Die Kraft der Briefe wieder entdecken
Kaum eine Zeit im Jahreslauf ist so stark geprägt wie die Adventszeit. Wenn die Tage dunkler und dunkler werden, wenn es draußen ungemütlich nass ist und einem die klamme Kälte in alle Ritzen zieht, dann ist es Zeit, sich ein warmes, behagliches Fleckchen zu suchen. „Cocooning“, nennt man das Neudeutsch: Wir mummeln uns ein in unseren Wohnungen und Häusern, suchen uns einen warmen Platz und lassen die Unbilden des Wetters ganz weit draußen vor der Tür. Der Tee ist aufgesetzt, Nils Landgren bläst auf seiner Posaune alte schwedische Adventslieder und es tut mir einfach gut, an Menschen zu denken, die ich nicht oft im Jahr sehe, mit denen ich aber gerne in Verbindung bleiben will. Wie wäre es, ihnen einen Brief zu schreiben und auf Antwort zu hoffen. Das könnte doch gerade im Advent, wo wir uns auf die Ankunft Christi vorbereiten eine gute Gelegenheit sein.
Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, sehe ich meine Mutter oft Briefe schreiben an diesen Sonntagen. Am Adventskranz hatten wir die zweite Kerze angezündet und im Schein des Kerzenlichts schrieb sie ihre Briefe. Telefonieren war unerschwinglich teuer, Internet, Skype und WhatsApp noch nicht erfunden. Also schrieb man sich – zumindest zu Weihnachten – wenigstens einmal im Jahr. Briefe „in die Zone“ wie man da noch sagte, Briefe zur Schwester nach Trondheim in Norwegen, Briefe an die lieben Verwandten und Freunde.
Für ihr Briefeschreiben saß sie immer am gleichen Platz: Sekretär nannte sich das Möbelstück, heute kaum noch in Gebrauch. Schönes Briefpapier hatte sie mit einem geheimnisvollen Wasserzeichen und einen Füller mit Goldfeder von Pelikan. Bündelweise haben wir diese Briefe aufbewahrt – oder besser gesagt: deren Gegenstücke. Denn so wie meine Mutter schrieb, so kamen ja auch Briefe an uns zurück: Für uns als Kinder ein gefundenes Fressen wegen der tollen, fremden Briefmarken…
Es scheint, als würde diese Kultur des Briefeschreibens zu einer aussterbenden Gattung gehören. Zwar ist auch die Jugendkultur geprägt vom Schreiben: auf Facebook wird gepostet, geSMSst wird, Emails kommen in Fülle Und dennoch: Sich die Muße zu nehmen und in Ruhe einen Brief an eine liebgewordene Freundin zu verfassen, ist schon etwas Besonderes. Wenn die Postfrau heute klingelt, dann nicht, um einen heiß ersehnten Brief abzugeben, sondern die Stromrechnung oder den IKEA-Katalog.
Betrachtet man die Kulturgeschichte der Menschheit, so liegt in der Briefkultur ein großer Schatz. Schon die alten Römer schrieben sich Briefe und konnten sie in Windeseile durch das Imperium Romanum, ihr Weltreich, verschicken. Martin Luthers zigbändige Weimarer Werkausgabe ist voll von gehaltvollen, teils auch deftigen Briefen, in denen er die deutsche Sprache neu erfand. Der Frankfurter Bürgersohn Johann Wolfgang Goethe beschäftigte manchmal sechs Schreiber gleichzeitig, um all seine Briefe schreiben zu können: Multitasking in Weimar. Und was wäre Georg Büchner, der Darmstädter Revolutionär, dessen 200. Geburtstag Hessen im kommenden Jahr feiert, ohne seine Brautbriefe an seine Verlobte Minna Jaegle, eine elsässische Pfarrerstochter. Faszinierende Briefe einer jungen Liebe, voll auch von theologischem Gehalt.
