Der richtige Blick
Eine Mistgabel ist eine Mistgabel. Sie steht an die Stallwand gelehnt, und ihr glatter Holm zeigt, dass schon viele Menschen mit ihr gearbeitet haben. Ein Hackklotz ist ein Hackklotz. Er steht in der Tenne und wartet darauf, dass wieder mal jemand Spaltholz auf ihm macht. Und ein alter Fassdeckel ist ein alter Fassdeckel. Er liegt im Keller und rostet vor sich hin.
Aber nur bis der Maler Joan Miro kam. Der entdeckte den Fassdeckel, befreite ihn vom Rost und malte ein lachendes Gesicht darauf. Das stellte er auf den Hackklotz, den er knallrot anmalte, sodass er aussah wie der Bauch eines Clowns. Die Mistgabel stellte er mit den Zinken nach oben dahinter und machte etwas goldenes Haferstroh daran, sodass es aussah wie flatterndes Haar im Wind. Dann lachte Joan Miro und sagte: „Siehst du, so kannst du aus rum liegendem Gerümpel noch etwas Schönes machen. Du musst nur den richtigen Blick dafür haben und ein bisschen Fantasie und Zuversicht.
Mir gefällt die Geschichte, die man sich von dem Maler Miro erzählt. Denn auf dem Bauernhof, auf dem ich lebe, liegt viel Gerümpel herum: Gabeln und Hacken, veraltete Maschinen, ein kaputter Wagen – eben Gerümpel, unbrauchbares Zeug auf den ersten Blick. Doch mit einem anderen Blick, vielleicht dem Blick von Miro, kann man in den rum liegenden Dingen noch etwas anderes, Brauchbares, vielleicht sogar Wertvolles entdecken.
Es kommt wirklich auf den Blickwinkel an, aus dem man die Dinge ansieht. Das gilt nicht nur für Werkzeuge und Geräte auf meinem Bauernhof. Das gilt auch für das, was wir tun und auch dafür, wie wir Menschen ansehen. Darum gefällt mir diese Geschichte, weil sie uns den „richtigen Blick“ für die Menschen und das Leben zeigen will – eben aus dem Blickwinkel der Fantasie und der Zuversicht. Statt einfach zu sagen: Das ist wertlos und unbrauchbar.
Die unterschiedlichen Blickwinkel, aus denen man das Leben sehen und beurteilen kann, gibt es auch beim Thema Alter. Ich bin seit ein paar Jahren im Ruhestand, also alt. Und ich lebe mit vielen alten Leuten in meinem Dorf. In einem Zeitungsartikel habe ich gelesen wie man aus einem bestimmten Blickwinkel das Wort „alt“ buchstabiert. A steht für arm. Denn Altersarmut ist ja keine Worterfindung, sondern Realität. Ich kenne Menschen, die mit einer Rente von sieben- oder achthundert Euro monatlich auskommen müssen. A steht für arm.
Der zweite Buchstabe im Wort „alt“, das L, steht für langsam oder lahm. Wer wollte bestreiten, dass wir im Alter langsamer werden beim Gehen oder Arbeiten, im Nachdenken oder Entscheiden. L steht für langsam, lahm oder gelähmt. Der dritte Buchstabe ist das T. Es steht für teuer, wenn ein alter Mensch Hilfe oder Pflege braucht. Als meine Mutter in ein Alten- und Pflegeheim kam, wurde uns eine Rechnung von über dreitausend Euro präsentiert. Die Pflegekasse übernahm nur einen Teil davon. Alt steht für arm, lahm, teuer. Das ist der eine Blick. Es gibt aber auch einen anderen Blick auf das Alter. In unserem Dorf haben wir uns vorgenommen, genau diesen Blick einzuüben: Alt heißt: A-L-T: am Leben teilhaben. Bis zum Schluss.
Musik: Pierrre Phalèse, La Rocque Galliarde (The Renaissance Dance Band)
Das Dorf, in dem ich seit dreiundzwanzig Jahren lebe, hat ungefähr achthundertfünfzig Einwohner. Etwas mehr als zweihundert davon sind alt. Manche alte Menschen leben mit ihrem Lebenspartner zusammen, andere alleine in ihrem Haus. Die erwachsenen Kinder sind ausbildungs- oder berufsbedingt woanders. Mir geht das auch so. Von sechs inzwischen erwachsenen Kindern ist der Jüngste daheim, und das auch nur noch für ein paar Wochen, bis sein Studium beginnt und er fortzieht.
Viele alte Menschen leben allein – oft in viel zu großen Wohnungen. Die konnte man ja beim Auszug der Kinder nicht einfach kleiner machen. So sitzen manche in ihrem Bauernhof, der einmal das Zuhause für eine Drei- oder Vier-Genarationenfamilie war. Alle haben Angst, dass sie irgendwann fallen und sich etwas brechen, dann ins Krankenhaus kommen, von dort ins Altersheim und dann erst im Sarg zurück in ihr Dorf.
