschichte zwischen Gott und den Menschen hat nicht mit Jesus angefangen. Sie ist viel, viel älter, und die uralten Riten und Symbole geben noch immer Kraft. Das gilt besonders für den Gedanken, dass die Lebenszeit vergeht, dass wir im Leben immer unterwegs sind und nicht wirklich bleiben können. Auch nicht heute, am Beginn eines neuen Jahres.
Ganz am Anfang war der Glaube der Juden ein Glaube von Menschen in der Wüste. Wer in der Wüste lebt, ist immer unterwegs, auf der Suche nach neuen Wasserlöchern oder Weideplätzen für die Tiere. Man muss weiter ziehen, so ist das Leben. Nichts kann bleiben, wie es war. Für einen Nomaden ist das eine Selbstverständlichkeit, und der jüdische Glaube hat diesen Gedanken aufgenommen. Wir sesshaften Menschen haben das schon lange vergessen. Wir möchten so gerne bleiben und festhalten, was ist. Aber das geht nicht, die Zeit nimmt uns mit von einem Tag zum anderen, kein Jahr ist wie das andere, wir werden jeden Tag älter, wir sind unterwegs.
Verstehen Sie, welche Kraft darin steckt, dass Jesus selbst niemals auf Dauer irgendwo geblieben ist, dass er durch das Land zog wie früher das Volk Israel? Als unsere Väter sesshaft geworden waren und begonnen hatten, Dörfer und Städte zu bauen, da haben sie das nicht vergessen: In Wahrheit sind wir alle unterwegs, unser Leben lang. Niemand kann auf Dauer bleiben, wo oder wie er ist. Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Aber Gott geht mit uns, wie er mit seinem Volk einst durch die Wüste gezogen ist. Und Christus ist der neue Hohepriester, das Zeichen dafür, dass Gott mit uns auf dem Weg ist. Nein: Wir sind nicht verloren, und wir gehen nicht verloren, was immer auch geschieht.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Über die Kluft von 2000 Jahren sind wir zurück aus unserem erdachten Gespräch mit dem unbekannten Ver-fasser des Hebräerbriefes, irgendwo in einem kleinen Zimmer einer Stadt am östlichen Mittelmeer. Er hat uns wenig von sich erzählt, dafür umso mehr von den tiefen Verbindungen zwischen dem jüdischen und dem christlichen Glauben: Gott ist mit seinen Menschen auf dem Weg, er bleibt nicht zurück, wenn wir weiter müssen in einen neuen Tag und ein Neues Jahr. Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.
Ich wünsche Ihnen ein gutes, gesegnetes und gesundes Neues Jahr!