hr2 MORGENFEIER
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Krebs, Stephan

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Langen

Adventshoffnung im Klang der Lieder

Adventshoffnung im Klang der Lieder

Ryan Harris ist 20 Jahre alt. Der Junge mit dem sympathischen Gesicht und den dunkelblonden Haaren ist Fischer in Alaska. Nie wird er vergessen, was er im letzten Jahr erlebt hat. Und auch mich rührt seine Geschichte bis heute tief an. Ryan Harris war an diesem Tag draußen auf dem Meer, zusammen mit seinem Kollegen. Trotz rauer See. Zu rauer See. Ihr Fischerboot war dem stürmischen Meer nicht gewachsen, es sank. Die beiden Fischer gingen von Bord. Ryans Kollege hatte sich einen Überlebensanzug überstreifen können und wurde nach einiger Zeit an ein Ufer getrieben. Ryan Harris konnte in dem aufgewühlten Meer eine von Bord gespülte Plastikkiste packen. Sie war etwa einen Meter breit, lang und hoch. Gerade groß genug für ihn um sich hinein zu kauern und ihn über Wasser zu halten. So trieb der junge Mann 26 Stunden lang alleine auf offener See. Einen langen Tag lang und noch eine lange Nacht dazu. Dann entdeckte ihn ein Hubschrauber der Küstenwache und rettete ihn. Als er gefragt wurde, wie er das ausgehalten hat, sagte er: „Ich habe Weihnachtslieder gesungen und mir Mut zugesprochen.“

Diese Antwort hat mich tief bewegt. Ich stelle mir den jungen Mann vor, hilflos und verlassen in seiner Kiste. Spielball hoher Wellen. Der stürmische Wind treibt dunkle Wolken über den Himmel. Vermutlich hat es geregnet. Kein Land ist in Sicht. Und keine Schiffe am Horizont. Kein Retter weit und breit. Stunde um Stunde. Es ist kalt und nass. Und er weiß nicht, ob er am Ende in seiner Kiste sterben oder überleben wird.

Ryan kämpft um sein Leben, indem er Weihnachtslieder singt. Dabei spürt er ihre Kraft, ihr Hoffnungspotenzial. Ich weiß nicht, welche Lieder er gesungen hat. Aber bestimmt ist ein Lied dabei, ein Klassiker, den wohl jeder Junge im englischsprachigen Raum zu singen lernt. Es heißt: „I saw three Ships“. Auf deutsch: „Ich habe drei Schiffe gesehen“. Was könnte sich jemand, der hilflos in einer Kiste auf dem offenen Meer treibt, mehr wünschen als das: drei Schiffe sehen. Der Text lautet, zusammen gefasst, so:

„Ich sah drei Schiffe kommen, am Weihnachtstag segelten sie, in den Morgen hinein. Und auf diesen drei Schiffen? Unser Heiland Christus und seine Mutter. Was glaubst du, wohin segeln sie, diese drei Schiffe, am Weihnachtstag? Nach Bethlehem segeln sie. Die Glocken auf der Erde sollen läuten. Und die Engel sollen singen. Und alle Seelen auf der Erde sollen singen. Dann, am Weihnachtsmorgen, lasst uns alle jubeln.“

Musik: „I saw three ships“

I saw three ships – Ich habe drei Schiffe gesehen – auf dem Weg nach Betlehem – das ist ein merkwürdiges Adventslied. Betlehem, der Geburtsort von Jesus, liegt nicht an der Küste, auch nicht an einem größeren Fluss. Er ist mit Schiffen gar nicht zu erreichen. Allenfalls mit Wüstenschiffen, mit Kamelen wie sie die Weisen aus dem Morgenland vermutlich benutzt haben, um zum Stall zu reiten und Jesus zu sehen.

Aber darum geht es auch gar nicht. Adventslieder entfalten keine erdkundlichen Weisheiten. Die Lieder greifen uralte Hoffnungsbilder auf. Und in England, der alten Seefahrernation, sind Schiffe so ein Hoffnungsbild. Ganz besonders gilt das für Ryan Harris, den jungen Fischer aus Alaska, als er in seiner offenen Kiste auf dem offenen Meer trieb. Wer sich wie ein Spielball der Wellen fühlt, für den ist ein Schiff ein elementares Hoffnungsbild.

