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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Frankfurt am Main

Gier - von der Unfähigkeit, dankbar zu sein

Gier - von der Unfähigkeit, dankbar zu sein

„Wie viel Erde braucht der Mensch?“ Wenn man den Titel von Leo Tolstois Erzählung liest, ahnt man die Pointe. Der Teufel sitzt bereits am Anfang neben dem Ofen und hört dem Prahlen des Bauern Pachom zu: „Wenn ich nur genug Land hätte, so fürchtete ich niemanden, nicht einmal den Teufel.“ Als er Grundbesitzer wird, ist sein Begehren nach Eigentum geweckt. In der Folgezeit vergrößert er seine Ländereien. Aber er ist nie zufrieden und will immer mehr. Schließlich bekommt er von einem durchreisenden Kaufmann den Hinweis, dass er im Osten sehr billig Steppenland erwerben kann. Er reist mit seinem Knecht dorthin. Schließlich wird ihm von den dortigen Bewohnern angeboten, alles Land in Besitz zu nehmen, was er an einem Tag umschreiten kann.

Er lässt sich darauf ein und startet in aller Frühe. Er beschleunigt ständig seine Schritte. Als die Sonne langsam untergeht, beginnt er zu rennen. Doch er überschätzt seine Kräfte und bricht am Ende vor Erschöpfung tot zusammen. „Der Knecht nahm die Hacke, grub Pachom ein Grab, genauso lang wie das Stück Erde, das er mit seinem Körper, von den Füßen bis zum Kopf, bedeckte – sechs Ellen – und scharrte ihn ein.“ So viel Erde braucht der Mensch, nicht mehr. Der Bauer ist in seiner Gier nach Land dem Teufel in die Falle gegangen. Das Gleichnis will vor solcher Gier warnen, denn sie macht blind und unzufrieden und kann sogar tödliche Folgen haben. Tolstoi empfiehlt seinen Lesern, ein bescheidenes und genügsames Leben zu führen.

Doch es gibt auch noch eine modernere Lesart für heutige Leser. Denn so viel wie möglich herauszuholen, ist Teil ihrer normalen Lebensphilosophie, die täglich durch Werbung, Börsennachrichten, Supermärkte und die vorherrschende Wachstumsrhetorik bestätigt wird. Vor diesem Hintergrund liest sich Tolstois Geschichte anders: nicht die Gier wird getadelt, sondern es wird vor schlechter Risikoabschätzung und mangelnder Fitness gewarnt. In einem Managerseminar könnte das Gleichnis heute ganz neu verstanden werden. Denn ohne die Bereitschaft, Besitz zu erwerben, Gewinne zu erzielen und Macht zu erringen, wären Lähmung und Stillstand in den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Beziehungen die Folge.  Das Begehren, aus dem die Habsucht stammt, ist nicht von vorneherein teuflisch. Im eigenen Interesse seinen Besitz zu vergrößern, kann im Wettbewerb mit anderen, die ebenfalls ihren eigenen Vorteil suchen, dazu helfen, dass der Wohlstand im Allgemeinen wächst. Hätte Tolstois Bauer sich selber begrenzt, hätte er gewusst, was für ihn genug ist, dann würde er zufrieden sein Land bestellt haben. Dankbar könnte er die Früchte der Erde und seiner Arbeit genießen und mit anderen teilen.

Gier ist eine Sucht, die stets mehr haben will, und wie bei einer Droge muss die Dosis immer wieder gesteigert werden. Die Droge kann Geld, Land, Macht, aber auch Ruhm und öffentliche Anerkennung sein. Wenn Begehren zur Sucht wird, schlägt es in Gier um.

Aber wie kann man wissen, was genug ist? Wer oder was setzt dem Begehren Grenzen? Der Unzufriedene will mehr, immer mehr.  Der Zufriedene blickt dankbar zurück und fragt, wem er seinen Wohlstand, seine Nahrung, seine Wohnung und seine relative soziale Sicherheit verdankt. Wer dankbar ist, rennt nicht wie der Bauer immer weiter und schneller, sondern macht Pausen und denkt darüber nach, was er hat und tut. Danken und Denken sind nicht nur ähnliche Worte, sondern gehören auch sachlich eng zusammen. Heute wird in den Kirchen das Erntedankfest gefeiert. Ein traditioneller Brauch, für den Tolstois Bauer keine Zeit mehr hatte.

