hr1 ZUSPRUCH
hr1
Becker, Michael

Eine Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

Die Umarmung der Woche

Die Umarmung der Woche

Das Bild der Woche kommt aus Warschau in Polen. Da stehen zwei ältere Herren in einem Palast. Erst geben sie sich lange die Hand. Auf einmal nehmen Sie sich in die Arme, als wollten sie sich gar nicht mehr loslassen. Bundespräsident Gauck und der polnische Staatspräsident Komorowski, beide Freiheitskämpfer, liegen sich in den Armen. Da muss man zweimal hinsehen, um das zu würdigen. Ein Pole und ein Deutscher umarmen sich im Namen ihrer Völker. Unendliches Leid haben Deutsche den Polen angetan. Ihr Land überfallen, die Menschen unterdrückt, verschleppt, getötet. Und dann das: Als würden sich die Völker umarmen und versöhnen, nehmen sich ihre Präsidenten in die Arme.

Wunderbar, diese Umarmung. Und ein bisschen beschämend. Es geht also: Man kann sich versöhnen, jedenfalls damit anfangen. Man muss nicht beim Hass bleiben und immer nach Vergeltung rufen. Wenn Völker das nach vielen Jahren können oder sich bemühen, geht es vielleicht auch im Kleinen: Unter Nachbarn, in der Familie, bei den Vereinen oder Religionen am Ort. Es ist ja viel festgefahren. Es hat sich so viel Leid aufgehäuft. Das müsste mal jemand in die Hand nehmen und sagen: Ich will es versuchen, will die Knoten entwirren, will wenigstens damit anfangen.

Ich weiß, das klingt etwas naiv - und ist es auch. Wer sich versöhnen will, Schuld abtragen und nicht mehr aufrechnen will, muss einen Schritt machen. Vielleicht einen naiven Schritt, als wollten zwei Kinder wieder miteinander spielen. Ich bin überzeugt: Kaum einer will noch den Streit; manche wissen heute nicht mehr, wie es damals angefangen hat. Da müsste mal jemand den ersten Schritt versuchen ’raus aus dem Streit. Wie Jesus damals. Er hat sich einfach standhaft geweigert, Unfrieden mitzumachen. Und hat gesagt: Streit und Verachtung lösen kein einziges Problem. Liebe schon eher. Man sollte es wenigstens versuchen.