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Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Frankfurt am Main

„... bis dass der Tod euch scheidet“ – eine Liebesgeschichte

„... bis dass der Tod euch scheidet“ – eine Liebesgeschichte

„Amour“, „Liebe“ – ohne bestimmten oder unbestimmten Artikel, so heißt der neue Film des Regisseurs Michael Haneke. Für mich ist er ein gelungenes Gleichnis für das Drama zwischen Liebe und Tod, und seine Hauptpersonen sind Georges und Anne, ein älteres Ehepaar, das in Paris lebt. Beide sind über Achtzig. Über Jahrzehnte haben sie als Musiklehrerin und Musiklehrer gearbeitet. Ihre Liebe zur klassischen Musik ist nach wie vor ungebrochen. Ihre großzügige Wohnung strahlt gediegene Bürgerlichkeit aus: Das Klavier fehlt ebenso wenig wie die Bibliothek oder eine Reihe kunstverständig ausgewählter Bilder an den Wänden

Aber vor allem die Liebe von George und Anne zueinander ist ungebrochen. Sie wird getragen von gegenseitigem Vertrauen, dem Respekt für die Würde des Anderen und gemeinsamen Bildungsinteressen. Sie gehen voller Respekt und liebevoll miteinander um. Man spürt, wie sehr sie sich nach einem langen gemeinsamen Leben immer noch lieben. Er macht ihr charmante Komplimente, die sie ironisch und doch auch geschmeichelt erwidert.

Am Morgen beim Frühstück nach dem Konzert eines ihrer Schüler ist Anne von einem auf den anderen Moment nicht ansprechbar. Wie erstarrt und mit leeren Augen sitzt sie Georges gegenüber, der ihre Abwesenheit nicht verstehen kann. Nach einer Weile kommt sie wieder zu Bewusstsein, kann sich aber an das Geschehen nicht erinnern.

Nach diesem ersten leichten Schlaganfall wird die Gebrechlichkeit von Anne immer gravierender. Weitere Schlaganfälle lassen sie körperlich und geistig immer unbeweglicher werden, eine halbseitige Lähmung kommt hinzu, sie wird bettlägerig und muss rundum versorgt werden. Georges tut, was in seinen Kräften steht, indem er sich liebevoll um sie kümmert. Auch ihm fällt das Gehen schwer, und er spürt, dass die Anforderungen der Pflege seine Kräfte übersteigen. In einem Alptraum erlebt er den Flur des Hauses zerstört: der Fahrstuhl funktioniert nicht mehr und der Boden steht bis weit über die Knöchel unter Wasser. Eine unsichtbare Macht bedroht ihn. Seine Tochter Eva sucht nach pragmatischen Lösungen für die Pflege der Mutter: Trotz ihrer verständlichen Sorge versteht sie nicht, was ihre Eltern zutiefst verbindet. Auch die Unterstützung durch eine Pflegekraft ist nur begrenzt hilfreich. Während die eine Pflegerin ihn praktisch und medizinisch unterstützt, überschreitet eine zweite Pflegerin ihre Grenzen und behandelt Anne würdelos. Georges entlässt sie sofort. Denn seine geliebte Frau soll nicht unwürdig behandelt werden.

Schließlich verweigert Anne auch Essen und Trinken. George wird gegen seinen Willen sogar handgreiflich. Er kann ihr Leid nicht länger ertragen. Überwältigt von seinen Gefühlen kommt es zum Äußersten: er erstickt sie in ihrem Bett. Er schmückt die Tote und bleibt zunächst einsam in der Wohnung zurück. Dann sehen wir – wie in einer Phantasie -, wie beide die Wohnung verlassen, wie sie es in ihrer gemeinsamen Zeit Jahrzehnte getan haben. Die Tötung Annes wird als Liebestod dargestellt, wie es beispielsweise auch bei Tristan und Isolde geschieht. Um Sterbehilfe oder eine strafrechtliche Beurteilung dieser Tat geht es dem Film überhaupt nicht. Ethisch gerechtfertigt wird das Handeln ebenfalls nicht. Wichtig ist dem Film die Frage: Gewinnt der Tod über die Liebe oder ist die Liebe stärker als der Tod?

