Aura und Heiligenschein – was uns strahlen lässt
Wenn ich schon am frühen Morgen wegen einer Gottesdienstvertretung weit fahren muss, dann bitte im Morgenrot und mit einem leichten Wind. Gern mit Nebelfetzen über den Stoppelfeldern, die von der aufgehenden Sonne und einer frischen Brise vertrieben werden. Dafür gab es in der griechischen Mythologie sogar eine Extra-Göttin: Aura so war der Name dieser Göttin der Morgenbrise. Heute kennt sie kaum jemand mehr. Aber der Begriff ist wieder modern.
Was bedeutet „Aura“ damals und heute?
Aura war das Jugendwort des Jahres 2024. Aura bedeutet so etwas wie Ausstrahlung. Präsent ist der Begriff unter anderem in digitalen Welten. Figuren in Computerspielen haben oft einen Aura-Wert. Dieser steigt, wenn sie anderen helfen oder erfolgreich sind. Er sinkt, wenn Dinge schief gehen – wenn man vom Pferd fällt, ausfällig wird oder etwas kaputt macht.
Aus diesen Zusammenhängen ist das Wort in die Alltagswelt der Jugendlichen eingewandert. „Minus 100 Aura“ kann man in der Schule zugerufen bekommen, weil man zu spät ist. Und die Lieblingslehrerin „hat Aura“, das weiß jeder.
Es gibt auch eine ältere Bedeutung: Aura ist auch eine Bezeichnung für den Heiligenschein. Bei manchen Darstellungen schwebt er über den Köpfen von Engeln oder Heiligen. Er symbolisiert die besondere Ausstrahlung dieser Menschen.
Meine katholische Großmutter war mit solchen Bildern sehr vertraut. Als Kind war ich oft bei ihr. „Na, Maike, willst du heute deinen Heiligenschein polieren?“ – das sagte sie, und steckte mir fünf Mark zu. Für die Kollekte am Ausgang vom Gottesdienst. Das fand ich merkwürdig.
Als ich klein war, habe ich dann nach dem Heiligenschein gesucht, von dem meine Großmutter sprach. Aber wenn ich über meinem Kopf tastete, war da nichts. Und auch im Spiegel konnte ich ihn nicht sehen. Irgendwann habe ich verstanden: den Heiligenschein sieht und spürt man nicht. Aber mir gefällt die Vorstellung. Dieser Schein, diese Aura zeigt die Verbindung zu etwas Größerem, das mich und uns umgibt. „Das Heilige“ kann man es nennen. Dieses Heilige stelle ich mir wie gute, liebevolle Energie. Davon ist immer etwas bei mir. Wie ein Lichtschein. Manche Menschen strahlen besonders viel Liebe und positive Energie aus. Die haben dann Aura, wie beim Jugendwort oder eben einen Heiligenschein.
Musik
Der klassische Heiligenschein hat ausgedient. Wenn man heute irgendwo einen hell leuchtenden Ring sieht, dann sitzt in der Regel jemand vorm Bildschirm oder Handy und lässt sich für ein Video beleuchten. Diese Ringe setzen Menschen ins rechte Licht. Sie leuchten alles gut aus und lassen dadurch jemanden strahlen. Aber das ist etwas ganz anderes als die Aura oder der traditionelle Heiligenschein. Da geht es nicht um ein Licht von außen, sondern um etwas Inneres. Liebe lässt einen Menschen strahlen.
Ausstrahlung und positive Energie
Rea Garvey hat sein aktuelles Album „Halo“ genannt, also Heiligenschein. Den titelgebenden Song hat der Künstler seiner Tochter gewidmet. Aamor heißt sie – ein Anklang an das lateinische Wort für Liebe. Die 19-jährige wirkt auch beim Video zum Song mit und singt in einigen Hintergrundchören. Rea Garvey selbst verbindet auch mit dem Heiligenschein die Ausstrahlung einer Person. Manche Menschen kommen in den Raum und es wird sofort heller. Sie leuchten förmlich und verändern mit ihrer Liebe die Atmosphäre.
Aamor – die Tochter von Rea Garvey strahlt für den Vater. Für ihn ist sie ein besonderer Mensch, ihre Nähe macht alles ein wenig heller. Aber das ist nicht selbstverständlich und funktioniert auch nicht immer. Genau davon handelt der Song. Der Vater singt der Tochter seine Unterstützung zu als sie zu traurig ist, um vor Liebe zu strahlen.
