hr1 ZUSPRUCH
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Vorländer, Martin

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer und Senderbeauftragter für den DLF, Frankfurt

Achtung, emotionale Falle!

Er heißt Henri und ist gerade mal eineinhalb Jahre alt. Doch er spaziert schon wie ein kleiner Napoleon die Reihen entlang. Er hat keine Lust mehr, im Konzert still neben seinem Vater zu sitzen. Er ist vom Stuhl gerutscht und tappt nun mit noch etwas ungeübten Schritten den Gang entlang wie ein Astronaut kurz nach der ersten Mondlandung.

Viele Erwachsenenarme strecken sich nach ihm aus. Strahlende Gesichter lächeln ihm zu und fordern ihn auf: „Na, komm zu mir“ – teils, weil er einfach so goldig ist, teils, weil sie ihn aus dem Verkehr ziehen wollen. Schließlich könnte er das Konzert stören. Doch Henri macht, was er will. Und mit seinen eineinhalb Jahren weiß er das schon ganz genau. Er spaziert den Gang weiter, völlig unbeeindruckt davon, ob er damit die Erwachsenen enttäuscht oder verärgert, die ihn so gerne zu sich geholt hätten.

Respekt, kleiner Mann, denke ich. Du tappst noch nicht in die emotionale Falle. Es wäre so leicht, sich ködern zu lassen. In die Arme von einem dieser Erwachsenen zu laufen und sich Streicheleinheiten abholen. Dafür aber die eben erst entdeckte Freiheit wieder aufgeben.

Der kommende Sonntag hat den lateinischen Namen „Quasimodogeniti“. Heißt übersetzt: wie die neugeborenen Kinder. Ursprünglich erinnert das daran, wie die Taufe wirkt: dass man durch den Glauben an Jesus Christus wie neugeboren ist, die Welt mit neuen Augen sieht.

Für mich ist so jemand wie der kleine Henri ein Quasimodogeniti-Moment. Ein echter Augen-Öffner. Von ihm kann man sich abschauen, dass man nicht immer das tun muss, was andere von einem erwarten, auch wenn es noch so lieb gemeint ist. Die einen wollen einen unbedingt halten. Andere  schieben einen an: „Das ist das Richtige! Mach das!“ Es kann einen vom eigenen Weg abbringen, wenn man nur darauf schaut, die anderen nicht zu enttäuschen oder zu verärgern.

Der eineinhalb-jährige Henri ist am Ende des Gangs angekommen. Er dreht sich um und stellt fest, wie weit weg er von seinen Eltern gekommen ist. Was nun? Heult er los? Ach was! Den Gang wieder zurück, auf den Stuhl geklettert und an den Vater gekuschelt. Quasimodogeniti. Der Sonntag übermorgen mit dem sperrigen Namen heißt für mich: Wie ein Kind die eigenen Wege gehen und immer wissen, wo ich Geborgenheit finde.