Ganz besonders haben es mir aber heute zwei Autoren angetan, die große Briefeschreiber waren: Matthias Claudius und Rainer Maria Rilke. Den ersten schätze ich sehr aufgrund seiner fast sprichwörtlichen Sinngehalte: man könnte ihn auswendig lernen. Den zweiten liebe ich aufgrund seiner geheimnisvollen Sprachgestalt. Der große Dichter Matthias Claudius, uns bekannt durch sein Volkslied „Der Mond ist aufgegangen“, hat vor rund 200 Jahren einen Brief an seinen Sohn Johannes so begonnen:
Gold und Silber habe ich nicht; was ich aber habe, gebe ich dir.
Lieber Johannes!
Die Zeit kommt allgemach heran, dass ich den Weg gehen muss, den man nicht wiederkömmt. Ich kann Dich nicht mitnehmen; und lasse Dich in einer Welt zurück, wo guter Rat nicht überflüssig ist. Niemand ist weise von Mutterleibe an; Zeit und Erfahrung lehren hier, und fegen die Tenne. Ich habe die Welt länger gesehen als Du. Es ist nicht alles Gold, lieber Sohn, was glänzet, und ich habe manchen Stern vom Himmel fallen und manchen Stab, auf den man sich verließ, brechen sehen. Darum will ich Dir einigen Rat geben, und Dir sagen was ich gefunden habe, und was die Zeit mich gelehret hat.“
(Quelle: Matthias Claudius: Werke, Winkler 1968, S. 545)
Soweit Matthias Claudius, im Jahr 1799. Ich habe diesen Brief zum ersten Mal gehört zu meiner Konfirmation, als mein Vater uns den Brief vorlas und mir anschließend das Buch schenkte, eingebunden in grünem Leder. Es steht noch heute bei meinen Büchern. Man spürt schon diesem Briefanfang ab: Briefe waren nie nur einfache Mitteilungen. Briefe konnten Wesentliches aussagen, reflektieren, ja eine ganz eigene Form der Lyrik entfalten.
Dieser Brief klingt wie ein Vermächtnis, obwohl Matthias Claudius gar nicht sterbenskrank war. Man könnte ihn vielleicht einen weisheitlichen Brief nennen: gespickt von klugen Ratschlägen eines lebenserfahrenen Menschen. Da fällt mir eigentlich nur noch meine norwegische Tante ein, die allerdings nun auch schon die 90 überschritten hat, die uns solche Briefe mit sicherer Hand schreibt: Was für ein Geschenk, einen solchen Brief zu empfangen! Und ich frage mich: Könnte solches Briefeschreiben und Briefe empfangen vielleicht auch die eine oder andere Freundschaft in meinem Leben bereichern? Ein zweiter Brief, der schon ganz auf Weihnachten hinweist, stammt von Rainer Maria Rilke.
