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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Frankfurt am Main

Das verpönte Gefühl: Der Neid

Das verpönte Gefühl: Der Neid

Er ist scheinbar überall zu finden. Es gibt kaum ein Gut, das ihm nicht begehrenswert ist: Schönheit, Erfolg, Macht, soziale Anerkennung oder Reichtum können ihn auslösen. Wie ein Gift kann er Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Freundinnen und Freunden oder zwischen den Generationen zerstören. Ich spreche vom Neid. Neid durchzieht das menschliche Zusammenleben  wie kaum ein anderes Gefühl. Allerdings wird kaum darüber gesprochen.

In der Regel sind es immer die anderen, die neidisch sind. Man selbst hat mit dem gelbäugigen Monster und seinem scheelen bösen Blick ja nichts zu tun. Denn der Neid gilt in seiner feindseligen Spielart als ausgesprochen hinterhältig und bis zu Mord und Totschlag traut man ihm alles zu.

Bereits auf den ersten Seiten der Bibel ist vom Neid die Rede. Nachdem  Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben worden waren, mussten sie „im Schweiße ihres Angesichts“, wie es da heißt, ihr Leben meistern. Als Hirten und als Ackerbauern. Ihre beiden Söhne, der zuerst geborene Kain und sein Bruder Abel verkörpern diese beiden Wege. Abel wurde Schäfer und Kain Ackerbauer.

Und nun rückt diese alte biblische Erzählung das neidische Verhalten ins Zentrum. Denn Kain möchte haben, was Abel erhält: die besondere Zuwendung Gottes. Dass Gott das Opfer des Schafhirten mehr beachtet als das des Ackerbauern Kain, macht diesen wütend. Er ist neidisch auf die Bevorzugung des jüngeren Bruders Abel und empfindet sie als höchst ungerecht. Wie in einem amerikanischen Western steht hinter diesem Neid auch der Konflikt zwischen Cowboys und Farmern. Beide wollen und brauchen fruchtbare Erde. Die einen für die Weide, die anderen für den Acker. Angesichts des begrenzten Nutzlandes ist der Konflikt zwischen ihnen vorprogrammiert.

Doch den beiden Brüdern geht es nicht in erster Linie um Landverteilung, die oft genug zu Konflikten führen kann, sondern um Gottes unbegründetes Verhalten. Er schenkt dem Abel seine Aufmerksamkeit, die sich Kain sehnlich für sich wünscht. Welche Mutter und welcher Vater kennt die Eifersucht und den Neid unter ihren Kindern nicht, weil die eine oder der andere sich zurückgesetzt fühlt? Besonders die Erstgeborenen wie Kain nehmen die Geburt eines Bruders oder einer Schwester als Bedrohung ihrer privilegierten Stellung gegenüber den Eltern wahr. Sie verhalten sich gegenüber den neugeborenen Konkurrenten oft genug ausgesprochen feindselig und abweisend.

Zum heutigen Muttertag gehören daher auch die Geschichten über den Neid unter Geschwistern, weil die Mutter sich nun einmal nicht in genau gleicher Weise jedem ihrer Kinder im Laufe ihres Lebens liebevoll zugewandt hat. Aus oft völlig unbekannten und unterschiedlichsten Gründen erfährt das eine Kind mehr Anerkennung als das andere. Dies kann zu lebenslangem Neid führen. Und zu einer Eifersucht, die sich immer wieder aus dieser Kränkung speist.

Bei Kain führt diese Ungleichbehandlung durch Gott nicht nur zu einem Neidgefühl. Kain „ergrimmte“ – so heißt es in der Bibel. Er „ergrimmte und senkte finster seinen Blick“ und dann schlägt er  Abel tot. Aber durch diese entsetzliche Tat geht es ihm auch nicht besser. Er wird zum Flüchtling, der unstet umherzieht und die Rache fürchten muss. Erst Gott beendet die schrecklichen Folgen seines Neides, indem er ihn auszeichnet und zum ersten Städtegründer werden lässt.

