hr2 MORGENFEIER
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Eine Sendung von

Pfarrer der Evangelisch-methodistischen Kirche, Saarlouis

Das achte Gebot

Das achte Gebot

„Du sollst nicht lügen“, sagen meine Schülerinnen und Schüler als erstes, wenn wir im Religionsunterricht versuchen, die Zehn Gebote aufzuzählen. Alle zehn bekommen sie übrigens nie zusammen, aber das ist auch gar nicht so einfach. „Du sollst nicht lügen“, sage ich – das steht nicht in den Zehn Geboten. Und überrasche die Klasse damit sehr. Zunächst glauben Sie mir gar nicht, aber irgendwann sagen sie sich: Der muss es ja wissen.

„Ist Lügen also erlaubt?“, fragen sie dann. „Natürlich nicht“, sage ich. „Obwohl - ohne Lüge kommt wohl keiner durchs Leben. Wenn ihr bei den Eltern eurer Freundin oder eures Freundes zum Essen eingeladen seid und es schmeckt wie Hundefutter, dann kann ich euch nur dringend raten, zu lügen, dass sich die Balken biegen, wenn die Mutter euch fragt, wie’s euch schmeckt.“

Neulich fuhr ich mit einem Kollegen zu einem wichtigen Termin. Wir waren spät dran. „Sag mal“, fragt er, „geht die Krawatte?“ Die Krawatte war unmöglich. „Sieht gut aus“, sage ich. Hätte ich die Wahrheit gesagt, wäre der Termin für ihn gelaufen gewesen. Mitunter ist es schlicht höflich oder sogar barmherzig, zu lügen. Und die Wahrheit dient manches Mal niemandem; nur der eigenen Selbstgerechtigkeit.  Protestanten wie ich sind da vielleicht besonders gefährdet. Wir sagen ja ganz gerne mal: Hier stehe ich und kann nicht anders. Hier stehe ich und sage die Wahrheit – auch wenn sie niemandem nützt, nur verletzt.

Doch von solchen höflichen und vielleicht sogar barmherzigen kleinen Unwahrheiten abgesehen, ist Lügen natürlich nicht in Ordnung. Keine Ethik ohne Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Die Antwort auf die Frage, was richtig ist, was wir tun sollen, kann jedenfalls nicht „Lügen“ heißen.

„Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel“, sagt Jesus in der Bergpredigt (Mt 5,37). Und das ist nur scheinbar ein Widerspruch dagegen, dass es auch barmherzige Lügen gibt. Denn für Jesus ist Wahrheit kein formaler Begriff. Wenn Jesus von Wahrheit redet, dann meint er die Wahrheit der Liebe.

Grundsätzlich aber gilt: Lügen ist nicht o.k. Lügen zerstört Vertrauen. Lügen zerstört Beziehungen. Und trotzdem: „Du sollst nicht lügen“ ist keines der Zehn Gebote. Aber „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, das ist eines der Zehn Gebote. Es ist das achte Gebot. Und natürlich hat das etwas mit Lügen zu tun und mit der Forderung nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Und deshalb sind so viele Leute überzeugt, das Gebot hieße: Du sollst nicht lügen.

Aber es geht nicht einfach darum, sich mit kleinen oder großen Lügen einen großen oder kleinen Vorteil zu verschaffen. Oder es sich zumindest einzubilden, denn bekanntlich haben Lügen ja kurze Beine. Es geht um mehr, um viel mehr. Es geht buchstäblich ums Leben. Und zwar um das der Anderen.

Was macht eigentlich Kachelmann? Und was macht seine ehemalige Geliebte, die ihn beschuldigt hatte, sie vergewaltigt zu haben? Ich weiß es nicht, von beiden nicht. Genau ein Jahr ist es nun her, dass Kachelmann nach einem spektakulären Prozess vom Vorwurf der Vergewaltigung aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde. Ob er die Tat begangen hat oder nicht, wir werden es wohl nie erfahren. Erledigt ist er so oder so. Jedenfalls gemessen an seinem früheren Leben. Ob seine ehemalige Geliebte die Wahrheit gesagt oder aus Rache eine falsche Beschuldigung erhoben hat, auch das werden wir wohl nie erfahren. Schaden genommen hat sie in jedem Fall.