Capri, Villa Discopoli, 19. Dezember 1906
Und als ich dachte, dass dann Weihnachten kam, da fiel mir nur dieses Weihnachten ein, die Diele nur, die so groß und helldunkel war bis an den hellen, großen Baum heran, zu dem Du eine Weile herantratest, schnell, mit einer Unsicherheit, die wieder ganz mädchenhaft war, mädchenhafter als alles, das kleine Köpfchen an Dein schönes Gesicht haltend und mit ihm in den Glanz hinein, den ihr beide nicht sehen konntet, jedes von seinem eigenen Leben erfüllt und dem des anderen. Da erst merkte ich, dass mir dieses Weihnachten noch da war, und nicht wie eines, das einmal war und vergangen ist, sondern wie ein immerwährendes, ewiges Weihnachtsfest, zu dem das innere Gesicht sich hinwenden kann, sooft es seiner bedarf… Aus diesem allem entstand mir auch die Fähigkeit, diese Weihnachten einmal allein und doch nicht bange oder traurig zu sein. Nun schreibe ich nicht weiter, sondern denke nur noch, und Ihr werdet es fühlen…
(Quelle: Arche-Literatur-Kalender 2012 für den 19.12.2012)
Was für ein Adventsbrief! Zum ersten Mal seit seiner Heirat mit der Bildhauerin Clara Westhoff, 1901, und der Geburt der Tochter Ruth verbrachte er den Heiligabend nicht im Künstlerdorf Worpswede bei Bremen, sondern auf der fernen Insel Capri. Und doch hat man beim Lesen den Eindruck: Er ist seinen Lieben auch über die Distanz ganz nah. Ja, vielleicht innerlich näher, als wenn er zuhause wäre… So kann sich ein Zwiegespräch, ein Dialog entwickeln, obwohl doch die Briefpartner räumlich und zeitlich ganz weit getrennt sind. Capri, die blaue Insel am Golf von Sorrent – das war damals eine Weltreise – eine einmalige Lebensreise. Und wie lange mag der Brief wohl unterwegs gewesen sein auf den holprigen italienischen Landstraßen mitten im Winter. Doch trotz dieser inneren und äußeren Entfernung: Es entsteht eine Intensität, die ihres gleichen sucht. Das schafft auf diese Weise vielleicht nur ein Brief.
So unterschiedlich die beiden Briefe von Rainer Maria Rilke und Matthias Claudius auch sind: Sie nehmen mich jeder auf seine Weise gefangen. Und ich denke mir: Ja, dieser Sprachform möchte ich weiter nachgehen. Dabei merke ich: Mir selbst ist im Laufe meines Lebens noch eine andere Briefsammlung wichtig geworden. Weite Teile des Neuen Testamentes, was sich ja immer noch in fast jeden Haushalt irgendwo in einem Eckchen findet, manchmal etwas verstaubt, sind Briefe. Briefe von Paulus und Petrus, Briefe von Johannes und Judas, ein Brief des Jakobus, na ja, den hat Martin Luther vielleicht zu Unrecht als eine „stroherne Epistel“ bezeichnet… Und diese Briefe sind ganz schön international, man könnte sagen: sie gehen quer durch Europa und Kleinasien: nach Rom und Korinth, nach Galatien und Ephesus, nach Thessaloniki und Philippi und Kolossä… Mich sprechen besonders die allerersten Zeilen des ältesten Paulusbriefes an, wo es heißt:
Paulus und Silvanus und Timotheus an die Gemeinde in Thessalonich in Gott, dem Vater, und dem Herrn Jesus Christus: Gnade sei mit euch und Friede! Wir danken Gott allezeit für euch alle und gedenken euer in unserem Gebet Und denken ohne Unterlass vor Gott, unserm Vater an euer Werk im Glauben und an eure Arbeit in der Liebe und an eure Geduld in der Hoffnung auf unsern Herr Jesus Christus.
Paulus schreibt aus Korinth an seine soeben gegründete, kleine Gemeinde in Thessaloniki, im Norden Griechenlands. Wir können uns die zaghaften Anfänge dieser Gemeinde gar nicht zerbrechlich genug vorstellen. Wahrscheinlich gehörten nur wenige Familien dazu. Man traf sich zuhause und teilte miteinander das Wenige, das über diesen Jesus von Nazareth bis dahin überliefert war. Und doch war diese Gemeinde schon vollgültig Kirche: Menschen versammelten sich um Gottes Wort und brachen das Brot miteinander. Die Gründer der Gemeinde, Paulus, Silvanus und Timotheus, hatte es derweil nach Süden verschlagen und an eine Rückkehr war sobald nicht zu denken. So blieb nur die alte Form der Kontaktaufnahme, der Brief. Dankbarkeit durchzieht den Brief wie ein roter Faden
„Wir danken Gott allezeit für euch alle…“
Dieser Dank ist für Paulus weit mehr als eine höfliche Floskel: Er ist eine Lebenshaltung. Paulus spürt, dass sich die Menschen aufrecht um ein Verständnis der Heiligen Schrift bemühen, dass sie nach dem Evangelium leben. Dass sie sogar schon den christlichen Glauben in ihren Häusern und weit darüber hinaus verbreitet haben. Deshalb dankt Paulus Gott für das Geschenk dieser kleinen, aufrechten Christengemeinde. Und ich überlege mir: Wen könnte ich vielleicht einmal ein paar Zeilen des Dankes schreiben? Gäbe es Menschen, am Ende dieses Jahres, die sich über ein paar Worte der aufrichtigen Anerkennung freuen würden?