I′ll be there when your halo's a little bit broken from the fall
When you′re all caught up in the middle
And you're tired of it all
I′ll be there when your halo's a little bit heavier than before
„Ich werde da sein, wenn dein Heiligenschein ein bisschen vom Sturz beschädigt ist
Wenn du mittendrin feststeckst
Und du von allem genervt bist
Ich werde da sein, wenn dein Heiligenschein ein bisschen schwerer ist als zuvor.“
Der Sturz, von dem gesungen wird, ist kein einfaches Stolpern.
Was hat Liebe mit dem Heiligenschein zu tun?
Seine Tochter Aamor hat schrecklichen Liebeskummer. Und bei Liebeskummer strahlt niemand. Man ist traurig, erschöpft, verzweifelt. Und wenn man den Heiligenschein als Symbol für gelebte Liebe versteht, bekommt der eben Schrammen oder fällt zu Boden, wenn die Liebe zerbricht. Das Leben und die Liebe fühlen sich schwer an, wenn man gerade verlassen wurde. Deshalb tröstet der Sänger Rea Garvey seine Tochter: Ich werde da sein, wenn dein Heiligenschein ein bisschen schwerer ist als zuvor. Das klingt fast so, als würde er seiner Tochter tragen helfen. Obwohl es doch ihr Heiligenschein ist. Für mich klingt das sinnvoll. Denn ich glaube: das Licht von Heiligenscheinen ist die Liebe. Ohne Liebe gibt es kein Strahlen. Für die liebeskummerkranke Tochter ist die Welt grau und düster. Der Heiligenschein schwebt und leuchtet nicht mehr, sondern drückt sie eher nieder. Aber ihr Vater ist da. Er hilft ihr wieder auf. Durch seine Liebe und seinen Beistand hat Aamor wieder Aura, sie kann wieder strahlen.
Musik
„Minus 100 Aura“ – weil etwas hingefallen ist oder ich mich nicht absolut korrekt verhalten habe. Der Aura-Wert in der Jugendsprache und erst recht im Computerspiel ist ein Bewertungssystem. Auch bei klassischen Heiligenscheinen wird manchmal eine Bewertung vermutet. Meine Oma hat mir Geld für die Kollekte zugesteckt, damit ich den Heiligenschein polieren kann. Auch wenn wir in den Gottesdienst gegangen sind oder Kerzen für andere angezündet haben, dann ließ das ihn ihren Erzählungen den Heiligenschein stärker leuchten.
Es ging also um das eigene Handeln, das Auswirkungen auf die Strahlkraft hat. Natürlich: Wenn ich an strahlende, charismatische Menschen denke, dann sind das oft besonders gute Menschen. Wertschätzend und liebevoll, sie begegnen anderen mit Respekt und nehmen sich selbst nicht zu wichtig.
Aber zugleich denke ich: Ausstrahlung kann ich nicht machen. Es gibt dafür keinen 10-Punkte-Plan, den ich einfach abarbeiten könnte.
Wer Liebe ausstrahlt, tut das nicht nur aus sich selbst heraus. Liebe ist eine Energie, die mir zukommt. Die genährt wird von der Liebe anderer. „Ich werde da sein“, verspricht Rea Garvey seiner Tochter. Und so war es bestimmt schon in den Jahren davor: Als Vater war er für seine Tochter da. Hat liebevoll die ersten Schritte begleitet und stand ihr zur Seite.
Gottes Liebe lässt strahlen
Der Heiligenschein symbolisiert genau das: Die Verbindung mit liebevoller Energie. Mit dem Heiligen, das wir Gott nennen.
Es gibt ein altes Gebet, einen Psalm, der beschreibt das so: „wer auf Gott schaut, strahlt vor Freude“. (Psalm 34, 6 Basisbibel).
Weil Gott die Liebe ist, klingt das für mich so: Wer sich der Liebe zuwendet, strahlt selbst.
Ich bin es also nicht, die für den Heiligenschein sorgen muss. Das ist kein Bewertungssystem. Denn das Entscheidende ist schon da: Gottes Liebe und die Verbindung dazu. Sie lässt strahlen. Und selbst wenn ich mit meiner Liebe keine Aura hinbekomme – ich vertraue darauf: Da sind noch andere, die mich mit ihrer Liebe unterstützen, mir Energie zukommen lassen. Wie im Song: „Ich werde da sein, wenn dein Heiligenschein ein bisschen vom Sturz beschädigt ist“.
Dieses liebevolle Dasein von anderen Menschen kann mich wieder zum Leuchten bringen und meinen Heiligenschein auch.