Diese Sorge ist nicht unbegründet. Es gibt im Dorf kaum altersgerechte Wohnungen. In den alten Bauernhöfen ist nur der Kuhstall ebenerdig und barrierefrei, weil man wusste, dass Kühe keine Treppen steigen können. Aber im Wohnhaus ist alles ein paar Stufen höher oder tiefer – die Küche, der Flur, das Bad, die gute Stube - und dazu immer die Angst zu fallen. Mit meiner Mutter habe ich das auch erlebt, bis sie dann ins Altersheim kam. Ist das der einzige Blick auf das Alter? Alt heißt arm eben lahm, teuer? Wir wollen es anders. Wir wollen, dass Menschen leben und sterben, wo sie daheim sind – dass sie hier im Dorf bleiben können und am Leben teil haben bis zum Schluss.
Deshalb haben wir im vorigen Jahr einen Verein gegründet. Das Vogelsberger Generationennetzwerk, die Nachbarschaftsfamilie, nennen wir ihn. Inzwischen sind über hundertvierzig Menschen Mitglieder. Wir haben zwei seit Jahren leerstehende Häuser gekauft, eine frühere Schmiede, ein Bauernhaus mit Stall und Scheune. Wir hoffen, mit dem Ausbau der Gebäude zu einem Haus der Begegnung in diesem Jahr anfangen zu können. Da sollen sich dann die alten Menschen treffen und, wenn nötig, tagsüber betreut und gepflegt werden. Dort können sie zusammen kochen, essen, spielen und schwätzen. Einen Dorfladen soll es in diesem Haus geben, wo man zu Fuß hingehen und einkaufen kann und in einer Caféecke anderen begegnet. Auch ein paar altersgerechte und barrierefreie Wohnungen wird es geben für Menschen, die mit ihrem zu großen Anwesen oder altersfeindlichen Wohnung nicht mehr zurechtkommen.
Wenn man das Alter aus dem Blickwinkel der betroffenen Menschen sieht und nicht nur aus der Perspektive der Kosten oder der Brauchbarkeit, dann sieht es wirklich anders aus. Es geht um den annehmenden Blick, der den Menschen in seiner Situation wahrnimmt. Es geht um den Blick, der die Sehnsucht nach Glück und die Sorge ums Dasein erkennt. Dieser Blick begeistert uns in unserem Vorhaben.
Musik: Giovanni Gabrieli, Canzon prima, La Spiritata (Marais Cobsort)
Es hört sich vielleicht etwas merkwürdig an, dass sich in einem kleinen Dorf Menschen zusammentun, um für die Alten zu sorgen oder auch für das eigene Alter etwas zu tun. Wir haben uns in unserer Gesellschaft daran gewöhnt, dass wir Menschen nach ihrem Alter sortieren. Kinder gehen in den Kindergarten und die Schule, Auszubildende in Lehrstellen und Hochschulen. Und die alten Menschen gehen eben in Altersheime. Denn die Mehrgenerationenfamilie, in denen es früher auf Bauernhöfen oder in den Handwerksfamilien das Altenteil gab, ist nur noch die Ausnahme. Doch alte Menschen gewissermaßen altersbedingt auszusortieren, ist nicht gut. In dem Buch „Schöne Aussichten fürs Alter“ steht der zutreffende Satz: Wir müssen uns wieder auf die Suche nach der verlorenen Menschlichkeit machen. Die Ausgrenzung alter Menschen ist ein deutliches Zeichen davon.
In diesem Buch wird ein kleines italienisches Dorf beschrieben. In dem lebten nur noch ein paar alte Leute, und alle hatten dieselbe Befürchtung, dass sie irgendwann in weit abgelegene Altersheime müssten. Der Bürgermeister und der Pfarrer es Dorfes wollten es nicht soweit kommen lassen. Und so haben sie angefangen, für die alten Menschen in ihren Häusern kleine altersgerechte Wohnungen zu bauen. Sie sollten in der gewohnten Umgebung bleiben, solange es geht. Und sie sind glücklich und zufrieden, daheim sein zu können. Glückliche alte Menschen locken auch junge Leute. In Tiedoli – so heißt dieses italienische Dorf – gab es vor ein paar Jahren nur noch dreißig alte Leute. Inzwischen leben in der Dorfgemeinschaft über hundert Menschen aus vier Generationen. Für unser Projekt in meinem Vogelsbergdorf war Tiedoli ein Vorbild. Es hat uns begeistert.
Leidenschaft für unser Haus der Begegnung ist überall spürbar. Rüstige Rentner legen Hand an beim Ausräumen oder später beim Bau. Eigenleistung spart nicht nur Geld, sondern ist ein Zeichen dafür, dass wir unsere Lebenswelt selber gestalten. Wer sich einbringt, aktiv mitmacht, der fühlt sich hier auch daheim. Manche spenden für unser Projekt und sind so daran beteiligt. Und die Vision begeistert alle: Leben und sterben wo man daheim ist.