Ein ähnliches Adventslied gibt es auch im deutschen Sprachraum. Sein Titel lautet: „Es kommt ein Schiff geladen“. Das Lied singt von einem Schiff, das friedlich seine Bahn zieht. Offenbar auf einem ruhigen Meer. Komponiert und geschrieben wurde das Lied schon 1624. Damals trieben dickbauchige Handelschiffe über die Meere. Getrieben von großen Segeln. Kleinere Schiffe wurden auch die Flüsse hochgezogen. Damals war das noch die bequemste und sicherste Methode zu reisen. So sind die Schiffe auch den Rhein hoch gefahren, an Köln entlang, wo die Melodie des Liedes entstand, und weiter nach Straßburg, wo Daniel Sudermann den Text schrieb. Doch dem Dichter geht es in seinem Lied nicht um diese alten Frachtsegler. Sein Schiff trägt etwas ganz anderes.

Musik: „Es kommt ein Schiff geladen“ Strophen 1+2

Das Schiff in diesem Lied hat seinen Heimathafen im Himmel. Nicht den, wo Flugzeuge ihre Streifen ziehen. Sondern den Himmel jenseits von Raum und Zeit, den nur Gläubige haben, weil sie dort Gottes Heimat vermuten. Von dort ist das Schiff ausgelaufen und hat Kurs auf die Welt genommen. Es ist voll beladen, es trägt Jesus Christus, den Sohn Gottes. Ruhig und sicher zieht dieses Schiff seine Bahn. Angetrieben wird es von Gottes Verlangen, den Menschen nahe zu sein.

So entfaltet das Lied ein mystisches Bild von Gott als Schiff, unterwegs zu den Menschen. Gott ist der tragende Rumpf, der Mast ist der Heilige Geist, das Segel die Liebe. Und der Reisende darauf ist Gottes Sohn. Der dreieinige Gott, hier dargestellt als Schiff. Dann erreicht dieses Schiff sein Ziel. Der Anker fällt. Das Schiff Gottes ist in der Welt angekommen. Ankunft – lateinisch: Advent: Gottes Sohn kommt zur Welt. Er wird Mensch und damit wird es Weihnachten.

Musik: „Es kommt ein Schiff geladen“ Strophe 3

„Gottes Sohn ist uns gesandt.“ Was findet er vor, wenn er ankommt? Er trifft auf viele Menschen, die mit ihrem Alltag gut beschäftigt sind. Viele leben tapfer ihr Leben, doch nicht wenige fühlen sich dabei innerlich leer. Und in stillen Momenten fragen sie sich: Wohin und wozu das alles? Dann tasten sie den Horizont ab und überlegen, was dahinter wohl noch kommen mag. Sie wünschen sich, dass Gott sie umfängt wie ein bergender Schiffsbauch. Wie Schiffe sind deshalb auch die alten Kirchen gebaut, und so heißen sie auch: Kirchenschiff. In ihnen sollen sich Menschen geborgen fühlen können.

Geborgen werden. Danach hat einer sich ganz besonders gesehnt: Ryan Harris, der 19jährige Fischer aus Alaska, der hilflos in seiner Plastikkiste hockte. Draußen auf dem offenem Meer. Nur ein paar Zentimeter entfernt vom nassen Tod singt er Weihnachtslieder. Er schwankt zwischen Hoffen und Verzweifeln. Seine Sehnsucht: Gerettet werden aus dieser Lage. Und sicher sind seine Gedanken dabei in zwei Richtungen gewandert. Erstens: Gerettet werden in die Welt. Gerettet von einem Schiff mit Menschen, die ihn zurück holen in den Alltag. Und zweitens: Gerettet werden von der Welt – dem nassen Tod entrissen und heimgeholt werden in den Himmel Gottes. Wenn Weihnachtslieder von Rettung erzählen, dann schwingt immer beides mit: Jesus, rette uns für die Welt! Und: Jesus Christus, rette uns von der Welt! So ist das auch in dem Lied „Es kommt ein Schiff geladen“. Die letzten drei Strophen verlassen das Bild vom Schiff und sprechen Klartext.