Neid macht unglücklich, unzufrieden und rastlos. Aber trotz dieser paradoxen Wirkung ist er nicht aus der Welt zu schaffen. Weil er so tief in den Menschen und ihrer Geschichte verankert ist, scheint es schwer zu sein  darüber zu sprechen. Neidisch zu sein gilt als verpönt, obwohl die meisten dieses Gefühl sehr gut kennen. Niemand gesteht sich gerne ein solches neidvolles Verhalten ein. Es gilt als missgünstig, macht eher mürrisch und ist ausgesprochen uncharmant. Doch wer nicht über den Neid bei sich spricht, der ist ihm umso mehr ausgeliefert.

Musik: Bruce Montgomery, Concerto for string orchestra, Satz 1, Moderato quasi allegro, Royal Ballet Sinfonia unter David Iloyd-Jones

Neid entsteht vor allem in Situationen größter sozialer Nähe. Die größten Neider sind Verwandte, Freunde und Nachbarn. „Womit hat der oder die das verdient? Was hat er oder sie, das ich nicht habe? Wie er lächelt, wie er sich freut! Umbringen könnte ich ihn!“ Vernünftigen Argumenten ist der Neid in der Regel nicht zugänglich. Die Bibel erzählt eine Vielzahl solcher Neidgeschichten: zwischen den Zwillingsbrüdern Jakob und Esau, zwischen Joseph und seinen älteren Brüdern, die ihn als Sklaven verkaufen , zwischen Saul, dem ersten und David, dem zweiten König Israels, zwischen den Schwestern Maria und Martha, bei denen Jesus zu Gast ist. Und schließlich in der Geschichte, die Jesus vom  verlorenen Sohn erzählt, dessen Bruder neidisch darauf blickt, wie ihr Vater eben diesen verloren geglaubten Sohn voller Liebe wieder zu Hause willkommen heißt. Stets geht es um Gunst und Missgunst, um das Gefühl, benachteiligt und ungerecht behandelt worden zu sein.

In der Antike war es besonders gefährlich für die Menschen, den Neid der Götter zu erregen. Denn sie konnten – so glaubte man –  so launisch und so niederträchtig wie die Menschen sein. Wer ihre neidischen Blicke auf sich zog, musste mit den schlimmsten Bestrafungen rechnen. Deshalb wurden unterschiedliche Strategien der Neidvermeidung entwickelt:  maßvolles Leben, nicht all zu sehr auffallen. Demut und Bescheidenheit galten dann als Tugenden, um den neidvollen Blicken der Götter zu entgehen. Oder mit den Worten Friedrich Schillers aus seinem Gedicht „Der Ring des Polykrates“: „Mir grauet vor der Götter Neide, des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil.“

Doch wer durch sein Verhalten Neid vermeiden will, entfaltet kaum seine Begabungen und Stärken. Er tut sich nicht hervor, leistet nichts Besonderes, sucht nicht sein Glück, setzt sich nicht in Szene oder strebt nicht nach Erfolg oder öffentlicher Anerkennung. So paradox es klingen mag: während der Einzelne oft unter dem Neid und seinen Folgen leidet, profitiert eine Gesellschaft auch vom Neid, denn dieser setzt Energien frei und beflügelt Kreativität und Leistungsfähigkeit. Feindselig und eifersüchtig kann der neidische Blick auf die Erfolgreichen gerichtet sein. Er kann aber auch Ansporn und Motivation für eigene neue Bemühungen sein.

Diese Unterschiede, mit Neid umzugehen, können sogar die Mentalität ganzer Völker unterschiedlich prägen wie der folgende Witz zeigen will. „Geht ein US-Amerikaner mit seinem Freund spazieren. Kommt ein großer Cadillac vorbei. Sagt der Amerikaner zu seinem Freund: „So einen Wagen fahre ich auch noch mal“ – Geht ein Deutscher mit seinem Freund die Straße entlang, fährt ein großer BMW vorbei. Sagt der Deutsche zu seinem Freund: „Der Typ geht auch noch mal zu Fuß!“ Während der Amerikaner dem Beneideten sein Gut gönnt und für sich selbst zum Ziel seines Handelns macht, wünscht der Deutsche dem Besitzer Schlechtes, weil er es für sich wahrscheinlich für unerreichbar hält. Neid kann durchaus auch die Anerkennung des Anderen und seiner Leistung einschließen und muss nicht unbedingt feindlich gegen ihn gerichtet sein. Die Gewalt und der Hass, die Vernichtungsphantasien gegenüber den Beneideten können verschwinden und einer ehrlichen und friedlichen Konkurrenz Platz machen. So kann Neid entgiftet werden.