Musik: Vincenco Galilei. Kontrapunkt (Frankfurter Guitarrenduo)
Aus welchem Blickwinkel sehen wir das Leben und die Menschen an? Ist es ein liebevoll–annehmender Blick oder ist er eher beurteilend-taxierend? Diese Frage haben die Jünger Jesu gestellt, als sie mit ihm unterwegs waren. Sie treffen auf einen kleinen Jungen und sie fragen ihren Meister, so nannten sie Jesus: „Warum ist der blind geboren? Wer ist daran schuld? Hat er gesündigt? Oder vielleicht seine Eltern, und die Erblindung ist die Strafe dafür? Zurzeit Jesu vor fast zweitausend Jahren haben Menschen gemeint: Krankheiten sind eine Folge von Sünde und Schuld. Da lag die Frage sehr nahe: Wer ist denn nun schuld und wird dann mit der Krankheit bestraft?
So einfach, beinahe magisch, denken und urteilen wir heute nicht. Und doch ist die Frage nach der Schuld nicht ganz verschwunden. Manchmal wird sie zum Urteil. Wer zu viel raucht, kriegt eben Lungenkrebs. Wer zu viel Alkohol trinkt, verliert den Verstand. Wer zu sehr rast, landet mit seinem Motorrad am Straßenbaum. Wer fremdgeht, verliert den Partner. Also: selber schuld. Man kann nicht bestreiten, dass es für jeden Menschen eine Selbstverantwortung gibt für sein Verhalten, auch für seine Gesundheit. Doch dem Betroffenen hilft es nicht, wenn so geurteilt oder ihm selbst die Schuld zugewiesen wird.
Jesus sagt seinen Jüngern klar: Weder der Blinde hat gesündigt, noch seine Eltern. Die Frage nach der Schuld ist unwichtig. Es gilt, ihm zu helfen. Jesus sieht diesen blinden Menschen liebevoll an. Er nimmt ihn an und urteilt nicht. Hilfe geht vor Urteil, Annahme vor Schuldzuweisung. Dieser Mensch mit seinem Schicksal, blind zu sein, mit seiner Sehnsucht nach einem heilen und gelungenen Leben steht im Blickpunkt. Die Geschichte der Bibel geht weiter. Jesus nimmt etwas Erde in die Hand und vermischt diese mit Spucke. Diesen Brei legt er dem blinden Jungen auf die Augen. Dann sagt er zu ihm: „Geh an den Teich und wasch dir die Augen aus.“ Und der Junge konnte sehen.
Wir wissen nicht wie das mit der Heilung vor sich ging. Es ist aber ganz klar, dass Jesus diesen Menschen mit seinem Leiden in den Mittelpunkt stellt und nicht die Frage nach der Schuld, mit der die anderen über ihn diskutieren. Und schließlich heißt es in der Geschichte: Was da geschieht, ist ein Zeichen dafür, wie Gott wirkt. Licht überwindet Finsternis. Wo der Mensch in den Blick rückt – so wie er ist – mit seiner Sehnsucht nach Glück oder seinem ertragenen Leid, da ist Gott offensichtlich nah. Das hört sich ganz einfach an. Freilich ist das Leben nicht immer so einfach. Wir begegnen uns oft genug nicht gerade liebevoll und annehmend, sondern eher urteilend und festlegend.
Ich kenne beides. Manchmal gelingt es mir, Menschen anzunehmen, so wie sie sind. Und dann gibt es auch die andere Erfahrung: Da hat mich jemand verletzt. Nun habe ich eine ablehnende Meinung über ihn, weise ihm die Schuld dafür zu, dass es zwischen uns nicht klappt. Oft genug erscheint uns das Leben als verletzt, kaputt, fragmentarisch und nicht heil oder ganz. Doch die Sehnsucht danach, dass man sich angenommen fühlt, die hat jeder.
Es kommt auf den Blickwinkel an, aus dem man das Leben betrachtet. Wir wollen: Den liebenvollen und annehmenden Blick sollen auch die alten Menschen in unserem Dorf spüren. Deshalb wollen wir, dass sie mit ihren Fähigkeiten und Mühen in die Dorfgemeinschaft gehören und hier bleiben. Es geht darum, in der Gemeinschaft angenommen zu sein. Das gilt für einzelne Menschen, die sich begegnen. Das gilt auch für die verschiedenen Generationen, die in einem Dorf zusammen leben. Wie kann ich diesen Blick einüben? Mir helfen Sätze von der Familientherapeutin Virginia Satir. Für mich sind sie ein Gebet.
Ich möchte mit dir offen reden
Ohne dich zu verletzen;
Ich will dich annehmen
Ohne dich zu verurteilen;
Ich will dich lieben,
ohne mich an dich zu hängen;
ich will von mir reden,
ohne dir damit lästig zu werden,
und von dir weggehen
ohne Schuldgefühle zu haben.
Ich will dich kritisieren,
ohne dich anzuklagen,
dir helfen, ohne dich zu brauchen.
Wenn ich dasselbe von dir haben kann,
werden wir uns gegenseitig bereichern.
Wie gute Freunde werden wir sein
und Gott geht mit.
Musik: Pierre Phalèse, Galliarda (The Renaissance Dance Band)