Musik: „Es kommt ein Schiff geladen“ Strophen 4-6

Einfach ist die Hoffnung nicht, die dieses Lied anspricht. Diese Hoffnung muss sich durch Leiden bewähren und sie entfaltet sich voll erst im Tod. Dazu steht die Melodie in merkwürdiger Spannung. Sanft und gepflegt wird sie in den Weihnachtstagen gesungen. Mit einem Hauch von schöner Melancholie. Wie die Filmmusik für ein paar heile Stunden, in denen alles möglichst schön sein soll.

Doch das Leben ist oft anders. Nicht immer so extrem in Gefahr wie das von Ryan Harris, dem Fischer in Alaska. Aber Schiffbruch wie er, das erleiden viele andere auch. Das erleben Menschen, die in die Armutsfalle geraten. Die ist gar nicht so weit entfernt wie viele denken. Es kann schon genügen, dass die Arbeit verloren geht, die materielle Existenz bricht weg. Wenn dann noch etwas dazukommt, verliert man schnell den Boden unter den Füssen.

Oder die Familie zerschellt und geht unter. Zu spät merkt man, wie sehr sie einen immer gehalten hat. Und wie schwer es fällt, ohne sie das eigene Leben zu meistern. Mancher versinkt dadurch in eine dunkle seelische Tiefe. Oder die Gesundheit geht verloren. Man muss Abschied nehmen von vielem. Alles fokussiert sich auf die Krankheit und nichts ist mehr wie es vorher war. All das und manches mehr passiert vielen Menschen. Sie erleiden Schiffbruch und werden ins kalte Wasser geworfen. Dort können sie froh sein, wenn es eine Kiste zu greifen gibt, die sie über Wasser hält.

In einer solchen Lage kann die süßliche Weihnachtsmusik fast wie Hohn klingen. Aber so muss man sie ja nicht singen. Man kann sie so singen, wie einem zumute ist. Wenn ich verzweifelt bin, kann ich sie rau und laut hinausschreien – in der Hoffnung, dass Gott sie genau so hört. Dabei spricht mir ein Lied besonders aus dem Herzen. Denn seine Bilder sind alles andere als süßlich, sondern dramatisch. Klar und drängend ist seine Botschaft: Gott, hilf!

Musik: „O Heiland, reiß die Himmel auf“ Strophe 1

Dieses Lied fordert, verlangt, fleht: Heiland komm! Öffne die Tür zwischen Himmel und Erde! Und zwar mit einem lauten Knall, dass die Fetzen fliegen. Hol mich raus aus meiner engen Kiste, aus meiner Schmollecke, aus meiner Not, aus meinem Gefängnis! „O Heiland, reiß die Himmel auf“ - Das klingt nach Kraft und Freiheit.

So sind Adventslieder. Sie antworten auf menschliche Sehnsucht, indem sie Hoffnungsbilder entfalten. In diesem Lied geht es darum befreit zu werden. Welche Freiheit damit gemeint ist, das hat jeder beim Singen für sich vor Augen. Für den einen ist es die Plastikkiste auf dem stürmischen Meer, für andere die Schuldenfalle. Für den einen ist es seine aussichtslose Lage am Arbeitsplatz, für die andere die verfahrene Situation in der Familie. Andere schauen deprimiert auf die Welt, in der die Menschen zwar seit über 5000 Jahren Brot backen, es aber bis heute nicht so verteilen können, dass alle davon satt werden.

„O Heiland, reiß die Himmel auf“ – der es geschrieben hat wusste, wie es um die Welt steht: Friedrich Spee. Er schrieb den Text im Jahr 1622. Da tobte bereits seit vier Jahren der 30jährige Krieg, Christen gegen Christen, Nachbarn gegen Nachbarn. Und am Ende gab es nur Verlierer. Spee war katholischer Mönch. Als Jesuit kämpfte er um die Rückeroberung evangelischer Gebiete. In der Stadt Peine war er dafür verantwortlich und er wählte die Mittel seiner Zeit. Er stellte die Bevölkerung vor die Alternative: entweder katholisch werden oder weggehen. Heute würde man sagen: konfessionelle Säuberung. Doch es traf auch ihn: Er wurde überfallen und schwer verletzt. Ein Racheakt? Niemand weiß es.

