hr2 MORGENFEIER
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Eine Sendung von

Pfarrer, Berlin

„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

Heute ist Himmelfahrtstag. Es ist Feiertag, schulfrei, und morgen ist. Und ein Brückentag. Praktisch eigentlich, so ein verlängertes Wochenende. Heute ist Himmelfahrtstag. Oder Vatertag – wie es mancherorts heißt. Junge Männer ziehen mit Leiterwagen durch die Lande, auf der so viele Bierkästen wie möglich gestapelt sind. In Dresden und Umgebung sagt man: „Herrentag“. Und meint damit nicht den Tag, an dem der Herr Jesus gen Himmel gefahren ist, sondern die Herren, die das Bier in den Kästen austrinken werden.

Heute ist Himmelfahrtstag. Aber was – um Himmels willen – ist damit gemeint? Anfang des Jahres hat der Hessische Rundfunk eine Untersuchung mit dem Titel: „Was glauben die Hessen?“ vorgestellt. Danach wissen die meisten Hessen noch nicht einmal mit Ostern und Auferstehung etwas anzufangen. Und an einen persönlichen Schöpfergott glauben viele auch nicht. Und dann noch „Himmelfahrt“?

In Jerusalem, mitten in dieser trubeligen, lauten Stadt, wo einem an jeder Ecke etwas zu Jesus vorgeführt wird, zeigt man einen Ort, wo sich angeblich der Fußabdruck Jesu bei der Himmelfahrt findet. Einen Fußabdruck findet man noch, der andere Fuß war wohl gerade am abheben... Nein, so kann ich mich dem Sinngehalt dieses Tages kaum nähern. Am Himmelfahrtstag geht es um die Geschichte, dass Jesus nicht nur die Erde als Heimat hat. Er ist den Weg zum Himmel gegangen.  Und doch nah geblieben.  Himmelfahrt, das hat etwas damit zu tun: Nicht zu bleiben, sondern auf der Suche zu sein.

„Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebräer 13,14)

So beschreibt der Hebräerbrief im Neuen Testament sein himmlisches Bild. Ein Vers aus dem Hebräerbrief wie eine Zeile aus einem Gedicht. Eine Zeile, wie sie der Dichter Paul Celan geschrieben haben könnte, oder – vielleicht eher noch - Peter Huchel, etwa seinem Gedichtband „Chausseen Chausseen“. Wo ein analoges Gedicht lautet:

„Dieser Stein steht groß in seiner Stille und in der Mitte der Dinge die Trauer."

Rhythmus des Lebens. Ein kurzer Auftakt, zwei lang gezogene Linien, ein kurzer Abgesang. Im einen Fall, wo es um die zukünftige Stadt geht, die wir suchen -  ein Hoffnungsbild. Im anderen Fall, in der Zeile von Peter Huchel über den Stein in der Stille ist es ein Trauerbild. Beide sind getragen von einer tiefen Wehmut und zugleich einer tiefen Sehnsucht. Es ist wohl alles andere als zufällig, dass dieser Vers des Hebräerbriefes bis heute für viele Menschen wichtig ist: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“

Diese Worte treffen das Lebensgefühl unterschiedlicher Generationen. Die Alten, die noch bewusst Zeiten des Krieges, der Flucht und Vertreibung erlebt haben, haben den Vers wörtlich und buchstäblich am eigenen Leibe erlebt. Wenn Marion Gräfin Dönhoff von ihrer Kindheit berichtet oder Siegfried Lenz von Suleiken oder Günther Grass blechtrommelt, so erstehen diese vergangenen Städte und Landschaften für einen Moment wieder auf. Orte, die Heimat waren und doch für die Autoren keine bleibenden Stätten blieben.

Aber auch die junge, nachwachsende Generation Facebook findet sich darin wieder. Das Lebensgefühl beschreibt einer von ihnen so: Die Welt schrumpft zusammen zu einem Dorf. Ich fahre im einen Jahr rund um den Globus nach Australien und mache im nächsten meinen Freiwilligendienst in Cusco/Peru. Oder ich studiere für eine Weile in Sevilla und arbeite bei einer weltweit tätigen Firma. Und in all dem bin ich weg und gleichzeitig da. Selbst im fernen Kirgisistan bin ich jederzeit über E-Mail erreichbar und in Taschkent und Almaty gibt es ein Internet-Cafe, in dem ich skypen kann. Es ist, als ob diese Generation das lebt: „ Wir haben hier keine bleibende Stadt“.  Auf Wanderschaft, vielleicht manche auch auf Pilgerschaft. Den Pilger sind ja nicht ziellos. Sie suchen etwas.

