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Eine Sendung von

evangelische Pfarrerin im Ruhestand, Frankfurt am Main

Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung

Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung

Die Bilder waren in allen Nachrichtensendungen zu sehen an jenem 27. Januar 1995, einem trüben, regnerischen Tag. An der Gedenkstätte im ehemaligen KZ Auschwitz – Birkenau standen etwa 200 ältere Menschen, in ihrer Mitte der polnische Staatspräsident, neben ihm der Kantor der jüdischen Gemeinde. Er sang das Totengebet. Kränze wurden niedergelegt, Reden gehalten. Es war der 50. Jahres-tag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die russische Armee.

Ein Jahr später erinnert der deutsche Bundestag in einer Gedenkstunde an die Millionen von Menschen, die unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entrechtet, verfolgt und ermordet wurden. Bundespräsident Roman Herzog ruft den Tag der Befreiung von Auschwitz als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus aus. 2005, 60 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz, erklärt die UNO den 27. Januar zum internationalen Gedenktag.

Im deutschen Bundestag berichten seither am 27. Januar jedes Jahr Zeitzeugen oder Zeitzeuginnen über ihre Erfahrungen unter dem nationalsozialistischen Terror. Künstler und Künstlerinnen stellen Werke vor, deren Schöpfer verfolgt wurden. Als Beitrag zur Aufklärung und Versöhnung werden junge Menschen aus Deutschland und den Nachbarländern zu Erinnerungsprojekten eingeladen.

Der 27. Januar ist ein Gedenktag, der meist zwischendrin verschwindet, wenn er nicht wie dieses Jahr auf einen Sonntag fällt. Dieser Tag der Befreiung ist bis jetzt nicht wirklich bei der Mehrheit der Deutschen angekommen. Zudem wird das Gedenken und Erinnern schwieriger, je mehr Zeit vergeht. Zeitzeugen und -zeuginnen werden weniger. Bald wird man niemanden mehr fragen können. Von den etwa siebentausend Überlebenden, die die Rote Armee bei der Befreiung des Lagers Auschwitz fand, lebt niemand mehr.

„Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung“, so steht es über der Gedenkstätte des Holocausts YadwaShem in Jerusalem. Ein biblisches Motto.  Erinnern ist das Ge-heimnis des Glaubens von Juden und Christen. Über die Jahrtausende denken wir zurück, erinnern uns, erzählen die alten Geschichten, die Erfahrungen mit Gott, wie sie uns überliefert sind, niedergeschrieben in der Bibel, den beiden Testamenten, den Urkunden des Glaubens. Und immer wieder ist faszinierend, wie aktuell diese Erinnerungen werden können.

Erinnern hat viele verschiedene Ausdrucksformen. In YadwaShem in Jerusalem ist das Kindermemorial wohl die bewegendste Form: Ein dunkler Raum, in dem sich Tausende von brennenden Kerzen spiegeln. Dazu werden die Namen und das Alter der ermordeten Kinder gelesen. Diese Art zu erinnern, indem die Namen ausgesprochen werden, geht zu Herzen. Viele Besucher und Besucherinnen haben Tränen in den Augen, wenn sie das Kindermemorial verlassen.

In Auschwitz–Birkenau ist es inzwischen üblich: Bestimmte Gruppen Betroffener, die das Vernichtungslager besichtigen, lesen ebenfalls Namen, Namen von Menschen, die dort ermordet wurden: Juden und Jüdinnen, Roma und Sinti, Politische, Schwule und Lesben.

Erinnerung an die Namen, das heißt: Gedenken an Menschen, die im Lager zur Nummer gemacht und dann vergast, erhängt, erschossen wurden. Deren Asche so anonym wurde, dass nichts mehr an ihr Menschsein erinnern konnte. Solange ihre Namen veröffentlicht werden, bekommen sie zumindest einen Teil ihrer Menschenwürde zurück, werden wahr genommen als Gottes Kinder, wie es beim Propheten Jesaja heißt: „Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein“ (Jesaja 43,1).

Namen werden auch erinnert durch die „Stolpersteine“, die an vielen Orten verlegt wurden. Auf Initiative des Künstlers Gunter Demnig werden Pflastersteine mit einer Messingtafel vor den letzten frei gewählten Wohnhäusern von Juden und Jüdinnen und anderen Verfolgten verlegt. Der Text auf den Täfelchen heißt immer: Hier wohnte, dann der Name und das Geburtsdatum, darunter der Sterbeort oder das unbekannte Schicksal, zum Beispiel: verschleppt nach Riga, deportiert nach Theresienstadt, zuletzt Sobibor. Über 37.000 Steine sind inzwischen verlegt in Deutschland, in Österreich, Polen, der Ukraine, Dänemark und anderen Ländern.

