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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Frankfurt am Main

Den Zorn ins Gebet nehmen

Den Zorn ins Gebet nehmen

Der angesehene und sonst eher bedächtige und kontrollierte Professor war als Zuschauer beim Fußballspiel seines Vereins oft kaum zu bremsen: Rasender Zorn erfasste ihn, wenn er durch eine Schiedsrichterentscheidung sein Team benachteiligt sah. Dann schrie er seine Ohnmacht gegen die Entscheidung in unflätigsten Schimpfworten heraus. Er war außer sich vor Wut. Wer versuchte, ihn zu besänftigen, konnte selbst sehr schnell zum Ziel seiner Aggressionen werden. Die ganze Welt schien ihn nicht zu verstehen. Er konnte sich über einen Sieg freuen. Aber mit dem Ausbruch seines Zorns war das kaum zu vergleichen. Er wurde geradezu unheimlich, fast dämonisch. Ein zivilisierter Bürger konnte sich im Nu in einen wütenden Berserker verwandeln. Einige Zeit nach dem Zornesausbruch war er wieder der höfliche Professor, wie ihn alle sonst kannten. Für einen Moment hatte sich ein Abgrund an Gefühlen, an Raserei und Gewaltphantasien aufgetan, der um des friedlichen Zusammenlebens willen schnell wieder geschlossen werden musste. Er wurde zwar nicht gewalttätig, aber in jedem Zornesausbruch steckt ein Aggressionspotential, das unter bestimmten Umständen zur Gewalt fähig ist. Der mächtige Affekt ist schwer kontrollierbar.

Woher kommt der Zorn, die Wut, der Groll, der Menschen plötzlich erfassen kann wie ein Feuer, das ein Haus in Brand steckt oder einen Hammer, der mit zerstörerischer Gewalt Mauern einreißt? Wer das erlebt, bei anderen oder vielleicht sogar bei sich selbst, ist erschrocken und verunsichert. Unsere Zivilisation ist darauf ausgerichtet, Zorn und Wut zu bändigen und einzudämmen. Denn ihre gefährlichen Folgen für Leib und Leben sollen so weit wie möglich verhindert werden. Deshalb ist der Zorn im privaten Bereich begrenzt erlaubt, in der Öffentlichkeit ist er geradezu verboten. Aber es gibt Wutbürger wie im Protest gegen den Ausbau des Stuttgarter Bahnhofsviertels. Und zornige Bevölkerungen wie in vielen nordafrikanischen Ländern im vergangenen Frühling. Sie drücken auch die Ohnmacht aus gegenüber Regierungen und ihren Entscheidungen, die sie nicht mehr hinnehmen wollen. Die angestaute Wut bleibt ein sozial und politisch gefährlicher Sprengstoff.

Zorn und Wut haben viele Gesichter: Widerspenstige Kinder und lautstarke Autofahrer, enttäuschte Liebende und ausgegrenzte Kolleginnen oder Kollegen. Wenn wir das Gefühl haben, das wir nicht gehört werden, dass der Andere mich übersieht und überhört und dass alle ruhigen Appelle und alles Zureden nichts nützt, dann kann einem der Geduldsfaden reißen, dann kann aus dem ohnmächtigen Bemühen plötzlich Wut und Zorn entstehen. Wie oft geschieht das zwischen Eltern und Kindern, zwischen Paaren, dass die Stimme des einen laut wird und mit scharfen Worten die Aufmerksamkeit des Anderen eingeklagt wird. Warum hörst du mir nicht zu? Du hörst dich wohl am liebsten nur selbst reden! Warum sind Dir meine Worte und meine Bedürfnisse gleichgültig?

Der Ursprung des Zorns dürfte in solchen Ohnmachts-Erfahrungen der frühen Kindheit liegen. Sie sind nicht zu vermeiden, denn die Wünsche und der Wille der Kinder treffen auf die Vorstellungen und den Willen der Eltern. Entscheidend ist, wie mit Wut und Eigenwille der Kinder umgegangen wird. Versteht man die Ohnmacht der Kinder oder will man ihren Willen gewaltsam unterdrücken?