Das Leben als Wandern, als Reise, als Pilgerweg. Das ist nicht nur ein ferner Gedanke der mittelalterlichen Bußpilger auf dem Weg nach Rom. Oder ein fast schon romantischer Atemzug der Sing-, Jugend-, und Wandervogelbewegung vor hundert Jahren, sondern ein zutiefst zeitgemäßes Lebensgefühl. Wie sonst wäre es zu erklären, dass die tot gesagten Pilgerwege fröhliche Urständ feiern? „Ich bin dann mal weg“ schallt es uns entgegen und Millionen von Menschen verschlingen den Schmöker von Hape Kerkeling. Das Leben als Wanderung, als Suche, als Sehnsuchtsraum.

Aber wonach sehnen sie sich, was suchen sie? Für die Alten waren es auch und gerade jenseitige Sehnsuchtsräume. Das Leben bot ja in aller Regel auch nicht allzu viel verheißungsvolles. Lang waren die Winter, schlecht die Heizung, karg das Essen, kurz das Leben.

Heute dagegen hat sich der Sehnsuchtsraum umgekehrt, nicht mehr im Himmel. Die meisten Menschen im alten Europa trauen sich gar nicht mehr, auf ein Jenseits zu hoffen. Sie versuchen alles, so viel wie möglich und noch viel mehr in das diesseitige Leben zu packen. Das Leben der Alten dauerte vielleicht 60 Jahre plus Gottes Ewigkeit; das Leben der Jungen dauert vielleicht 80 Jahre ohne Gottes Ewigkeit. „Tausend Orte, die sie sehen müssen, bevor sie sterben“ schallt es uns vom Buchmarkt entgegen. Eine zukünftige Stadt suchen heißt dann: „Ich war noch niemals in New York“, aber ich muss es unbedingt noch sehen, bevor ich sterbe. Das alte Sehnsuchtsbild des Hebräerbriefs von der zukünftigen Stadt hofft auf mehr.

Nichts gegen die Sehnsucht, noch die eine oder andere tolle Stadt zu sehen, bevor man zu alt ist. Doch der Hebräerbrief ist von einem anderen Hoffnungsbild getragen. Die zukünftige Stadt, die „Polis“ wie es im griechischen Urtext dieses Briefes heißt,  meint nicht Shanghai oder Brisbane oder Quito. Hier ist von der Stadt Gottes, der ultimativen, wenngleich jenseitigen Stadt die Rede. Wenn überhaupt sich ein Vergleich mit einer irdischen Stadt anböte, so wäre es Jerusalem, die Stadt auf dem Berge. Aber selbst dieser heiligste Ort der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam ist nur ein erster, unvollkommener Hinweis auf das „himmlische Jerusalem“, von dem in der Bibel so oft die Rede ist. Die zukünftige Stadt Gottes, das Neue Jerusalem, ist schlicht schön etwa in ihrer architektonischen Anmutung:

"Ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Frau für ihren Mann." (Offenbarung 21,2)

Sie ist aber weit mehr als nur schön. Sie zeichnet sich durch ihre ungetrübte Beziehung zwischen Gott und den Menschen aus:

"Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein." (Offenbarung 21,3)

Das ist Himmel. Das ist himmlisch nah. Nicht der gestirnte Himmel über uns, den die Engländer  'sky' nennen- Sondern die himmlische Stadt als Bezeichnung für die Nähe und Wohngemeinschaft Gottes mit den Menschen, die mit dem englischen Wort  'heaven' bezeichnet wird.  In diesem Bild wird ein Vorgeschmack des zukünftigen Jerusalem, des Himmels sichtbar. Fest gegründet auf dem lehmigen Boden der Gegenwart, wo mich so Vieles noch beschäftigt und gefangen hält, erhebe ich meinen Blick und erhasche einen Eindruck von Gottes Gegenwart und Zukunft, die auf mich wartet. Die Aussicht ist grandios. Ja, eigentlich schöner gar als die schönsten Ausblicke, die wir uns sonst in unsere irdischen Begrenztheit vorstellen können.

Die schönen irdischen Ausblicke sind aber wenigstens so etwas wie ein Vorgeschmack auf Zustände, die wirklich himmlisch sind. Ich versetze mich für einen Augenblick nach Mittelitalien, wo ich schon mal war, sagen wir Casciana Terme, Provinz Pisa. Ich setze mich auf einen Hügel, der nach Norden weist. Zu meinen Füßen ein kleiner Weingarten und ein paar knochige Olivenbäume auf einem Steinacker. In der Nähe der kleine Kurort. In der Ferne, mal im Sonnenlicht, mal im Halbschatten die Ebene des Arno. Saftige Maiwiesen. Felder. Pinien und Zypressenreihen, die sich abwechseln und die Landschaft zu einem einzigen großen Park gliedern. Über mir Cumulus-Wolken, die sanft von West nach Ost ziehen. Und in der Ferne die schneebedeckten Berge der Versilia, Seealpen. Ein Bild wie von einem holländischen Landschaftsmaler des 18. Jahrhunderts oder eines deutschen Italienfahrers einhundert Jahre später. Georg Büchner, an dessen 175. Todestag dieses Jahr gedacht wird,  geht mir durch den Sinn. Mit der Italiensehnsucht seines Prinzen Leonce im gleichnamigen Lustspiel:„Valerio, wir fahren nach Italien!“ Und doch: nur ein blasser Vorgeschmack auf die zukünftige Stadt von der Hebräer spricht. Lässt sich Größeres denken?

