Veni creator spiritus, komm, Schöpfer Geist - ein Lied, das die Welt umspannt
2012 ist Halbzeit, Halbzeit der Lutherdekade, die seit 2008 auf das große Reformationsjubiläum 2017 vorbereiten soll. Die Halbzeit mit dem Thema „Reformation und Musik“ soll ein großes Fest sein, ein Fest des Singens und Musizierens, ein Fest der Klänge und des Klingens.
So wandert eine Veranstaltungsreihe durch Deutschland. Sie heißt: „366 + 1 – Kirche klingt“: Jeden Tag gibt es irgendwo eine kirchenmusikalische Veranstaltung, ein Konzert, einen besonderen Musikgottesdienst. Von A wie Augsburg, wo die Konzertreihe am Neujahrstag begann, bis Z wie Zittau in Sachsen, wo sie am 31. Dezember enden soll, geben Kirchenmusiker und –musikerinnen ihr Bestes, um „Reformation und Musik“ zum Klingen zu bringen.
Musik in der Kirche, das ist ein Kennzeichen des Protestantismus von seinen Anfängen an. Martin Luther war ein großer Sänger und hat viele Lieder gedichtet. Allein 34 davon sind im Evangelischen Gesangbuch zu finden. Er hat wunderbare Worte über die Musik gesagt, zum Beispiel, dass die „Musica“ eine „Regiererin des menschlichen Herzens“ sei. Nichts sei auf Erden kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Fröhlichen traurig, die Verzagten beherzt zu stimmen denn die Musica. Deswegen beherrschten Christenmenschen die Kunst, „dass man ‚Te deum laudamus‘, ‚Dich, Gott, loben wir‘ singe, wenn es am übelsten gehe“.
Heute, am Sonntag nach Pfingsten, möchte ich ein Lied vorstellen, das vermutlich das älteste Lied ist, das in den Gesangbüchern steht, der lateinische Hymnus „Veni creator spiritus“, zu deutsch: „Komm, Schöpfer Geist“. Ein Lied, das mich fasziniert und berührt – nicht zuletzt durch seine Geschichte.
Der Text wird traditionell Rabanus Maurus zugeschrieben, der im 9. Jahrhundert Erzbischof von Mainz und Abt in Fulda war. Belegt ist der Hymnus dann in einer Predigt, die der franziskanische Bußprediger Berthold von Regensburg um 1250 gehalten haben soll. Dieser musste das Lied seinen Predigthörern und – hörerinnen ausdrücklich empfehlen:
„Es ist ein gar nützlicher Gesang, ihr sollt ihn desto gerner singen und sollt es alle mit ganzer Andacht und innigem Herzen hin zu Gott singen und rufen. Es ist ein guter und nützlicher Fund, und er war ein weiser Mann, der dasselbe Lied als erster erfand“.
Veni creator spiritus, komm, Schöpfer Geist, aus dieser einen Zeile ist ein wahrhaft ökumenisches Lied geworden, das alle Kirchenspaltungen überdauert hat und sich heute in den Gesangbüchern aller christlichen Kirchen und Konfessionen findet. Mehr noch:
Über viele Jahrhunderte erklang es bei allen wichtigen kirchlichen und weltlichen Feiern. Jedes neue Jahr, jedes Jahrhundert, jedes Konklave, jedes Konzil, jede Bischofs- oder Priesterweihe, jede Königs- oder Kaiserkrönung im Mittelalter hat mit diesem Hymnus begonnen. In der Abendmahlsliturgie hat er seinen Platz auch in den orthodoxen Kirchen, natürlich auch bei der Taufe und in ungezählten Gottesdiensten. In der anglikanischen Kirche gehört veni creator spiritus in die Liturgie der Bischofsweihe, und in den Kirchen reformierten calvinistischen Ursprungs nimmt der Hymnus einen Ehrenplatz in der Pfingstliturgie ein.
Er ist eine feierliche Herabrufung des Heiligen Geistes über die ganze Menschheit und alle Kirchen, ja über den ganzen Kosmos und das unendliche Universum. Veni creator spiritus, komm, Schöpfer Geist. Wenn wir es heute meist zu Pfingsten singen, werden wir hineingenommen in die lange Geschichte. Ganz aktuell wird es darüber hinaus meine eigene Bitte: Komm, Schöpfer Geist. Komm heute in mein Leben, in unsere Welt. Begeistere uns mit deiner Kraft.