Besonders interessant wird es mit dem Briefeschreiben, wenn es nicht bei einem einseitig geschriebenen Brief bleibt, sondern wenn es zu einem richtigen Briefwechsel kommt. Wenn Briefe hin- und hergehen und sich so ein richtiger Dialog, ein Zwiegespräch zwischen zwei Briefpartnern ereignet. Eine Brieffreundschaft eben, wie man früher sagte.
Gerade da liegt übrigens auch ein großer Unterschied zu den heutigen Formen der Kommunikation. Auf eine Email soll ich innerhalb von Stunden antworten, am Besten so schnell es geht. Wenn ich einen Brief einwerfe dauert es mindestens ein Tag bis zur Zustellung. In dieser Zeit, dieser manchmal heilsamen Entschleunigung, verändere ich mich , verändert sich mein Briefpartner. Er kann sich in Ruhe überlegen: Wie antworte ich eigentlich auf diesen Brief? Wie wähle ich meine Worte? Wann habe ich Zeit, mich in Ruhe daran zu setzen?
Die Adventszeit, als Zeit des Innehaltens, als Zeit des Wartens, könnte so noch einmal eine ganz neue Dimension entfalten: Nicht nur das Warten auf Weihnachten. Nicht nur das Warten auf das Kommen Christi. Sondern die gespannte Erwartung, was sich eigentlich zwischen mir und den Menschen, die mir wichtig sind, alles in dieser Zeit ereignet. Bekomme ich Briefe oder Grüße? Wie antworten Menschen auf die Zeilen, die ich Ihnen schreibe? Ein so gestalteter Briefwechsel kann vielleicht noch einmal eine ganz neue Tür in meinem Leben aufstoßen. Eine Form des Lebens, die ich vielleicht noch aus früheren Zeiten erinnere, die aber über der Hektik des Alltags in Vergessenheit geraten ist.
Im Schreiben von Briefen merke ich, welche Kraft darin steckt, wenn ich Gedanken im Schreiben allmählich verfertige und verfestige. Die Form des Briefes lässt es zu, dass ich ein Schreiben mehrfach zur Hand nehme. Es hat eine ganz andere Wertigkeit als eine elektronische Mitteilung. Jemand hat sich Mühe und Arbeit gemacht – und das spüre ich. Und ich nehme mir fest vor: In dieser Adventszeit wird nicht nur gemailt und getwittert und geSMSst und gepostet. In dieser Adventszeit werde ich mir einmal richtig Zeit nehmen und Karten und Grüße und Briefe schreiben. Und heute, am 2. Advent, werde ich damit anfangen.
Nachher setze ich mich an unseren Esstisch, hole mir einen schönen Schreiberling und Karten und feines Papier und schreibe einfach mal dem Adressbuch entlang. Mal sehen, wem ich gerne schreiben würde und mal sehen, wer lange nichts mehr von mir gehört hat… Und dann kommt noch das Familienfoto 2012 dazu und fertig ist der Adventsbrief. Ich bin schon jetzt auf die Reaktionen gespannt. Einige werden sich wundern, so von mir zu hören. Und ich werde viel gespannter als sonst in den nächsten Wochen zum Briefkasten gehen. Mal sehen, was sich da so alles findet…