Wie diese Wut der Kinder aus erfahrener Gewalt entsteht, hat der Schriftsteller Uwe Timm in seiner Erzählung „Am Beispiel meines Bruders“ so beschrieben:

„Der Junge war zu spät gekommen und hatte, was er besorgen sollte, vergessen. ... Der Vater schickte ihn nach Hause, mit der Ankündigung, abends bekäme er Prügel. Es waren drei, vier Stunden, in denen der Junge an nichts anderes als an die kommende Strafe denken konnte. Am Abend kam der Vater, die Tür wurde aufgeschlossen, der Vater legte den Mantel ab, zog den Ledergürtel aus der Hose, befahl dem Jungen, sich zu bücken, und schlug zu. ... In Erinnerung blieb dieser Nachmittag, die einfallende Dämmerung, die das Kommen der Strafe, der Züchtigung, ankündigte. Die Empörung blieb, und die Wut wuchs.“  (Uwe Timm, Am Beispiel meines Bruders, Köln 2003, S. 148)

Findet der Junge ein Ohr oder einen Ort für seine Wut? Oder bleibt sie unberechenbar und gefährlich in ihrer Wirkung? Die Demütigung durch den Vater wird er nicht vergessen.

Besonders wenn Menschen sich ungerecht behandelt fühlen, wenn ihnen falsche Versprechen gemacht werden und sie misshandelt und gedemütigt werden, flammt der Zorn auf. Sie werden laut, weil sie das Leben in einer Welt der Lüge und der Ungerechtigkeit unerträglich finden. Sie wollen sich nicht erzählen lassen, dass alles gut wird. Denn vieles ist empörend und gar nicht gut. Es ist auch nicht gesund, sich nie aus der Ruhe und dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Immer nur auf Harmonie und Ausgleich bedacht sein, kann zu einer unterdrückten Wut führen, die sich sogar gegen einen selbst richten kann. Die angestaute Wut sucht ein Ventil, sie will heraus: in der Lautstärke, im Weinen, im Protest und in den Attacken auf Dinge und Menschen. Sie zeigt: Meine Liebe ist enttäuscht, mein Vertrauen ist verraten.

Gott jedenfalls kennt solchen Zorn. Davon erzählt die Bibel. Der Prophet Jeremia lebte in einer Zeit schwerer Krisen am Ende des 7. und am Anfang des 6. Jahrhundert vor Christus in Israel.  Er ist herausgefordert, dem Volk den Zorn Gottes auszurichten. Den Zorn über die falschen Wege, die politischen Illusionen. Und das das Volk Gottes Worte vergessen hat. Das ist eine unbequeme, fremde und unheimliche Botschaft. Es ist keine frohe Botschaft, wie sie beispielsweise der 145. Psalm beschreibt mit den Worten:

„Gnädig und barmherzig ist der Herr, langmütig und reich an Gnade“.

Im Zorn zieht sich Gott von seinem Volk zurück, wird ihm fern und fremd. Da redet der Prophet Jeremia in aller Schärfe:

„Sieh, der Sturm des Herrn ist losgebrochen als Zorn, ein wirbelnder Sturm, gegen das Haupt der Frevler wirbelt er. Die Wut des Herrn wird sich nicht legen, bis er die Pläne seines Herzens ausgeführt und verwirklicht hat. In ferner Zukunft werdet ihr es ganz begreifen. ... Bin ich denn ein Gott der Nähe, Spruch des Herrn, und nicht auch ein Gott der Ferne? ... Ich habe gehört, was die Propheten gesagt haben, die in meinem Namen Lüge weissagen: Ich habe geträumt, ich habe geträumt! Wie lange noch? Haben die Propheten, die Lüge weissagen und die Trug ihres Herzens weissagen, überhaupt Verstand; Spruch des Herrn. Ist mein Wort nicht so wie Feuer, Spruch des Herrn, und ein Hammer, der Felsen zerschmettert?“

Hier spricht nicht der „liebe“ Gott, sondern einer, der stinksauer ist. Lügner und Träumer sind die Propheten, die so tun, als würde alles gut werden. Sie verschweigen dem Volk die Wahrheit, die allein aus den Weisungen Gottes kommen kann. Aber das Volk hört lieber auf die beschönigenden und beruhigenden Botschaften der falschen Propheten, Seelsorger und Politiker. Die sagen: Zwar gibt es Krisen, aber Gott und der gute Wille wird es schon richten.