Michael Hanekes Film „Liebe“ ist ein außergewöhnlicher Liebesfilm. Für mich ist er deshalb ein gelungenes Gleichnis, weil er die Dramatik im Verhältnis von Liebe und Tod eindrücklich vor Augen führt. Man nimmt intensiv teil, wie ein Liebender mit dem Leid des geliebten Menschen umgeht. In den Blicken und Körpergesten, dem Streicheln der Hände und der Wangen, hält die Kamera die liebende Zuwendung, aber auch die Hilflosigkeit und den Schmerz fest, die keine Worte mehr brauchen und finden. Den geliebten Menschen verlieren, und selbst an der Liebe zu ihm bis zum Schluss festhalten: dieses unlösbare Drama zeigt der Film grandios. Ungemildert wird der Schrecken des Sterbens sichtbar, aber auch die Kraft der Liebe, die mehr zu ertragen vermag als zumutbar erscheint. Es ist kein Film über Pflege im Alter, sondern über die Intimität der Liebe, ihre Belastbarkeit, ihre Grenzen und ihre Größe. Das Geheimnis der Liebe entzieht sich rationalen Erklärungen.

Weder die Tochter noch die Pflegerin noch irgendjemand sonst ist in der Lage, diese tiefe Verbundenheit von Anne und Georges nach zu vollziehen. Ihr Leben bekommt durch ihre Liebe einen besonderen Klang, einen unverwechselbaren Ton. Diese Musik droht nun zu verklingen. Kein Musikstück wird in dem Film zu Ende gespielt, sondern sie werden irgendwann abgebrochen. Mit Annes Sterben verliert auch für Georges die Musik ihre Bedeutung. Resigniert macht er die eingelegte CD aus. Vergänglich wie das Leben ist auch die Musik, wenn ihr die Liebe fehlt. Die Zuschauer werden von Beginn an mit der Frage konfrontiert, wie sie selbst sich in einer vergleichbaren Situation verhalten würden. Viele wünschen sich, bis zum Tod zusammen zu bleiben. Aber sind die damit verbundenen Belastungen zu bewältigen? Auch Anne will bei ihrem geliebten George bleiben. Nach einem Krankenhausaufenthalt fordert sie von ihm, dass er auf keinen Fall ihrer Einweisung in ein Krankenhaus oder in ein Heim zustimmen dürfe. Nach langem Zögern verspricht er es ihr. Der Zuschauer muss sich selbst die Antwort geben, ob das eine maßlose Forderung ist.  Oder das völlig verständliche Bedürfnis einer Liebenden, die ihr verbliebenes Lebensvertrauen in den Geliebten setzt.

Als Georges der nur noch stöhnenden und stammelnden Anne eine Geschichte aus seiner Kindheit von seinem Heimweh in einem Jugendlager erzählt, da überkommt ihn das Gefühl, endlich auch mit ihr nach Hause gehen zu können. Er meint sie zu verstehen: Sie will nicht mehr so weiter leben. Sie möchte sterben. Deshalb verweigert sie die Nahrung. Was ihn zwar empört, aber dann doch in der Liebe zu ihr verstehbar wird. Noch einmal muss er gegen all sein Empfinden, seine Wertvorstellungen und seine Überzeugungen, der Bitte Annes entsprechen. Die Blicke der Liebenden reichen weiter als der Augenschein, sie erkennen den Schmerz des Anderen und leiden mit. Georges verkörpert gerade dieses Leiden, wenn er mit schwerfälligem Schritt seiner Frau beim Gehen hilft oder unter großer Anstrengung ihre Windel wechselt. Dieses Mitleiden der Liebe begleitet Anne, wenn sie im Rollstuhl durch die Wohnung fährt oder im Bett um Hilfe ruft. Aber schließlich muss die Liebe den geliebten Menschen loslassen. Wie ein Siegel legt sich Georges auf die sterbende Anne. Er erdrückt sie geradezu mit seiner Liebe, um ein letztes Mal die Nähe ihres Körpers zu spüren. Im Bild werden dramatisch Tod und Liebe miteinander vereinigt. Georges bleibt zwar zunächst allein zurück, um einen Abschiedsbrief zu schreiben und dann auch zu verschwinden. Die Zuschauer wissen nicht, wohin.

Das Drama ist, dass die Liebe einerseits festhalten will, aber anderseits auch los lassen muss. Dabei ist der Tod die größte Herausforderung für die Liebe. „Lege mich auf dein Herz wie ein Siegel, wie ein Siegel auf deinen Arm. Denn stark wie der Tod ist die Liebe, hart wie das Totenreich die Leidenschaft.“, heißt es im Hohen Lied der Liebe in der Bibel. Sie ist nicht stärker, aber auch nicht schwächer. Zwischen Liebe und Tod besteht eine Spannung, die hochdramatisch und unauflöslich erscheint.