Musik: William Blezard, Duetto, Royal Ballet Sinfonia unter David Iloyd-Jones

Die intensivsten Neidreaktionen entstehen allerdings dort, wo es um Liebe und Gerechtigkeit geht. Eifersucht entspringt dem Gefühl, nicht genügend geliebt zu werden im Vergleich zu anderen. Neidisch werden diese beäugt. Da die Liebe immer einen Geliebten auswählt, stellt sich bei Nichtwahl immer die Frage: warum er oder sie und nicht ich? Traurig und unzufrieden, aber auch voll Neid, bleibt der Ungeliebte zurück.

Was Einzelne betrifft, das gilt auch für Völker und Glaubensgemeinschaften. Eine Quelle der christlichen Feindschaft gegen das jüdische Volk ist der Neid, dass es als Gottes geliebtes Volk unter den Völkern von ihm ausgewählt worden ist. Israel ist und bleibt die erste Liebe Gottes. Mit diesem Vorrecht Israels kommen die anderen Völker nicht zurecht. Statt diese Liebe zu respektieren, wird den Juden alles Schlechte zugeschrieben. Sie werden verleumdet, diskriminiert und unterdrückt. und ihm gewünscht. Denn wenn es um die Liebe geht, dann kann sich der Neid sehr schnell in tödlichen Hass verwandeln.

Als am 10. Mai vor 80 Jahren in Deutschland auf den Scheiterhaufen der Marktplätze die Bücher unzähliger Autorinnen und Autoren verbrannt wurden, da war dies nur ein schauriges Vorspiel der Vernichtung, die vor allem das jüdische Volk treffen sollte. Im Schein der Feuer loderte der hasserfüllte Neid der Nationalsozialisten auf alles, was in ihrer Vorstellung „undeutscher Geist“ war. Die Klugheit und die Phantasie, der Reichtum ihrer Sprache und die Freiheit des Denkens der Autorinnen und Autoren der verbrannten Bücher waren den neiderfüllten Nationalsozialisten ein Dorn im Auge. Sie wollten vernichten, was ihrer Dummheit und ihrer Dumpfheit haushoch überlegen war.

Besonders betroffen waren jüdische Autorinnen und Autoren. Wieder einmal hatte sich Kain gegen Abel erhoben. Wieder einmal triumphierte der Terror über die Freiheit und das Recht der anderen. Doch vom Neid auf die Juden und die Intellektuellen wurde nicht gesprochen. Der deutsche Rasse- und Reinheitswahn war so von sich selbst überzeugt und in sich verblendet, dass er den Neid in den eigenen Augen nicht wahrnehmen konnte. Man selbst war – so dachte man – schließlich das rassisch ausgezeichnete und erwählte Volk. Aber genau diese aberwitzige Vorstellung lässt den Neid erkennen, den die Nationalsozialisten in ihrem Antisemitismus empfanden. Sie wollten an die Stelle der Juden treten, deshalb waren sie auf diese neidisch und wollten sie vernichten.

Auch die christliche Judenfeindschaft hat ihre Wurzeln im Neid auf das erwählte Volk. Weil man selbst an die Stelle der Erwählten treten wollte, mussten diese enterbt, verfolgt und an den Rand gedrängt werden. Die Christen verhielten sich Jahrhunderte lang wie neidische Geschwister, die mit bösem Blick auf die Juden als erste Liebe Gottes schauten. Sie gönnten ihnen den Bund mit Gott nicht: seine Weisung zum Leben, seine Güte und Barmherzigkeit. Deshalb wurde den Juden Selbstgerechtigkeit, Arroganz und Hinterlist unterstellt. Der Neid hatte das Herz und die Gedanken der christlichen Kirche vergiftet. Dieses Gift wirkt bis heute. Ein Gegengift wäre Großherzigkeit und die Anerkennung der Tatsache, dass die erste Liebe immer die erste Liebe bleibt. Sie ist durch nichts auf der Welt ersetzbar. Man kann auch als zweite Liebe dankbar und zufrieden sein. Sie ist nämlich der ersten Liebe weder unterlegen noch überlegen.