Veni creator spiritus, der lateinische Hymnus muss übersetzt werden. Die wörtliche Übersetzung des lateinischen Textes lautet:
„Komm, Schöpfer Geist,
die Gesinnungen der Deinen besuche;
erfülle mit oberer Gnade
die Herzen, die du geschaffen hast!“
Diese wortwörtliche Übersetzung ist nie gesungen worden. Vielmehr haben sich Liederdichter des Textes angenommen und die lateinischen Worte dem Sinne nach in ihrer jeweiligen Zeit übersetzt. So Martin Luther 1524:
„Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist,
besuch das Herz der Menschen dein,
mit Gnaden sie füll‘, denn du weißt,
dass sie dein Geschöpfe sein.“
Oder Angelus Silesius 1668:
„Komm, Heilger Geist, o Schöpfer du,
sprich den bedrängten Seelen zu:
erfüll mit Gnaden, süßer Gast,
das Herz, das du geschaffen hast“.
Schließlich Johann Wolfgang von Goethe 1820:
„Komm, Heiliger Geist, du Schaffender,
Komm, deine Seelen suche heim!
Mit Gnadenfülle segne sie,
Die Brust, die du erschaffen hast!“
Veni creator spiritus, komm, Schöpfer Geist, alle Übersetzungen, so verschieden und zeitbedingt sie sind, vermitteln, dass es um den Glauben geht, und zwar um den Glauben als Geschenk, als Gabe Gottes, um die wir bitten können.
In der von Berthold von Regensburg überlieferten Predigt und bei Martin Luther ist der alte Hymnus vorwiegend ein Begräbnislied. Es geht um den Glauben in der Stunde des Todes. Man glaubte, der Teufel würde auf sehr hinterhältige Weise versuchen, die Menschen in der Stunde des Todes vom Glauben abzubringen. Er wolle nicht, dass die Menschen das Himmelreich sehen, das er selber verloren hat. Deshalb war in den Klöstern Sitte, dass bei Sterbenden alle Lebenden zusammen kamen und ihm oder ihr das Glaubensbekenntnis vorsprachen. Dann sollte mit Andacht gesungen werden: Veni creator spiritus, komm, Schöpfer Geist.
Diese Vorstellung, dass es in der Stunde des Todes darauf ankommt, den rechten Glauben zu behalten, ist uns heute eher fremd. Die letzte Stunde, möglicherweise ja auch getrübt oder ohne Bewusstsein erlebt, wird nicht so entscheidend mit dem Glauben in Verbindung gebracht. Auch ist uns die Vorstellung fremd geworden, dass wir hier gleichsam fern der Heimat leben und der Tod Heimkehr bedeutet. Und doch hat es etwas Tröstliches zu singen: Veni creator spiritus, komm, Schöpfer Geist, bedeutet es doch: Nicht wir müssen den Glauben machen, sondern Gott selber, Gottes Geist schenkt uns den Glauben. Unser Leben ist umschlossen von Gott im Leben und im Sterben, ohne dass wir etwas machen müssen. Gottes Geist, Gottes Kraft hält uns diesseits und jenseits des Todes.
Als der Komponist Gustav Mahler um 1910 eine Chor – Sinfonie plante, die Außergewöhnliches ausdrücken sollte, fragte er sich, welche Worte für die Vertonung wohl geeignet wären. Man sagt, er habe die ganze Weltliteratur geprüft einschließlich der Bibel. Am Ende fiel seine Wahl auf den uralten Hymnus Veni creator spiritus, komm, Schöpfer Geist. Gustav Mahler stellte dafür den umfangreichsten Vokal- und Instrumentalkörper bereit, der bis dahin jemals in einer musikalischen Aufführung verwendet worden war, so dass dieses Werk bis heute „Symphonie der Tausend“ genannt wird.
Das Hauptthema des ganzen Werkes, der 8. Sinfonie, ist „Veni creator spiritus“ . Es ist komponiert wie eine Art kosmischer Schrei. Alle Stimmen und Instrumente wirken mit wie in aufeinander folgenden Wellen. Mahler schrieb dazu an einen Freund:
„Denken Sie sich, dass das Universum zu tönen und klingen beginnt. Es sind nicht mehr menschliche Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, die kreisen“.