Die einzige unüberwindbare Grenze, welche die menschliche Liebe kennt, ist der Tod. Wenn Menschen sich ihre Liebe versprechen, dann kann sie nur unbedingt sein. Wenn die Liebe grundsätzlich an Bedingungen geknüpft wird, sei es Gesundheit, Schönheit, Attraktivität, Macht oder das gegenseitige Verstehen oder Wohlergehen, dann ist sie in ihrer Wurzel bereits vergiftet. Aus guten Gründen heißt es daher bei der kirchlichen Trauung: „Willst Du diese Frau/diesen Mann als deinen dir von Gott gegebene Ehefrau/Ehemann lieben und ehren, in guten und bösen Tagen sie/ihn nicht verlassen und allezeit die Ehe mit ihr/ihm nach Gottes Willen führen, bis der Tod euch scheidet, so antworte: Ja.“

Hier geht es um diese Bedingungslosigkeit der Liebe, die nur den Tod als letzten Scheidungsgrund gelten lässt. Deshalb ist jede ernsthafte Liebesgeschichte ein Drama auf Leben und Tod. In der Oper, in der Literatur und im Film finden sich unzählige Beispiele für diese Dramatik. Meistens jedoch soll die Liebe stärker sein als der Tod. Den Romantikern aller Zeiten ist sie unsterblich und weist über den Tod hinaus. Das klassische Happyend lebt von dieser Romantik unsterblicher Liebe.

Daneben gibt es eine andere Deutung, nicht ganz so verbreitet wie die romantische, bei welcher die Liebe schwächer ist als der Tod. Es sind die nüchternen, kühlen Realisten, die immer schon wissen, dass jede Liebe im Tod ihren Meister findet, der ihr das Ende bereitet.

Jenseits der romantischen oder realistischen Spielarten, hält die Bibel im Hohen Lied fest: Die Liebe ist so stark wie der Tod, nicht stärker, nicht schwächer. Damit ist der Ausgang offen und es ist noch nicht entschieden, ob die Liebe oder der Tod am Ende triumphieren.

Der Film „Amour“, „Liebe“ zeigt auf kongeniale Weise, wie das Drama noch nicht entschieden ist. Er verweigert sich der romantischen Lösung von der unsterblichen Liebe ebenso wie einer realistischen Deutung, bei der stets der Tod das letzte Wort behält. Liebe und Tod sind in diesem Film gleich stark und werfen die Frage auf, ob noch etwas kommt oder diese Schwebe, diese Ungewissheit das menschliche Schicksal ist. Für George ist es ein Wunsch oder ein Traum, bevor er verschwindet, dass er mit seiner geliebten Anne die Wohnung verlassen kann und ihre Liebe eine Zukunft hat. Aber wohin führt das Drama, in dem Tod und Liebe gleich stark sind?

Das christliche Kirchenjahr geht in diesen Wochen zu Ende. Themen dieser Zeit sind Abschied und Sterben. Es stellt sich die Frage nach dem Wohin der kleinen und großen Liebesdramen. Gerade weil noch nicht entschieden ist, wer den dramatischen Kampf zwischen Liebe und Tod gewinnt, wird an diesem Punkt die Frage nach Gott und seiner Macht bedeutsam. Für Gottes Liebe ist der Tod nicht die letzte Station. Gottes Liebe hat das das Leben geschaffen, wird es erhalten und zu seinem Ziel führen.

Die Menschen befinden sich in diesem Drama in der Schwebe. Für den Menschen ist der Tod einerseits heilsame Befristung und andererseits seine feindliche Bedrohung Sie wissen nicht, wer am Ende das letzte Wort behält – der Tod oder die Liebe. An dieser Ungewissheit angesichts von Tod und Sterben kann die Liebe verzweifeln. Sie führt an die Grenze menschlichen Denkens und Fühlens. Gott spricht in diese tiefe Verunsicherung menschlicher Existenz hinein. Er will dem Drama eine Wende geben. Im Film kommen solche Gedanken nicht ausdrücklich vor. Wenn Georges und Anne am Ende die Wohnung verlassen, dann bleibt völlig offen, wohin sie gehen. Die Tochter Eva sitzt schließlich in einer leeren Wohnung, in der alles von einer großen Liebe erzählt. Schweigend könnte sie Fragen stellen wie: Wohin ist die Liebe gegangen, oder ist sie doch einfach nur verschwunden? Gibt es noch einen anderen Ausgang aus dem Liebesdrama?