Das Bild von Menschen, die friedlich miteinander feiern in einer wunderbaren italienischen Landschaft - Vielleicht lässt sich  nach unseren irdischen Maßstäben kaum Größeres denken. Deshalb bleibt der Hebräerbrief in der Schlusszeile seines kurzen Gedichtes vorsichtig. Er sagt: Die himmlische Stadt „suchen wir“. Er sagt nicht: „finden wir“. Das ist der kleine, aber feine Unterschied zwischen den Neunmalklugen, die immer schon fertig sind, die immer schon gefunden haben, die die Weisheit mit Löffeln gefressen haben und felsenfest und unverbrüchlich wissen, wo es lang geht – und denen, die suchen. Auch denen, die Gott suchen. Es wäre manches viel einfacher,  wenn die Welt mehr Menschen kennen würde, die sich als Suchende verstehen. Die ein paar mehr Fragezeichen auf der Stirn haben – und ein bisschen weniger Ausrufezeichen. Und wenn gerade diese Fragenden, Suchenden sich in den Religionen und für die Religionen stark machen könnten!

Das biblische Zeugnis jedenfalls macht sich mit dem Hebräerbrief für die Suchenden stark. Ein Textzeuge nur: Der Apostel Paulus. In seinem legendären ersten Brief an die Korinther findet sich sein großartiges „Hohelied der Liebe“. Wie oft hören wir es etwa zu Trauungen! Leider werden die letzten Verse oft ausgelassen, wo es heißt:

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen wie ich erkannt bin.“ (1. Korinther 13,12)

Jetzt ein dunkles Bild. Dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt nur Stücke, dann das vollkommene Erkennen – von mir selbst und von den anderen. Da ist sie wieder: Die vorsichtige Haltung des Menschen, der sich bewusst ist, dass er auf der Suche ist. Dass all unser Trachten und Bemühen in diesem Leben vorläufig bleibt. Dass wir hier keine bleibende Stadt haben, sondern eine zukünftige suchen. Das wir uns gleichsam auf einer Fahrt zum Himmel befinden – aber eben noch nicht angekommen sind. Und deshalb gibt es nach der Musik noch einen Wunsch zum Himmelfahrtstag.

Wenn es einen Wunsch gibt für diesen Himmelfahrtstag 2012, so könnte er so lauten: Ich lasse mich mitnehmen vom großen Hoffnungs- und Sehnsuchtsbild des Hebräerbriefes. Ich versuche immer öfter mein Leben als eine Wanderung zu begreifen, auf der es weniger darum geht, einmal erworbenes zu halten, als vielmehr darum, immer neu zu neuen Gestaden aufzubrechen. Erich Fromms Alternative „Haben oder Sein“ ist ja an sich schon anspruchsvoll und erstrebenswert, denn oft bleibt es ja beim Haben und kommt nicht weiter. Aber vielleicht  könnte ich es sogar dann und wann ergänzen zu einem „Haben oder Werden“. Ich versuche, den Blick zu heben: Von den erdigen, manchmal auch glitschigen und schlammigen Abgründen, die mich umgeben, hin zu Gottes Ewigkeit. So, wie wenn ich auf einer Waldwanderung nicht nur die drei Meter Weges vor mir mit den Augen abtaste, sondern den Blick hebe auf die alten Buchen und Eichen, deren Stämme, Geäst und schließlich die Kronen, wo sich der Himmel Bahn bricht. Ich gestalte mein Leben und meinen Alltag so, dass er immer stärker einer Wanderung mit leichtem Gepäck ähnelt.

Es gibt wunderschöne Übungen, in denen man das ausprobieren kann. Die keine Fernreisen bedeuten, sondern nur ein paar Tage, vielleicht mit dem Rad.  Etwa entlang eines Flußlaufs: Main, Rhein, Lahn.  Das ist ein ganz eigenartiges Gefühl. Man nimmt sich seinen alten Drahtesel und zwei große Packtaschen. Da kommt alles rein, was zum Leben für eine Woche nötig ist. Anfangs denkt man: Wie soll das funktionieren? Es kann regnen, es kann stürmen, es kann heiß werden! Aber je länger je mehr stellt man fest, dass es für diese Zeit kaum mehr braucht, ja, dass sogar ein paar Klamotten sauber nach Hause zurückkommen. Und zuhause wieder angekommen, fragt man sich: Wofür umgibst Du Dich eigentlich mit so vielen Dingen, die seit dem letzten Umzug nicht mehr wichtig geworden sind?

Nicht, dass das allein schon Himmelfahrt wäre. Aber im Leben auf das Wesentliche zu schauen kann befreien für die Momente, in denen Gott mir „himmlisch nah“ kommt. Mögen sie immer häufiger werden!