Der Fall Kachelmann macht deutlich, worum es im achten Gebot zunächst einmal ging. „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, das ist das Verbot der falschen Zeugenaussage vor Gericht. Die falsche Zeugenaussage vor Gericht kann einen Menschen um sein Ansehen bringen, um seinen Besitz, seine Familie, seine Freiheit – ja, um sein Leben. Das war damals so, das ist heute so.

Experten schätzen, dass etwa 7% aller Gerichtsurteile Fehlurteile sind, oft aufgrund falscher Zeugenaussagen. In Ländern, die die Todesstrafe praktizieren, heißt das zwangsläufig, dass es immer wieder zur Hinrichtung völlig unschuldiger Menschen kommt. Wie gesagt, beim achten Gebot geht es buchstäblich ums Leben. Wer gegen das achte Gebot verstoßen hat, Kachelmann oder seine Ex-Geliebte, wissen wir nicht. Deutlich ist, wie der Verstoß gegen das achte Gebot einen Menschen regelrecht zerstören kann, seinem Leben zumindest schweren Schaden zufügt.

Nun stehen wir ja aber Gott sei Dank nicht ständig vor Gericht. Nicht als Zeugen, nicht als Opfer und nicht als Beschuldigte. Was bedeutet also das achte Gebot über diese Gerichtssituation hinaus? „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“, was heißt das in unserem Alltag?

Die falsche Zeugenaussage im Alltag ist das Gerücht. Ein Mann hatte ein böses Gerücht über einen anderen verbreitet. Und weil er ein schlechtes Gewissen hatte, ging er zum Rabbi und fragte ihn, was er nun tun solle. Der Rabbi bat ihn, ein Federkissen aufzuschneiden und die Federn aus dem Fenster zu schütteln. Als der Mann damit fertig war, stellte sich der Rabbi neben ihn und gemeinsam sahen sie zu, wie die Federn vom Wind über die ganze Stadt verteilt wurden. Dann sagte der Rabbi zu dem Mann: „Und nun sammle die Federn alle wieder ein."

Diese Geschichte erzähle ich meinen Schülerinnen und Schülern immer, wenn wir über das achte Gebot reden: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten. Und dann erzähle ich Ihnen von meinem Freund und Pfarrerkollegen, in dessen Gemeinde das Gerücht aufkam, er habe eine außereheliche Liebesbeziehung. Es war nichts dran. Zu keinem Zeitpunkt. Noch nicht einmal im Ansatz. Und angeblich hat es ja auch keiner geglaubt. Aber das Gerücht war nicht wieder einzufangen. Immer weiter wurde es verbreitet und am Ende war mein Freund erledigt. Egal was er sagte oder tat und auch was er nicht sagte und nicht tat, alles war von dem Gerücht vergiftet. Schließlich hat er die Gemeinde entnervt verlassen.

In der Kirche gibt es doch so etwas nicht, sagen meine Schülerinnen und Schüler. Und dazu sage ich dann nichts. Stattdessen fordere ich sie auf, sich selbst zu prüfen. Natürlich kann man auch in liebenswerter Weise über andere tratschen. Wer nie über andere tratscht, dem sind sie wohl egal. Für die Atmosphäre in einem Betrieb und damit auch für den Erfolg der Arbeit sind Klatsch und Tratsch sogar wichtig, haben Untersuchungen ergeben. Aber schnell mischt sich in den Tratsch dann doch eine böse Spitze, vielleicht aus Eifersucht oder Neid, weil man sich Anerkennung erhofft und dazu gehören will. Und um die böse Spitze nicht zurücknehmen zu müssen, wird noch etwas nachgeschoben und auf einmal ist das Kissen aufgeschlitzt und die Federn in alle Winde zerstreut.

