Wahrheit um jeden Preis?
Darf ich lügen? Der Philosoph Kant sagt: „Nein, nie“. Er wurde gefragt: Auch nicht, wenn jemanden einen Unschuldigen bei sich zu Hause vor der Polizei versteckt? Nein, auch dann nicht. Wenn die Polizei klingelt und fragt, ob Sie dem gesuchten Unterschlupf gewähren, müssen sie ja sagen und ihn ausliefern, auch wenn das seinen sicheren Tod bedeutet. Kant sagt, auch in einem solchen Fall, darf niemand lügen, weil das der Anfang vom Ende wäre. Keiner würde mehr einem anderen vertrauen.
Diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, aber ich muss Kant widersprechen. Die Liebe zu einem Menschen und der damit verbundene Schutz seines Lebens stehen für mich an erster Stelle. Diese Lüge kann ich mit meinem christlichen Glauben vereinbaren. Wie ist das aber mit den vielen kleinen Lügen im Alltag, die wir einsetzen, um andere zu schützen oder ihnen nicht weh zu tun? Wenn mich jemand besuchen möchte und ich keine Lust habe, ihn heute zu sehen, habe ich schonmal gesagt: „Ich habe leider heute schon einen Termin“, anstatt ihm die Wahrheit zu sagen. Ich lüge, weil ich ihm nicht weh tun will und die Beziehung nicht belasten will. Und natürlich auch, weil es für mich bequem ist. Dabei regt sich bei mir das schlechte Gewissen. Zumal die Bibel uns auffordert, nicht zu lügen und die Wahrheit zu sagen (Epheser 4,25) Muss ich es jetzt doch so wie Kant machen und nie lügen?
Ich habe mir Folgendes überlegt: Ehrlichkeit auch Mut. Darum möchte ich Gott bitten. Ich möchte versuchen, ehrlich zu sein und den anderen dabei auch im Blick haben. Deshalb suche ich nach klaren Aussagen, die weniger verletzend sind. Ich sage nicht: Ich möchte dich heute nicht sehen, sondern: Ich möchte heute allein sein. Das kommt auf dasselbe raus, ist aber nicht so knallhart. Ganz ohne Lügen zu leben werde ich nicht schaffen. Dazu bin ich zu sehr Mensch. Wenn ich aber das Spiel mit den Lügen durchschaue, fange ich an, Lügen zu vermeiden. Ich will es mir nicht bequem machen, ich will nur andere schützen.