Gott ist zornig, weil er ohnmächtig mit ansehen muss, wie sein Volk ins Verderben rennt. Zur Zeit des Jeremia ging es politisch um die Frage: Ist es nicht besser, die Herrschaft des babylonischen Herrschers Nebukadnezar zu akzeptieren als von einer staatlichen Unabhängigkeit zu träumen? Denn das würden die Babylonier nicht dulden. Tatsächlich endete der Traum von der Unabhängigkeit: Die Babylonier zerstörten im Jahr 587 vor Christus den Tempel in Jerusalem und führten die Elite Israels ins babylonische Exil. Der Prophet Jeremia deutet das so: Gott ist zornig, weil alle seine Warnungen in den Wind geschlagen wurden, weil seine Weisungen immer und immer wieder überhört werden und seine Geduld überstrapaziert wurde. Aber Gott ist auch ohnmächtig, denn er will die freie Zustimmung seines Volkes zu seinen Weisungen, er will, dass sie seine Nähe suchen. Gott kann in seinem Zorn zwar drohen, er kann ankündigen, dass er fern von ihnen ist, aber er ist kein Despot, der seinen Willen einfach mit Gewalt durchsetzen will. Sondern er wirbt auch in seinem Zorn um die Aufmerksamkeit und Liebe seines Volkes. Wie ein verletzter Liebhaber. In der Wahl seiner Worte ist Gott in seinem Zorn so wenig zimperlich wie die Menschen, wenn sie wütend sind. Doch die starken und harten Worte verdecken bei Gott wie bei den Menschen nur die Ohnmacht.

Auch Gott ist in seinem Vertrauen zu den Menschen Ohnmächtig und verletzbar. Er will, dass sie ihm ohne Zwang und freiwillig seinen Weisungen ins Leben zustimmen. Doch wohin mit den Verletzungen und den Aggressionen, die den Wütenden überfallen? Wer zornig ist, kann nach einem Raum suchen, in dem er den Zorn äußert, ohne dass er einen Schaden anrichtet, den man nicht mehr reparieren kann.

Also: Der Zorn muss nicht verdrängt und verschwiegen werden. Gott selbst kann ihn drastisch äußern. Über die Feinde, die Gottlosen, die Ungerechten, die Verlogenen und Gewalttätigen darf geklagt werden. In vielen Psalmen haben die Betenden immer wieder ihre Wut über das erlittene Elend und seine Verursacher vor Gott gebracht. Sie haben ihrer Ohnmacht damit eine Stimme gegeben.

„Abtrünnig sind die Frevler vom Mutterschoß an, Lügner, abgeirrt seit ihrer Geburt! Gott, zermalme ihnen die Zähne im Maul, zerschlage, Herr, das Gebiss der Löwen!“ (Ps. 58,4,7)

Allerdings darf menschliche Wut niemals mit Gottes Zorn verwechselt werden, wie das die sogenannten Gotteskrieger in allen Religionen tun. Denn sie setzen sich an die Stelle Gottes, um mit Gewalt selber Gott als Herr über Leben und Tod zu spielen. Statt ihre Wut auch als Ausdruck der Ohnmacht zu erkennen, wird sie in terroristischen Allmachtsphantasien wirksam. Ganz anders verhält es sich, wenn der ohnmächtige Zorn ins Gebet genommen wird. Dann überlässt man das Richten und das Handeln Gott allein. Er versteht die Ohnmächtigen, weil er sich selbst in seinem Zorn als ohnmächtig erfahren hat. Gott will ja sein Volk retten und nicht zerstören. In seinem Zorn macht er allerdings darauf aufmerksam, dass sich sein Volk selbst zerstört, wenn er vergessen wird. Nur wer die eigene Ohnmacht erkennt, versteht seinen Zorn. Heute vor 75 Jahren wurde Martin Niemöller, der erste Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, als „Gefangener des Führers“ für acht Jahre im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Er war der Gewalt der nationalsozialistischen Machthaber hilflos ausgeliefert. In den Psalmen fand er Worte für seinen Zorn über die Gottlosen, die das Recht missachteten und Unschuldige verfolgten.