Gier macht nicht nur unfähig zum Danken, sondern verhindert auch klarsichtiges Denken. Wie sehr sie der Sucht vergleichbar ist, zeigt der erste Börsencrash der Geschichte. 1593 brachte ein Wiener Botanikprofessor eine Sammlung von Tulpenzwiebeln nach Leiden in Holland. Die Pflanzen hatte er zuvor in der Türkei entdeckt. Die Holländer mochten die Blumen. Leider verlangte der Professor Wucherpreise für die Zwiebeln. Das hätte er nicht tun sollen, denn nach einiger Zeit wurden ihm die Zwiebeln gestohlen. Die Tulpen waren also beliebt, nachgefragt und teuer. Den Kick aber brachte ein Virus, der für kontrastreiche Streifen in den Blütenblättern sorgte.  Jetzt sahen die Tulpen auch noch exotisch und bizarr aus. Die Holländer nannten diese Streifen „Flammen“. Je mehr Flammen umso teurer war die Tulpenzwiebel. Langsam begann die Spekulation mit dem Wert der Zwiebel. Händler versuchten vorherzusagen, welche Tulpenvariation in der kommenden Saison „in“ sein würde. Sie deckten sich mit der entsprechenden Sorte ein und spekulierten auf steigende Preise. Nach und nach entstand eine wahre Hysterie.

Die Gier trieb bedächtige und solide Bürger aller Schichten ins lukrative Tulpengeschäft. Kleine Handwerker nannten sich jetzt „Floristen“, obwohl sie nur Händler für Tulpenzwiebeln waren. Sie vernachlässigten ihre bisherigen Geschäfte, verkauften alles, was sie hatten, damit sie beim Tulpenboom nicht zu spät kamen. Einigen Berichten zufolge war die Hälfte allen Geldes in der holländischen Wirtschaft damals am Handel mit Tulpen beteiligt. Der Tulpenboom dauerte etwa von 1634 bis 1637. Im Januar 1637 stieg der Preis für Tulpenzwiebeln um das 24fache. Im Februar erfolgte dann der plötzliche Absturz. Die Preise waren so hoch gestiegen, dass nun jeder die Gewinne mitnehmen wollte. Es kam nach dem Schneeballprinzip zu einer regelrechten Verkaufsorgie. Jeder wollte schließlich retten, was noch zu retten war. Hollands Regierung versuchte, die wirtschaftliche Katastrophe aufzufangen. Hilflos und natürlich ohne Erfolg erklärte sie den Verfall der Preise für grundlos. Alle Auffangmaßnahmen scheiterten am rasanten Preisverfall der Tulpenzwiebeln, die zum Schluss weniger als Gemüsezwiebeln wert waren. Nach dem Zerplatzen der Spekulationsblase folgte eine tief greifende Depression. Die ruinierte auch alle, die noch rechtzeitig und mit Gewinn verkauft hatten. Einige Historiker schätzen, dass es eine ganze Generation dauerte, bis sich die holländische Wirtschaft wieder erholt hatte.

Die Geschichte des ersten Börsencrashs klingt ganz ähnlich wie die Immobilienkrise des Jahres 2007, die zum letzten Absturz an der Börse führte. Die Aussicht auf unverhoffte Gewinne macht blind und löst geradezu hysterisches Verhalten aus. In dieser Geschichte ist es allerdings nicht ein Einzelner wie bei Tolstoi, sondern der Markt, der gierig macht. Dieser verspricht durch Spekulation und steigende Nachfrage immer höhere Gewinne. Die Tulpen waren am Beginn des 17. Jahrhunderts die Aktien, in die investiert wurde. Mit ihrem wirklichen Wert hatte dies nichts mehr zu tun. Sie waren das Objekt der Begierde geworden, von dem viele sich Reichtum und Wohlstand versprachen.

Beim heutigen schnellen Geschäft mit den Milliarden bleibt keine Zeit zum Danken und zum Denken. Der heutige internationale Finanzmarkt wirkt wie ein rasender Zug, der ungebremst dem nächsten Crash entgegenfährt. Wer kann und wie ist diese Raserei zu stoppen? Die politisch Verantwortlichen erscheinen so hilflos wie die wirtschaftlich Handelnden. Als grenzenloses Wachstum ist die Gier zum System geworden.

Einzelne können selbstverständlich großherzig sein und viel Gutes tun durch Spenden und die Unterstützung karitativer Projekte. Gier findet sich als Verhalten unter allen Menschen, unter Reichen und Armen, unter Gewinnern und Verlierern. Doch das Problem ist heute nicht so sehr die Haltung des Einzelnen, sondern die Logik eines Wirtschaftssystems, das unaufhörliches Wachstum der Produktivität und das Streben nach Gewinnsteigerung, also die Logik des Immermehr, zur treibenden Kraft gemacht hat. Wer in diesem System erfolgreich sein will, muss gierig sein. Nichts stellt zufrieden, Stillstand heißt Rückschritt und Grenzen für dieses Wachstum sind nicht erkennbar. 40 Jahre ist es her, dass der „Club of Rome“ sein Manifest über die „Grenzen des Wachstums“ herausgebracht hat. Im Blick auf die ökologischen und sozialen Folgen dieses Wachstumswahns ist bis heute so gut wie nichts passiert. Der Klimawandel scheint unaufhaltsam mit seinen langfristig katastrophalen Folgen. Die Zahl der Hungernden ist gestiegen. Und die Arbeitsbelastungen für die Menschen haben unter dem Diktat, dass Zeit Geld ist, stetig zugenommen. Globale Finanzmärkte setzen im Minutentakt Millionen um auf der Suche nach dem schnellen Geld.