Einige Städte wie München verweigern die Verlegung von Stolpersteinen, in anderen wurde hart gerungen und diskutiert. Inzwischen werden auch Zerstörungen gemeldet, aus Hannover und Greifswald zum Beispiel. Kritik, sofern sie nicht aus rechtsradikalen Kreisen kommt, bezieht sich fast immer darauf, dass man über die Steine gehen muss, dass man die Namen mit Füßen tritt und damit die Opfer ein weiteres Mal schändet. Dagegen wird gesagt: Man muss sich bücken, muss sich gleichsam verneigen, um die Namen lesen zu können. Die Stolpersteine sollen nicht die Füße stolpern lassen, so dass man fällt. Sondern der Kopf soll stolpern, und das Herz. Auf diese Weise sind die Stolpersteine zu Denkmalen für die Opfer des Holocaust geworden, weiter verbreitet als jedes andere Denkmal und zugänglich jederzeit und alltäglich.

Erinnern als Denkmal, so versteht die hessische Bildhauerin Gabriele von Lutzau ihre Arbeiten, die sie in diesem Jahr zum 27. Januar im Bundestag ausstellen darf. Ein Objekt „Flügel Buchenwald“ wird danach dem Museum in YadwaShem in Jerusalem übergeben. Der „ Flügel Buchenwald“  wurde aus einer Buche gefertigt, die an der Wegkreuzung der Blutstraße im KZ Buchenwald nahe Weimar stand. Die Blutstraße ist die Straße, auf der die Insassen des KZs in das Lager und in ihren Untergang zogen.

Diese Buche trocknete aus, und Äste drohten herunter zu fallen und Menschen zu verletzen. Das Schicksal der Buche war besiegelt. Sie war eine Zeitzeugin des Schreckens. Sie hatte alles gesehen. Gabriele von Lutzau sagt zu ihrer Arbeit: „Ich gestaltete aus dem Holz der Buche ei-nen Flügel – eine Schwinge, die über die Zeit und über die Länder hinweg ein Zeichen setzen soll. Ein Zeichen der Erinnerung, aber auch der Versöhnung. Man kann die Vergangenheit nicht ändern, und so bleibt meine Skulptur „Buchenwald“ nur eine liebevolle Geste der Verneigung in Liebe und respektvoller Trauer – nicht mehr und nicht weniger. Ein Denkmal der Geschichte und der Anteilnahme.“

Erinnern, Gedenken geschieht in vielen Formen. Juden und Christen lesen in der Bibel die alten Texte, die an Gott erinnern und einladen zum Gedenken an seine Taten. Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung. Erinnerung ist somit das Fundament des Glaubens an Gott bei Juden und Christen. Immer wieder werden die Erfahrungen mit Gott erzählt. Sie bleiben dadurch keine alten Geschichten, sondern werden oft überraschend aktuell. Erinnern ermutigt zum Glauben, zum Vertrauen auf  Gott heute.

Vom Propheten Jesaja ist ein besonders eindringlicher Dialog der Erinnerungen überliefert. Der Prophet erinnert sich, und er erinnert Gott. In einer Zeit, in der politisch wieder einmal alle Hoffnungen dahin sind, wendet sich der Prophet an Gott. Erregt, fast mit Gewalt, rüttelt er Gott wach, ruft laut:

„Erinnere dich an das, was du uns versprochen hast. Erinnere dich an das, was du getan hast. Erinnere dich an die Geschichte. Du hast uns befreit! Durch Meer und Wüste hast du uns geführt. Dämonen und Gespenster, dunkle Mächte, die uns Angst machen, hast du besiegt. Du hast uns dein gutes Wort gegeben, das Wort, das Mut macht, das Zukunft eröffnet. Erinnere dich, Gott, denk daran! Wach auf, wach endlich auf!“

Es ist, als wolle der Prophet Gott selbst erinnern: An seine eigene, an Gottes Geschichte mit den Menschen. Er erinnert Gott an Gott. Und die Antwort Gottes ist ebenfalls Erinnern und Gedenken. Gott sagt:

„Warum fürchtest du dich vor Menschen? Sie alle sind vom Schöpfer der Welt gemacht, alle, ohne Unterschied. Denk daran, erinnere dich! Wenn du nur auf das siehst, was Menschen tun und machen, erinnerst du zu wenig.“

Dieser Dialog der Erinnerungen ist besonders wichtig heute, in einer Zeit, die vielen oft hoffnungslos und ausweglos erscheint. In der kein Spielraum für politisches Handeln da zu sein scheint und viele Menschen auch persönlich wenig Perspektiven sehen. Was helfen angesichts von Zukunftsängsten die Erinnerungen an das, was vergangen ist? Besonders, wenn es schreckliche Erinnerungen sind, für die verbannten Israeliten vor 2500 Jahren, für uns heute am Gedenktag für die Opfer der Nationalsozialisten.

Allzu oft kann man hören: Lasst uns in Ruhe mit den alten Geschichten! Wir die Nachgeborenen haben damit nichts mehr zu tun, wir haben keine Schuld. Doch: das Geheimnis der Erlösung ist Erinnerung, und zwar in beide Richtungen. Auf die Vergangenheit bezogen und im Blick auf die Zukunft. Erfahrungen mit Gott, davon können und sollen wir erzählen. Das hilft, wenn Zukunftsängste sich breit machen und lähmen. Das hilft, das heute Nötige und Richtige zu tun. Erfahrungen mit Gott trotz allem, was Angst macht. Erfahrungen mit Gott, der seine Geschöpfe liebt.