Spee war nicht nur ein gehorsamer Machtmensch. Mutig stellte er sich gegen die Hexenprozesse, die zu seiner Zeit an vielen Orten stattfanden und deren Methoden er zutiefst ablehnte. Dafür überwarf er sich sogar mit seinem Orden und verlor seine Professorenstelle. Er war ein unruhiger Geist, der ein unruhiges Leben führte mit Stationen in Kaiserswerth, Trier, Fulda, Würzburg, Mainz, Paderborn, Speyer, Köln und zuletzt wieder in Trier. Klingt nach einem langen Leben. In Wahrheit starb er mit gerade einmal 44 Jahren, weil er sich beim Pflegen von verwundeten Soldaten und Pestkranken selbst angesteckt hatte.

Spee lebte in einer Zeit voller Gewalt und Ungerechtigkeit, voller Armut und frühem Sterben. Eigentlich wie heute, wenn man es weltweit betrachtet. Umso mehr zeigen seine Liedtexte, wie tief er im Glauben verwurzelt war. Für ihn, den Mystiker, war die Welt trotz allem ganz und gar durchdrungen von Gott. Die Verse seines Liedes sind getränkt mit dieser mystischer Hoffnung. Darin fleht er Jesus an, vom Himmel herunter zu fallen wie Regen und aus der Erde zu wachsen wie die Blumen. Einfach von überall her und überall hin soll Jesus kommen. Wie es auch den Schiffsbrüchigen egal ist, ob ihre Retter aus der Luft kommen oder über das Wasser. Hauptsache sie kommen.

Musik: „O Heiland, reiß die Himmel auf“ Strophen 2-3

Friedrich Spee, der Dichter dieses Liedes, war verstrickt in seine Zeit, wie es jeder in seine eigene ist. Drastisch ist für ihn der Unterschied zwischen der Welt und dem Himmel. Die Welt um ihn herum versinkt im Krieg. Der Himmel ist dagegen der Ort Gottes, wo alles ganz anders sein soll. Die Welt - ein Jammertal, der Himmel - ein Festsaal. So krass werden das viele heute nicht mehr sehen wollen. Bietet die Welt doch eine Menge angenehmer Orte. Aber nicht für alle. Auch heute noch gibt es genügend Menschen, die im Jammertal leben, weit entfernt von jeglichem Festsaal.

Spee fordert mit seinem Lied: Gott, rette die Welt! Doch Gott lässt auf sich warten. Die unheilige Geschichte nimmt ihren traurigen Verlauf. Drängend, geradezu vorwurfsvoll, fragt Spee: Wo bleibst Du Trost der ganzen Welt? Sei die Sonne, die unser dunkles Jammertal erhellt!

Musik: „O Heiland, reiß die Himmel auf“ Strophen 4+5

Dieses Lied macht deutlich: Der Advent beschränkt sich nicht darauf, die Vorfreude auf Weihnachten zu schüren. Advent, das lateinische Wort für Ankunft, meint mehr. Es greift weit über den Horizont des Lebens hinaus. Der Advent fragt: Wann und wie kommt Jesus, der Sohn Gottes, in die Welt? Er kommt zweimal. Einmal als Kind an Weihnachten, um uns für die Welt zu retten. Beim zweiten Mal kommt er als Weltenrichter, um uns von der Welt zu retten. Wie das sein wird, weiß niemand genau. Aber es gibt Ahnungen und Bilder davon. So besingt das Lied Gott als wärmende Sonne, den Himmel als einen Festsaal, als einen prunkvollen Raum für alle. Als Vaterland.

Musik: „O Heiland, reiß die Himmel auf“ Strophe 6

Das Großartige an diesen Hoffnungsbildern ist: Sie wirken sich nicht erst am Ende aus. Sondern bereits jetzt. Egal, ob man frierend in einer Plastikkiste auf dem Meer treibt und auf Rettung hofft. Oder ob die eigene Lebenskiste woanders durch das stürmische Leben treibt. Es gilt: Eine andere Zukunft wächst heran. Dafür gibt es viele große und kleine Zeichen. Das Lied „O Heiland reiß den Himmel auf“ ist so ein kleines Zeichen. Komponiert wurde es von einem katholischen Protestantenverfolger mitten im Krieg der Konfessionen. Heute ist es ein ökumenisches Lied. Es steht sowohl im Evangelischen Gesangbuch als auch im katholischen Gotteslob. Christen verschiedener Konfessionen singen es zusammen. Ein Stück Frieden ist gewachsen. Mehr davon wird kommen.

Musik: „Menuett/Rigaudon“ von Händel/Plüss