Wer fliehen kann, wird unverschämt
Wenn sie hinterm Steuer ihres Wagens sitzen, wachsen manche Menschen über sich hinaus. Oder – wie man’s nimmt – bleiben weit hinter sich zurück. Jedenfalls entwickeln sie am Lenkrad Fähigkeiten, die ihnen im normalen Leben abgehen, dort, wo sie von keinem Käfig aus Metall umgeben sind und nicht so schnell die Flucht ergreifen können.
Im Auto verständigt man sich auf virtuose Weise auch durch Scheiben hindurch und über Abstände hinweg: Heftiges Kopfschütteln. Zeigefinger an der Schläfe. Flache Hand wedelnd vor der Stirn, der so genannte Scheibenwischer. Ausgestreckter Mittelfinger. Und weil der Grundbestand der dabei ausgestoßenen Beschimpfungen durchaus zum verkehrs-sprachlichen Gemeingut gehört, können routinierte Autofahrer inzwischen mühelos von den Lippen ablesen, was ihr wütender Verkehrs-Gegner da von sich gibt.
Was macht einen als Autofahrer eigentlich so mutig, oder – wie man’s nimmt – so unverschämt, dass wir unsere gute Kinderstube vergessen und zu einer Sprache greifen, für die wir uns im Normalfall schämen würden? Ich glaube, es liegt daran, dass die Autobegegnungen so flüchtig sind. Wildfremde Menschen werden geduzt und mit Vokabeln aus der untersten Schublade bedacht, weil man den Schauplatz des Kleinkriegs schnell verlässt und sich nie wieder sieht.
Aber manchmal kommt es anders. Da hatte man dem Autofahrer an der letzten Ampel bei herabgelassener Scheibe lautstark versichert, er habe seinen Führerschein wohl in einer Tombola gewonnen. Nun ist er bei dem Seminar, das ich besuche, mein direkter Sitznachbar. Meine Hoffnung, dass er mich nicht wieder erkennt, erfüllt sich nicht. Leider. Er fragt ganz unschuldig und tut dabei ganz interessiert: „Übrigens, wo haben Sie denn eigentlich Ihren Führerschein gemacht?“
Peinlich. Wegducken und abhauen hilft nicht immer. Mit dem Auto mag das gehen. Aber jetzt nicht mehr. Wegducken und abhauen ist eigentlich auch nicht sehr erwachsen. Weil die Weltsicht ja allzu einfach ist, in dem Menschen da drüben in seinem Auto grundsätzlich meinen Verkehrsgegner zu sehen. Als Sitznachbar, jedenfalls als die Peinlichkeiten überwunden sind, entpuppt er sich als durchaus sympathischer Zeitgenosse. Was mich am meisten wundert: Das ich das im Auto immer wieder vergesse.