Nach Auskunft der Welternährungsorganisation hungern weltweit über eine Milliarde Menschen, während in den reichen Ländern Europa, Nordamerikas und Asiens über 50 % der vorhandenen Lebensmittel weggeworfen werden.  In der gesamten EU landen jedes Jahr rund 90 Millionen Tonnen Lebensmittel auf dem Müll, was in LKWs geladen etwa einer Kolonne einmal um den Äquator entsprechen würde. Davon sind etwa 3 Millionen Tonnen Brot, womit man ganz Spanien ernähren könnte. Ein Bauer in Deutschland muss bei der Kartoffelernte rund 50 Prozent der Kartoffeln bereits auf dem Feld aussortieren, da sie nicht dem Industrie-Standard in Form oder Aussehen entsprechen, obwohl es sonst beste Kartoffeln wären. Die Spekulation mit Getreide oder Mais an den Börsen führt zum Hunger, weil auf diese Weise die Preise steigen und die Armen das notwendige Nahrungsmittel nicht mehr bezahlen können.

Am heutigen Erntedanksonntag ist daran zu erinnern, dass für alle genug da wäre, wenn nicht die einen an der Überproduktion ersticken und die anderen am Mangel an Lebensmittel zugrund gehen würden. Im 6. Kapitel  des Matthäusevangelium, in der Bergpredigt,  sagt Jesus:

„Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie Motten und der Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht einbrechen und stehlen. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz.“ Und er fährt fort: „Niemand kann zwei Herren dienen, entweder er wird den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“

Die Schätze sind mit Gottes Schöpfung gegeben. Das Leben ist vor allem eine Gabe, ein Geschenk des Himmels. Wer sich beschenkt fühlt, ist dankbar. Im Vertrauen auf Gott finden sich Menschen im Danken zusammen. Sie wissen, dass das eigene Begehren und Wünschen seine Grenzen im Anderen hat. Denn dieser wünscht sich das Gleiche wie er selbst: tägliches Brot, ein Dach über dem Kopf, soziale Sicherung gegen Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unglück.

Jesus ist mit seinem Satz vom Mammon keineswegs wirtschaftsfeindlich, sondern er will deutlich machen, dass Gier und Geiz die Grenzen überschreiten, die für ein kluges Wirtschaften unabdingbar sind. Gutes Wirtschaften besteht für ihn gerade darin, dass mit Geld durchaus eigene Vorteile gesucht werden können, aber keineswegs auf Kosten der anderen.

Doch mit dem Reichtum der einen wächst die Armut der anderen, weil die einen einer Logik der Gier folgen und die anderen Opfer dieser Gier werden. Dankbare Menschen hingegen handeln sozial und übernehmen Verantwortung füreinander. Sie geben weiter, was ihnen geschenkt wurde, teilen mit anderen und sind großzügig.

Dankbar kann nur derjenige sein, der weiß, dass sein Leben ein Geschenk ist. Er ist zufrieden  mit dem, was er hat. Er weiß auch, was er braucht und was zu viel ist und dass sogar genug für alle da ist.

Welche Gründe gibt es, dankbar zu sein? Auf die eigenen Leistungen kann man stolz sein, aber dankbar? Wer alles selber regelt, auch die grundlegenden und die letzten Dinge, der braucht sich auch bei niemandem zu bedanken. Der Mensch versteht sich als Schöpfer seiner Welt. Neben diesem spielt Gott kaum noch eine Rolle. Mit den Birnen, Weintrauben und Äpfeln auf dem Altar wirkt das alte Erntedankfest wie eine folkloristische Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Gott scheint vergessen.

Doch wo ihm für das Geschenk des Lebens gedankt wird, erkennt man ihn als Schöpfer und weiß um die eigenen Begrenzungen. Ohne das Vertrauen auf Gott, der seiner Schöpfung Grenzen gezogen hat, damit sie lebens- und liebenswert bleibt, ist der Gier und dem Geiz nicht wirkungsvoll zu begegnen. Kein Besitz, seien es Tulpenzwiebeln, Immobilien oder Milliarden Euro, kann die Unzufriedenen beruhigen. Denn es bleibt da eine Leere, die der Besitz nicht zu füllen vermag. Deshalb sind die Unzufriedenen zum Dank nicht fähig. Für die Dankbaren ist mit dem Geschenk des Lebens eine Fülle verbunden, die es mit allen Menschen zu teilen gilt. Gelassen nehmen sie die beunruhigende Frage in ihr Gebet auf: “Wie viel ist genug?  Dabei vertrauen sie auf ihren Schöpfer. Er befreit sie vom Zwang des ständigen Mehr-Haben-Wollens. „Gott sei Dank“ müssen sie nicht alles selber regeln. Denn sie sind beschenkt.