Wohin führen die kleinen und großen Liebesdramen des menschlichen Lebens? Sie können in die die Verzweiflung führen. Aber auch in den Glauben an die unsterbliche Liebe. Und in das Vertrauen auf Gott, in das sich der Mensch mit seiner begrenzten Liebe fallen lassen kann. Der Film stellt viele offene Fragen, denn Dramen zeigen in der Regel die Widersprüche und Abgründe des Menschen, ohne dass sie gleich Lösungen parat haben. Ich möchte diese offenen Fragen in das Licht der Liebe rücken, die Gott den Menschen versprochen hat.

Wenn Georges zum Schluss des Films, nachdem Anne gestorben ist, mit einer Decke eine Taube fängt, die sich in ihrem Flur verirrt hat, dann entsteht beim Zuschauer das beklemmende Gefühl, dass auch die Taube erstickt werden könnte. Doch George schreibt in seinem Abschiedsbrief, dass er sie frei gelassen hat. Damit drückt er für mich aus, dass er seine Liebe frei gibt und sie in einen größeren und weiteren Horizont stellt. Diesen Horizont bezeichnen Christinnen und Christen als Ewigkeit. Sie ist die Zeit Gottes, in welcher die vergängliche und befristete Zeit des Menschen aufgehoben ist. Ewigkeit bedeutet nicht Unsterblichkeit, sondern Zeit, die in Gottes Händen steht. Vor diesem Horizont erleben die Menschen ihre Dramen zwischen Liebe und Tod noch einmal anders. Denn nicht der Mensch ist jetzt der Regisseur des Stücks, sondern Gott. Er leidet mit den Liebenden, die Abschied voneinander nehmen müssen und freut sich, wenn die Zärtlichkeit der Liebe das Leben verwandelt. Indem sie sich lieben, entsprechen sie seinem Willen zur Liebe. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie an Gott glauben oder nicht. In ihrer Liebe erkennt Gott sich selbst in seinem Willen zur Liebe. Und weil dies sein Wille ist, hat der Tod nicht das letzte Wort. Für Anne und George heißt dies: sie können ihre Wohnung gemeinsam verlassen, können sterben, weil sie hier nichts mehr hält. Für sie kann sich jetzt die Ewigkeit öffnen.

Gott kommt den Menschen in ihren Dramen zwischen Liebe und Tod entgegen, verschafft ihnen einen neuen Blick auf ihre Liebe, die höher ist alle Vernunft, weil in der Liebe der Intellekt einem nicht sehr viel nützt. Die sterbliche Liebe wird ewig, weil Gott sie in seine Zeit aufnimmt. So ist den Liebenden der Himmel nicht zugemauert, sondern er steht ihnen offen.

Das sagt der Film „Liebe“ nicht ausdrücklich, aber er könnte als ein Gleichnis über die Liebe auch auf die Liebe Gottes verweisen. Die Klage und das Lob, der Schrecken des Sterbens und der zugewandte Blick haben in dieser Liebe ihren Platz. Nichts an Leid und Trauer, an Vergeblichkeit und Ohmacht muss beschönigt oder gar verklärt werden. Denn für Gott gilt in der Liebe das Gleiche wie für den Menschen: das Mitleiden gehört dazu. Gott wird sogar mit der Liebe gleichgesetzt, weil er selbst das Drama zwischen Liebe und Tod in der Geschichte Jesu Christi durchlitten hat. In ihm hat er sich wie ein Liebender hingegeben, hat sein Leben vom geliebten Gegenüber abhängig gemacht, um seinen ewigen Willen in der Zeit sichtbar zu machen.

Der Film „Amour“ berührt das Herz Er bewegt, weil er die eigenen Liebesdramen vor Augen stellt. So hilft er, den Horizont der Gefühle zu weiten, bei dem auch die Liebe Gottes zur Sprache gebracht werden kann. Die Ewigkeit ist menschlicher Verfügung entzogen. Sie kann nur von  Gott versprochen werden. Dieser Zuspruch öffnet den irdischen Dramen, die die Hölle sein können, den Himmel. Die Traufrage mit der Formel „...bis dass der Tod euch scheidet“ steht in der Regel am Beginn einer Liebesgeschichte. Sie verweist auf ein Ende, dem allein mit Gottes Hilfe der Schrecken genommen werden kann. Ihrem Ernst und ihrer Tiefe verleiht der Film „Liebe“ eindrucksvolle Bilder.