Dankbar für mein Land
Neulich war es wieder so weit. Ein junger Mann sagt im Bus zu seiner Nachbarin: Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein. Er sagt es laut; die Nachbarin schweigt. Als ich das höre, frage ich mich: Bin ich eigentlich stolz darauf, ein Deutscher zu sein? Erst fällt mir nichts ein. Nach ein bisschen Nachdenken aber sage ich zu mir: Nein, stolz bin ich nicht. Aber sehr dankbar. Ich kann ja nicht stolz sein, weil ich nichts dazu beigetragen habe, ein Deutscher zu sein. Ich wurde nicht gefragt, ich kam hier zur Welt. Ich bin auch nicht stolz darauf, gesund zu sein oder gutes Einkommen zu haben. Auch dafür kann ich nichts. Ich kann nichts für mein Alter und nichts für das Wetter, das mich ärgert oder freut. Ich kann nicht stolz sein auf etwas, was mir ungefragt gegeben wird.
Aber dankbar kann ich sein, sehr dankbar. Für ein Land, das Gesetze hat, die mich schützen. Für einen Staat, der Meinungsfreiheit gibt - manchmal bis an den Rand des Erträglichen. Ich bin dankbar für friedliche Zeiten, in denen mein Land schon lange wieder lebt. Und für Bäume, Felder, Seen und Flüsse, die ich genieße. Als vor vielen Jahren die Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde, war mein Land ein Trümmerhaufen und in zwei Teile geteilt. Heute, 63 Jahre nach Verabschiedung des Grundgesetzes, fahre ich von Ost nach West und von Nord nach Süd ohne Kontrolle, ohne Soldaten an den Straßen - und bin froh über alle Schulen, Krankenhäuser und die Polizisten, die mich beschützen, wenn’s drauf ankommt. Stolz bin ich nicht, aber sehr dankbar. Ein wenig kenne ich noch den Mangel, der damals herrschte, als ich zur Schule kam. Auf dem Bild sehen wir Kinder aus, als bräuchten wir mal wieder ein dickes Butterbrot. Heute gibt es zwanzig Brotsorten und viel Butter in bunten Päckchen - vielleicht von allem immer etwas zu viel. Aus dem Mangel ist Überfluss geworden. Das verwirrt oft mehr, als es gut tut.
Trotzdem bin ich dankbar für Brot und Butter und alles, was mir mein Land schenkt. Selbst wenn ich manchmal kritisch bin - Gottes Segen für mein Land bleibt viel größer.