Ähnlich pathetisch hat in unseren Tagen der Schriftsteller Peter Handke in seinem Tagebuch von Erfahrungen mit dem Ruf „Veni creator spiritus“ geschrieben. Er bringt ihn in Verbindung mit der Farbe Rot, die ja die liturgische Farbe von Pfingsten ist. Er ist überwältigt von dem Hymnus, den er in einer Messe in Oberitalien hört, während die Sonne durch die Fenster den Kirchenraum in strahlendes Rot färbt.
Im Lutherjahr „Reformation und Musik“ möchte ich bei aller Faszination über die Wirkungsgeschichte dieses ältesten Liedes auf Martin Luther zurückkommen und seine Neudichtung des alten Hymnus. Denn er hat nicht nur 1524 den lateinischen Text übersetzt, sondern im selben Jahr ein eigenes Lied gedichtet, das heute bekannter ist als die erste Version und direkte Übersetzung:
Nun bitten wir den Heiligen Geist
um den rechten Glauben allermeist,
dass er uns behüte an unserem Ende,
wenn wir heimfahrn aus diesem Elende.
Kyrieleis
1524 war das Jahr, in dem Thomas Müntzer im sächsischen Allstedt durch angeblich geisterfüllte Predigten die Menschen zum gewaltsamen Aufstand bewegen konnte. Luther ahnte, dass ein Bauernaufstand, wie ihn Müntzer vorbereitete, auch seiner Sache schaden würde. So schrieb er „Einen Brief an die Fürsten zu Sachsen von dem aufrührerischen Geist“. Darin bekennt er sich zumindest in dieser Situation zur Gewaltlosigkeit und zu geisterfülltem Glauben:
„Ich weiß aber, dass wir, die wir das Evangelium haben und kennen, obgleich wir arme Sünder sind, den rechten Geist haben. Wir wissen wenigstens, was Glaube und Liebe und Kreuz ist, und es gibt kein höheres Ding auf Erden zu wissen als Glaube und Liebe. Wir lehren und bekennen, dass unser Geist die Früchte bringe, die von Paulus aufgezählt werden, nämlich Liebe, Freude, Friede, Geduld, Gütigkeit, Treue, Sanftmut und Mäßigkeit“.
In den Wochen vor Pfingsten 1524 dichtet Luther die Strophen 2-4 des Liedes „Nun bitten wir den Heiligen Geist“. Er will das Lied, das von Müntzer und seinen Anhängern gesungen und gebraucht wird, nicht diesen überlassen, verstehen sie es doch gänzlich anders als er selbst. Deshalb stellt Luther in der zweiten Strophe klar, wer der Heilige Geist ist: - nicht irgendein göttlicher Geist, der im Leben und im Sterben helfen soll, sondern der Geist, der im hellen Schein Jesu Christi zu erkennen ist. Jesus Christus allein, der gekreuzigte und auferstandene Heiland, führt die Menschen zu Gott:
Du wertes Licht, gib uns deinen Schein,
lehr uns Jesus Christ kennen allein,
dass wir an ihm bleiben, dem treuen Heiland,
der uns bracht hat zum rechten Vaterland.
Kyrieleis.
Das Thema der dritten Strophe ist die Liebe. Gott ist die Liebe und beschenkt die Menschen mit seiner Gunst. Luther beschreibt die Liebe nicht nur rein geistig, sondern wie Mann und Frau einander lieben, die von Herzen, mit Inbrunst und in Leidenschaft ihre Liebe leben. Doch bei aller Herzlichkeit und Leidenschaft können Menschen in der Liebe scheitern. Auch wenn Feuer, Herzlichkeit und Leidenschaft weniger werden, wird Gottes Liebe zum Frieden befähigen. Luther schrieb diese Strophe wenige Monate vor seiner Hochzeit mit Katharina von Bora. Vielleicht sind ihm deshalb so deutliche Worte zur leidenschaftlichen Liebe gelungen.
Jedenfalls hat dieser Vers immer wieder Aufregung verursacht bei prüden und weniger offenen Protestanten. Noch bei der letzten Neuausgabe des Evangelischen Gesangbuchs vor 30 Jahren wurde erbittert gestritten, ob man nicht „der Liebe Brunst“ weniger eindeutig sexuell ausdrücken könnte. So kam die neue Fassung ins Gesangbuch:
Du süße Lieb schenk uns deine Gunst,
lass uns empfinden der Lieb Inbrunst,
dass wir uns von Herzen einander lieben
und im Frieden auf einem Sinn bleiben.