Musik: Gerald Finzi, Prelude, Royal Ballet Sinfonia unter David Iloyd-Jones

Großzügig den anderen gönnen, was man selbst begehrt und nicht hat und dankbar anerkennen, was man hat: so könnte der eigene Neid begrenzt und seine schlimmen Folgen wie Hass, Geiz und Gier vermieden werden. Neid galt in der alten Kirche als die Todsünde schlechthin, denn er zerstört das Vertrauen zu Gott und zu den Mitmenschen. Bereits die Schlange in der biblischen Paradiesgeschichte macht sich den Neid zunutze, als sie die Menschen verführt. Die Schlange verspricht „Ihr werdet sein wie Gott!“, weil sie spürt,  dass die Menschen eher selbst Gott spielen wollen als sich vertrauensvoll auf ihn zu verlassen. Seiner Güte begegnen sie mit Misstrauen, seiner Gerechtigkeit mit dem Verdacht, nicht gerecht genug behandelt zu werden. Denn Gott wendet sich nicht in gleicher Weise allen zu, sondern schaut darauf, was die Einzelnen nötig haben.

Jesus macht dies in einem Gleichnis deutlich. Als die Arbeiter im Weinberg nach einem langen Tag der Mühe feststellen müssen, dass sie den gleichen Lohn erhalten, wie diejenigen, die nur eine Stunde gearbeitet haben, empfinden sie dies angesichts der erbrachten Leistung als ungerecht. Doch der Weinbergbesitzer weiß, dass alle den vorher vereinbarten Lohn zum Leben brauchen. Daher sagt er zu einem der Arbeiter, die sich bei ihm beschweren: „Bist du etwa neidisch, weil ich gütig bin?“ Bewundernswert souverän entscheidet Gott nach den Bedürfnissen und nicht nach der Leistung. Er gibt, was die Menschen brauchen und dann ist für alle genug da. Die berechtigten Forderungen, alle an den lebensnotwendigen Gütern teilhaben zu lassen, haben mit Sozialneid nichts zu tun. Bei allen sozialen Unterschieden ist die Befriedigung der Grundbedürfnisse schlicht ein Menschenrecht.

Neid scheint die Welt zu beherrschen und ein wirksames Heilmittel gegen ihn steht aus. Doch wer im Vertrauen auf Gottes Güte lebt, der weiß sich getragen von einer Liebe und Gerechtigkeit, die dankbar sein lässt für die Gaben und Begabungen, die das eigene Leben bestimmen. Der wird auch die positiven Kräfte nutzen, die der Neid freizusetzen vermag, ohne von zerstörerischen Gefühlen beherrscht zu werden. „Ich beneide dich um deine Zufriedenheit oder Gelassenheit,  auch  dein Ferienhaus oder einen anderen Besitz.“ Aus dieser Dankbarkeit für Gottes liebevolle Zuwendung kann ich gleichzeitig bewundern und auch gönnen, was ich nicht habe, aber auch gerne hätte.

Die aggressiv Neidischen halten den Vergleich nicht aus. Sie können die Unterschiede zwischen den Menschen nicht akzeptieren. Großzügig mit dem eigenen Neid umzugehen, ihn nicht zu verschweigen und zu verdrängen, sondern umzuwandeln in ein Gönnen – das wäre ein erster Schritt seinen feindlichen Regungen entgegen zu wirken. Zu wissen, dass Gottes Barmherzigkeit auch den Neid, den man so gerne verstecken möchte, erträglich macht, hilft mit ihm zu leben.

Musik: Giuseppe Verdi, Quartetto in mi minore, Satz 4, Scherzo. Fuga, Kammerorchester Arcata Stuttgart unter Patrick Straub