In der Antike hat man sich das Gerücht wie eine Person vorgestellt, ja, wie eine Göttin, die das Böse will. Pheme heißt das Gerücht auf Griechisch. Der Dichter Hesiod schreibt: Pheme ist ihrer Natur nach böse, leicht, oh so leicht aufzulesen, aber schwer zu tragen und kaum mehr abzulegen. Sie verschwindet nie völlig, sobald sie großgeredet ist von der Menge. Tatsächlich ist sie eine Art Göttin.

Ja, das Gerücht ist mächtig. Und wird immer mächtiger, je mehr Leute es weiter tragen. Es mag ganz klein und unwahrscheinlich begonnen haben, wenn es nur oft genug und von immer mehr Leuten wiederholt wird, erscheint es irgendwann plausibel.  Dann heißt es: „Komisch, das hab‘ ich jetzt schon von mehreren Leuten gehört“. Oder: „Ich glaub’s ja nicht, aber wenn alle das sagen …“. Das Gerücht wirkt in anderer Weise zerstörerisch als die falsche Zeugenaussage vor Gericht. Aber genau so gründlich. Das Gerücht ist die falsche Zeugenaussage im Alltag.

Meinen Schülerinnen und Schülern sage ich bei diesem Thema immer noch einen Vers aus der Bibel: Hast du mit deinem Freund gestritten, so sei ohne Sorge; denn ihr könnt euch wieder versöhnen; nur… üble Nachrede: das verjagt jeden Freund. (Weish. 1,11)

Üble Nachrede verjagt jeden Freund. Dabei muss üble Nachrede noch nicht einmal unbedingt etwas Falsches, also Gelogenes sein. Übel ist alles, was nicht dem Guten dient. So kann selbst eine Wahrheit zur üblen Nachrede werden, zum falschen Zeugnis. Da wird die Schwäche oder mangelnde Begabung eines Menschen lang und öffentlich breit getreten, anstatt schlicht zu schweigen. Da wird jeder kleine und völlig unbedeutende Fehler des Kollegen schenkelklopfend ans Licht gezerrt, anstatt einfach darüber hinwegzusehen. Da wird das Alkoholproblem des Nachbarn zum Dorfgespräch gemacht, anstatt das persönliche Gespräch zu suchen. Da werden die Probleme eines Menschen lieblos kommentiert, anstatt mitzufühlen.

Wo die Wahrheit nicht dem Guten dient, wo sie nicht Unrecht aufdeckt, nichts hilfreich klärt, da ist sie eine Form des falschen Zeugnisses. Das alles gab es schon immer. Durch die Möglichkeiten des Internets hat sich das alles aber radikal verschärft.

Rudi Assauer hat Alzheimer. Vor einiger Zeit hat der frühere Manager von Schalke 04 seine Krankheit im Fernsehen öffentlich gemacht. Mich hat das tief bewegt. Da sitzt dieser Macher ganz klein. Ganz hilflos. „Mensch hat der Angst“, denke ich. Kaum hat Rudi Assauer öffentlich gemacht, dass er Alzheimer hat, da stehen auch schon die ersten Kommentare im Internet. Viele davon erschreckend lieblos, ja gehässig. „Was soll diese Mitleidstour“, schreibt da einer. „Der hat doch Geld genug“. Und ein anderer: „Der macht doch nur Werbung für sein Buch.“

Ist es denn eigentlich so schwer, mitzufühlen mit einem Mann, der gerade dabei ist, sich zu verlieren. Dem das Leben zerbröselt. Der um seine Würde ringt. Im Internet geht das ganz schnell: Sich einen Phantasienamen zulegen und aus dem Verborgenen verletzende Kommentare abfeuern. „Shitstorm“ nennt man das auf Neudeutsch. Man könnte auch „falsches Zeugnis“ sagen. Ziel eines Shitstorms können mehr oder weniger prominente Einzelne sein, Konzerne, Parteien, usw. Manchmal beginnt der Sturm mit durchaus berechtigter Kritik und läuft dann aus dem Ruder.