Kyrieleis.
Die vierte Strophe nimmt die Gedanken der ersten wieder auf, aber jetzt bezogen auf die scheinbar gottverlassene Welt, auf Kriege, Feindschaft und Zerstörung. Gott als Kraft, als Heiliger Geist, als Tröster in aller Not ist immer da. Diese Gewissheit ist Grund zur Hoffnung.
Du höchster Tröster in aller Not,
hilf, dass wir nicht fürchten Schand noch Tod,
dass in uns die Sinne nicht verzagen,
wenn der Feind wird das Leben verklagen.
Kyrieleis
Martin Luther hatte vorgeschlagen, dass man jeden Sonntag dieses Lied anstimmen könne zwischen den biblischen Lesungen, eine Einübung in den Glauben und in die Kunst des Sterbens, „Wenn der Feind wird das Leben verklagen“.
Dieser Vorschlag hat sich nicht durchgesetzt, aber mit dem Lied ist gearbeitet worden. Es klingt auch in unseren Tagen, begleitet von Orgel und Orchester, von Posaunen und Bigband. In der „Martin Luther Suite“, die beim evangelischen Kirchentag in Bremen vor wenigen Jahren aufgeführt wurde, ist die dritte Suite bestimmt von der alten Melodie „Nun bitten wir den Heiligen Geist“. Eine Würdigung Martin Luthers als Dichter und Komponist. Eine weitere Zugabe zu „Reformation und Musik“.
Es bedeutet mir viel, dass der alte Hymnus Veni creator spiritus in allen Kirchen der Welt bekannt ist und gesungen wird. Ein Lied, das die Welt umspannt über Kontinente und Ländergrenzen, über Kirchen- und Konfessionsgrenzen hinweg. Für mich ist das Ökumene im eigentlichen Sinn. Wir bitten um den Heiligen Geist, wir bitten um Glauben mit den uralten Worten und erfahren eine Verbundenheit, die die Unterschiede zwischen uns unwichtig erscheinen lässt.
Ich bin froh, dass ich das erleben durfte. In Tansania zum Beispiel, als wir, eine Delegation aus Hessen, in einer Gemeinde am Kilimandscharo begrüßt wurden mit dem Lied Veni creator spiritus, in der Landessprache Kisuaheli gesungen, getanzt, beklatscht.
Oder in Polen beim Beerdigungsgottesdienst für Opfer des Flugzeugabsturzes bei Smolensk. Menschen verschiedener Kirchen und Konfessionen waren zusammen, sangen das alte Lied und erfuhren Trost in unfassbarer Trauer. Oder beim Pfingstgottesdienst auf dem Frankfurter Römerberg, wo Gemeinden anderer Muttersprache mit uns feierten unter dem Thema: Viele Sprachen – ein Geist. Ich habe dabei immer wieder erfahren: das uralte Lied ist ein ökumenisches Lied, das in den Kirchen, in Gottesdiensten seit Jahrhunderten gesungen wird und doch alltagstauglich ist für unser Leben heute.
In unserer Gesellschaft gelten Werte, die immer wieder beschworen werden, für die Menschen trainiert und beraten werden: Gewinn – Maximierung, Effizienz, Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, im Sprichwort zusammengefasst: Jeder ist seines Glückes Schmied Schon kleine Kinder werden oft einem unerbittlichen Leistungsdruck ausgesetzt. Wer nicht mithalten kann, ist schnell auf der absteigenden Seite.
Dahinter steht die Überzeugung: Wir können uns die Erde untertan machen und die Natur beherrschen. Diese Freiheit haben wir. Sie ist verbunden mit dem ungeheuren Druck, alles recht und gut zu machen.
Veni creator spiritus, komm, Schöpfer Geist, weist uns auf andere, auf menschenfreundliche Werte. Wer um Gottes Geist bittet, erwartet Selbstvertrauen und Stärke von Gott. Leistung kann uns der Liebe Gottes nicht näher bringen. Der Glaube allein macht uns stark. Er ist Geschenk vor allem, was wir machen und tun können.
So leiht das alte Lied mir Stimme und Sprache für einen Glauben, der Berge versetzen kann, für die Hoffnung auf den Frieden, der alles Denken übersteigt, für das Reich Gottes, das unser Heimatland sein wird – so wahr der gekreuzigte und auferstandene Jesus uns mit seinem Geist der Liebe inspiriert und begeistert.