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Buss, Stefan

Eine Sendung von

Katholischer Pfarrer in der Innenstadtpfarrei St. Simplicius, Faustinus und Beatrix, Fulda

Mendel Singer liest die Zeitung, um seine Söhne zu finden

Mendel Singer liest die Zeitung, um seine Söhne zu finden

Jeden Morgen kauft Mendel Singer die Zeitung und er liest sie, sobald er zu Hause ist. Wort für Wort, jede Zeile, nur um vielleicht etwas über seine Söhne zu erfahren. Der Schriftsteller Josef Roth berichtet davon in einem seiner Bücher. („Hiob“)

Josef Roth erzählt, dass in Russland Krieg ist. Die Hauptperson seines Romans, eben Mendel Singer, lebt inzwischen in Amerika, aber seine Söhne, alle drei Söhne sind in Russland. Sie sind da, wo der Krieg tobt. Wo sind sie genau? Wie geht es ihnen? Und: leben sie überhaupt noch? Die Zeitungen, so schreibt es Josef Roth in seinem Roman, sind voll mit Berichten vom Kriegsgeschehen. Das findet Mendel Singer nur schrecklich. Denn am Krieg hat er überhaupt kein Interesse. Aber seine Zeitung liest er trotzdem jeden Tag. Der alte Vater will nur eins herausfinden: wo sind meine Söhne? Und: wie geht es ihnen? Was kann er denn tun, hilflos wie er ist?

Das passiert nicht nur im Roman so. Der Blick auf den Krieg in Afghanistan ändert sich, wenn man mit einem Soldaten dort verwandt ist. Und auch die Berichte von Katastrophen, von einem großen Unglück, lesen wir anders, wenn wir unsere Lieben am Ort des schlimmen Geschehens wissen, Freunde, Verwandte, oder die eigenen Kinder. Um Gottes willen!

Der Gedanke an sie, die mitten in der Katastrophe sind, verstärkt die Hilflosigkeit. Trotzdem hoffen Menschen, die das erleben: ihre Lieben sollen bewahrt bleiben. Und sie wollen sie doch wiedersehen.

Einmal bittet Mendel Singer im Roman von Josef Roth das Rote Kreuz um Auskunft. Über einen der Söhne erhält er tatsächlich eine Nachrichte: Das Rote Kreuz weiß, dieser eine – ist vermisst. „Wenigstens nicht tot“, denkt Mendel Singer und schöpft sogar aus dem eigentlich furchtbaren Wort „vermisst“ eine neue Hoffnung.

Es ist die Liebe zu Freunden und Verwandten, es ist die Liebe zu den eigenen Kindern und Lebensgefährten. Diese Liebe lässt uns sogar mitten im Schrecken hoffen für sie – und für alle anderen.

Darum spreche ich manchmal das alte Gebet:

O treuer Hüter, Quelle aller Güter, ach lass doch ferner über unserem Leben bei Tag und Nacht dein Schutz und Güte schweben.