„Wirf dein Anliegen auf den Herrn, der wird dich versorgen und wird den Gerechten in Ewigkeit nicht wanken lassen. Und du, Gott, wirst sie hinunter stoßen in die tiefe Grube. Die Falschen werden ihr Leben nicht bis zur Hälfte bringen. Ich aber hoffe auf ihn.“ (Ps. 55,23,24)

Wer mit seiner Wut allein bleibt, wer kein offenes und vertrautes Ohr für seinen ohnmächtigen Zorn findet, der verzweifelt. Die Psalmbeter wissen: Gott selbst kennt ihre Ohnmacht. Ihm können sie sich anvertrauen, weil sie ihm überlassen, zu richten und zu handeln. Gott verwandelt den Zorn, indem seine Barmherzigkeit und seine Güte zu den Menschen stärker sind als die erste Wut. Gott kann sogar seine aggressiven Absichten bereuen und sich neu seinem Volk zuwenden. Diese Umkehr des göttlichen Zorns erkennen die Christen im Leben und Sterben Jesu. Jesus wird in seinem Leiden und seinem Kreuz selbst ohnmächtig der Gewalt ausgeliefert. Im Kreuz Christi wird der Zorn Gottes in Vergebung verwandelt. Die Ohnmacht, die mit seiner Liebe verbunden ist, verzichtet auf jede Gewalt. Wer liebt, kann auf Lieblosigkeit und Hass zwar mit Zorn reagieren. Aber er besitzt kein Machtmittel, um das geliebte Gegenüber zu zwingen.

Das einzige, was schließlich bleibt, ist das Verzeihen. Damit die menschliche Wut nicht in zerstörerische Abgründe führt, kann sie sich vom Zorn Gottes begrenzen lassen, der im Unterschied zu unserer Wut um Vergebung und Erbarmen weiß.

Wütende benötigen den Horizont des göttlichen Zorns, um sich in ihrer Wut aufhalten und unterbrechen zu lassen. So gewinnen sie Zeit, Lebenszeit und Ewigkeit. Die Zornigen brauchen eine Perspektive in Zeit und Raum, die ihnen gerade durch Gottes Zorn eröffnet wird. Wütende Kinder müssen erfahren, dass ihnen verziehen wird. Dann können sie einen Weg aus ihrer oft unstillbaren Aggression herausfinden.

Das Gebet ist ein solcher Ort für den Zorn. Er ist bei Gott gut aufgehoben. Gott kennt nämlich selbst den Zorn, der aus enttäuschter Liebe erwachsen ist. Angestaute Wut, die sich plötzlich entlädt, kann fürchterlich sein. Vor Gott geäußert, kann sie sich in Hoffnung verwandeln. Diese Hoffnung bemüht sich um Frieden und Gerechtigkeit. Das führt weiter als alle Gewalt. Wenn nach Wut- und Zornausbrüchen besser auf Gott und aufeinander gehört wird, dann können sie auch wie ein reinigendes Gewitter wirken. Die schwüle Luft der Lüge und des Vergessens könnte einem klaren Blick und nüchterner Erkenntnis weichen.

Zorn kann auch dazu beitragen, dass Menschen zur Vernunft kommen. In den Psalmen haben sie einen Raum für ihre Wut gegen die Feinde, die Gottlosen und die Frevler gefunden. Sie haben ausgesprochen, was sie leidenschaftlich empört hat. Dabei haben sie erfahren, dass sie ihre Aggressionen los werden konnten. Mit dem Aussprechen der starken Affekte im Gebet verändert sich bereits ihre Richtung. Das Zerstörerische, was in jedem Zorn steckt, verwandelt sich in ein Zutrauen zu Gottes gerecht machendem Urteil. Mit dieser Zuversicht verliert auch die Wut ihre Schrecken.