Gewiss, wie damals in Israel, wie damals in den Vernichtungslagern scheint die andere Erinnerung stärker. Und heute zeigen die Türme der Banken, wer das Sagen hat, nach welchen Gesetzmäßigkeiten Geschichte gemacht wird. Und kein Arm Gottes greift ein! Mir hilft heute, dass der Prophet an die guten Erfahrungen mit Gott in der Geschichte erinnert, dass er erinnert an Gott den Schöpfer; der noch zu seinem Volk steht – auch zu uns heute! Mir hilft, dass er Erfahrungen erinnert. Denn genau das können und müssen wir tun, erzählen, dass unser Gott vertrauenswürdig ist.

„Ich bin es“, sagt Gott, ich bin es, der eurem Leiden ein Ende macht! Ihr seid mein Volk! Ihr sollt meine Weisungen verkünden, und ich halte meine schützende Hand über euch. Ja, die Seinen, die Gott befreit hat, kehren heim; voller Jubel kommen sie zum Zionsberg. Aus ihren Augen strahlt grenzenloses Glück. Freude und Wonne bleiben bei ihnen, Sorgen und Seufzen sind für immer vorbei“ (Nach Jesaja 51, 9-16 Gute Nachricht Bibel).

Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung. Aus den Vernichtungslagern und den Ghettos sind uns mancherlei Texte erhalten, die Zeugnis davon geben, wie Men-schen an Gott festgehalten haben oder wie sie gezweifelt haben, an ihm irre geworden sind. Wie diese Erinnerung aus dem Ghetto von Warschau 1943. Der Aufstand gegen die Nazis derer, die im Ghetto eingeschlossen waren, ist fast niedergeschlagen. Jossel Rakover ist einer der letzten noch lebenden Kämpfer. Munition hat er nicht mehr, dafür aber drei Flaschen Benzin. Eine Flasche ist für ihn, die anderen zwei für seine Feinde. Wenn sie das Haus stürmen, in vielleicht 1-2 Stunden, wird er seine Peiniger mit in den Tod nehmen.

Jossel Rakover hatte eine Frau und sechs Kinder. Alle sind umgekommen. Ein gutes halbes Jahr liegt das zurück. In ein oder zwei Stunden wird auch Jossel Rakover tot sein. Er weiß es. Neun Tage haben sie gekämpft, er und seine elf Kameraden, von diesem Zimmer aus, in dem Jossel Rakover nun neben seinen elf toten Freunden auf den Tod wartet. Jossel Rakover wendet sich an Gott und spricht:

„Noch lebe ich. Und da will ich vor meinem Tod zu meinem Gott noch einmal wie ein  Lebender reden. Ich glaube an den Gott Israels, auch wenn er alles getan hat, dass ich nicht an ihn glauben soll… Ich habe Ihn lieb. Doch Seine Thora habe ich lieber. Selbst wenn ich mich in Ihm getäuscht hätte. Seine Thora würde ich hüten… Erlaube mir Gott, vor meinem Tod, dass ich Dich zur Rede stelle…

Du sagst, dass wir gesündigt haben? Aber natürlich! Und dafür werden wir bestraft? Auch das kann ich verstehen. Ich will aber, dass Du mir sagst, ob es irgendeine Sünde auf der Welt gibt, die eine solche Strafe verdient, wie wir sie bekommen haben… Und noch etwas will ich Dir sagen: Die Versuchung, in die Du uns geführt hast, ist so schwer, dass Du denjenigen Deines Volkes vergeben musst, die sich von Dir abgekehrt haben… Vergib auch denjenigen, die gleichgültig gegen Dich geworden sind. Du hast sie so sehr geprüft, dass sie nicht mehr glauben, dass Du ihr Vater bist, dass sie überhaupt einen Vater haben.

Ich sage Dir das alles so deutlich, weil ich an Dich glaube, weil ich jetzt weiß, dass Du mein Gott bist. Denn wenn Du nicht mein Gott bist, wessen Gott bist Du dann? Der Gott der Mörder? Ich sterbe ruhig, friedlich, als Dein Gläubiger, nicht als Dein Schuldner… Ich werde immer an Dich glauben. Ich werde Dich immer liebhaben, immer – Dir selbst zum Trotz!“

Erinnern, Gedenken – in den Vernichtungslagern haben Menschen an Gott festgehalten. Andere sind an ihm irre geworden. Für uns, die Nachgeborenen, gilt es, unsere eigene Form des Gedenkens und der Erinnerung zu finden. Einander und weiter zu erzählen, dass Gott vertrauenswürdig ist, dass Zukunftsängste und Probleme der Gegenwart gelöst werden können, weil wir nicht allein damit sind. In einem Keller in Köln haben sich einige Juden während des ganzen Krieges versteckt gehalten. An der Wand fand man eine Inschrift, jiddisch in hebräischen Buchstaben geschrieben. Sie trifft bis heute, worauf es ankommt:

„Ich glaube an die Sonne, auch wenn sie nicht scheint.
Ich glaube an die Liebe, auch wenn ich sie nicht fühle.
Ich glaube an Gott, auch wenn er schweigt.“