Aber nicht nur im Internet geht das ganz schnell. Shitstorm, falsches Zeugnis wider den Nächsten reden, das geht auch über den Gartenzaun, auf dem Schulhof und beim Kirchenkaffee. Auch über das Internet rede ich mit den Schülerinnen und Schülern, wenn wir im Religionsunterricht über das achte Gebot reden: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“.

Und wenn sie mir bis dahin noch im Wesentlichen gefolgt sind, ist es zumindest für einige nun damit vorbei. Bei Facebook, Schüler-VZ und Co. andere schlecht machen, ist für sie völlig normal. „Dissen“ nennen sie das. Und „Dissen“ macht Spaß. „Bis es euch selbst erwischt“, sage ich. Aber das erschreckt sie nicht.

Jesus hatte auch eine Meinung zum „Dissen“: Wer zu seinem Nächsten sagt: 'Du Idiot', gehört vor das oberste Gericht. Und wer zu ihm sagt: 'Du Narr', gehört ins Feuer der Hölle. (Mt 5,22). Und das gilt auch, wenn man sich ein Pseudonym zulegt und die Beschimpfungen im Internet anonym postet, statt offen sagt. „Wer kann denn dann überhaupt in den Himmel kommen?“, haben seine Freunde gefragt. Und Jesus sagte: „Bei Gott sind alle Dinge möglich.“ Sogar, dass man lernt, sich das Dissen zu verkneifen. Sogar, dass man lernt, seine Zunge zu hüten. Im Internet, über den Gartenzaun, auf dem Schulhof und beim Kirchenkaffe.

„Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“. Du sollst nichts über deinen Nächsten sagen, was ihm schadet. Noch nicht einmal die Wahrheit. Es sei denn, es geht darum Unrecht aufzudecken. Im Umkehrschluss heißt das doch: Du sollst über deinen Nächsten Gutes sagen. Du sollst weiter sagen, was ihm dient.

Zwei holländische Offiziere haben das beherzigt. Sie hatten einst einen Pakt geschlossen. Wo immer sich die Gelegenheit bot, haben sie den anderen in den höchsten Tönen gelobt. Auch das war nicht immer die lautere Wahrheit.  Aber die guten Gerüchte haben sich so schnell verbreitet, wie die bösen. Die gute Nachrede war nicht weniger wirkungsvoll wie die üble. Nur bewirkte sie eben das Gute.

Die beiden haben eine erstaunliche Karriere gemacht. Nach ein paar Jahren waren sie die jüngsten Admirale der holländischen Militärgeschichte. Nicht nur, weil alle das Beste von Ihnen glaubten, sondern weil die „gute Nachrede“ das Beste in Ihnen zum Vorschein brachte und stärkte.

Jeder Lehrer, jede Lehrerin weiß das. Selbst scheinbar schwierige Schüler können plötzlich gute Leistungen bringen, strengen sich zumindest an, wenn man sie lobt und wertschätzt. Na gut, es klappt nicht immer, aber oft genug funktioniert‘s. In der Wissenschaft wird dieses Phänomen der „guten Nachrede“ das „Dutch-Admiral-Paradigm“ genannt, das „Holländische-Admirals-Paradigma“.

Davon wünschte ich mir mehr. Im Klassenraum. Im Lehrerzimmer. In der Gemeinde. Im Büro. Im Internet. Am Gartenzaun und am Stammtisch. Nicht falsch Zeugnis reden wider den Nächsten, also sagen, was niemandem dient. Sondern gut übereinander reden. Damit das Gute in uns zum Vorschein kommt und gestärkt wird.

Das „Holländische –Admirals-Paradigma“ könnte auch „Epheser-Paradigma“ heißen, denn im Epheserbrief des Neuen Testamentes heißt es: Lasst kein faules Geschwätz aus eurem Mund gehen, sondern redet, was gut ist, was erbaut und was notwendig ist, damit es Segen bringe denen, die es hören. (Eph 4,29).