Nächstenliebe, die konkret wird
Auf dem Schild am Boden neben dem Mann steht: „Bitte eine Spende. Habe keine Wohnung und keine Arbeit.“ Viele Menschen kommen in der Einkaufsstraße daran vorbei. Wenige bleiben stehen und werfen ein Geldstück in das Plastikkästchen vor ihm. Irgendwie gehört diese Situation in den Alltag unserer Städte. Komme ich an so einem Menschen vorbei, bin ich immer ein wenig peinlich berührt. Ich empfinde den Drang zu helfen und ebenfalls etwas in das Kästchen zu werfen. Doch ich gebe zu, dass ich das selten tue. Denn sogleich denke ich: Mit jeder Gabe ist dem Mann zwar augenblicklich ein wenig geholfen, aber es ist doch unsere gemeinsame Aufgabe, ihm grundsätzlich aus seiner Situation herauszuhelfen. Es kann doch nicht sein, dass in unserem Land, in dem es großen Reichtum gibt, immer noch Menschen um ihr tägliches Brot betteln müssen. Wir müssen uns doch aufrütteln lassen. Berührt von der Not der Menschen, die auf der Straße leben, müsste sich doch etwas ändern!
Es gibt Einrichtungen, die Angebote für Menschen machen, die keine Wohnung haben. Viel brauchen sie nicht. Zunächst ist nur für die Grundbedürfnisse etwas vorgesehen. Sie können duschen, ihre Wäsche waschen und sich etwas kochen. Übernachtungsmöglichkeiten werden seltener angeboten; denn häufig wollen sich wohnungslose Menschen lieber selbst einen Schlafplatz zu suchen. Enger Kontakt mit anderen Menschen ist oft nicht dran. Aber Gepäck kann vorübergehend in diesen Einrichtungen aufbewahrt werden. Oder die Anlaufstelle ist wichtig, um eine Postdresse zu haben für Nachrichten von Ämtern, oder auch von Verwandten.
Tagesaufenthaltsstätten können so dazu beitragen, den Alltag auf der Straße einigermaßen zu bewältigen. Diese Hilfe, die konkret nötig ist, ist wichtig. Sie wird in Hessen fast flächendeckend in jedem Landkreis und jeder Stadt angeboten.
Doch es geht auch um mehr. So wie das Geldstück in dem Plastikkästchen zwar den Tag ein wenig leichter machen kann, aber die Lebenssituation nicht grundlegend verändert. Es geht um das weitergehende Ziel, die Wohnungslosigkeit, und das heißt Armut und Ausgrenzung, zu überwinden.
Musik
Wenn ein Mensch wohnungslos wird, hat das Ursachen, die in jedem Einzelfall etwas anders aussehen. Ein Bündel von Schwierigkeiten, die irgendwann nicht mehr zu bewältigen sind: Krankheit und Sucht spielen vielfach eine Rolle, Verlust des Arbeitsplatzes ist nicht selten eine Folge. Beziehungen sind den Belastungen nicht mehr gewachsen, Trennung und Scheidung folgen. Finanzielle Probleme führen dazu, dass die Schulden über den Kopf wachsen. Dann kann die Miete nicht mehr gezahlt werden. Die Wohnung ist weg. In vielen Lebensgeschichten wohnungsloser Menschen tauchen diese Aspekte auf, mit individuellen Abweichungen. Aber deutlich ist auch: Es gibt viele Gemeinsamkeiten, und die deuten auf das hin, was an Hilfe über die Alltagsbewältigung hinaus notwendig ist. Es fehlen Anlaufstellen für problembeladene Menschen. Es mangelt an Richtlinien und Gesetzen, die auch unbürokratische und individuelle Regelungen zulassen. Das Prinzip vom Fördern und Fordern in der Sozialgesetzgebung regelt zu oft nur den Bereich des Forderns; individuelles Fördern kommt zu kurz. Ein Gemeinschaftssinn ist notwendig, der dem einzelnen Menschen nicht sein Versagen vorhält, sondern zusammen mit anderen auf eine politische Lösung drängt. Das kann man Solidarität nennen. Oder Nächstenliebe und Achtung der Menschenwürde. Zwar trägt jeder Mensch Verantwortung für sein Leben. Aber die Gesellschaft trägt gemeinsam Verantwortung, die Bedingungen so zu gestalten, dass alle ihr Leben meistern können. Wenn zu viel Übles zusammen kommt, braucht es ein tragfähiges, soziales Netz, in dem der Einzelne aufgefangen werden kann. Daran zu knüpfen ist auch unsere Aufgabe als Christenmenschen.
Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe haben sich zusammengeschlossen, um gemeinsam an der Überwindung zu arbeiten. Dazu gehört, die Situation wohnungsloser Menschen überhaupt erst wahrzunehmen. Was erleben Menschen, die auf der Straße leben? Was hat sie dahin geführt, was kann ihnen heraushelfen? Wie davon erfahren? Auch Kunst kann dabei hilfreich sein. Lieder transportieren eine ganze Menge. Sie können berühren und zum politischen Handeln animieren. Über eine solche Kunst, die soziale Ziele hat, berichte ich gleich.
Musik
‚Die Winterreise‘ heißt eine Zusammenstellung von insgesamt 24 Liedern, die Franz Schubert für eine Singstimme mit Klavierbegleitung komponiert hat. Dieser Liedzyklus lässt sich im Warmen sitzend an kalten Wintertagen zur Erbauung gut hören. Die Texte sind zum Teil vertraut und thematisieren unterschiedliche Phasen im Leben. „Am Brunnen vor dem Tore da steht ein Lindenbaum“ ist eines der bekanntesten Lieder. Die Texte über die Winterzeit, über Eis und Schnee, stellen eine ungemütliche Welt dar, die nur mit Härte gegen sich und andere zu meistern ist. „Die kalten Winde bliesen mir grad ins Angesicht, der Hut flog mir vom Kopfe, ich wendete mich nicht.“ Es können Lieder aus einer vergangenen Zeit, aus der Zeit der fahrenden Gesellen, bleiben.
Doch wenn diese Lieder mit den Erzählungen von Menschen kombiniert werden, die heute auf der Straße leben, dann bekommen dieselben Texte eine neue Bedeutung. Dann klingen die Lieder anders. Sie zeigen Aspekte von einem Leben fernab von jeder Wanderburschenidylle. Schonungslos. Sie werden zur Klage über soziale Kälte und Ausgrenzung. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“, so der Beginn des ersten Liedes, wird hier ganz ungemütlich aktuell.
Diese „Winterreise“ wird heute Nachmittag um 17.00 Uhr in der Martinskirche in Kassel aufgeführt. Die „Kasseler Winterreise“ ist ein soziales Kunstprojekt. Es wurde von der Wohnungslosenhilfe der Diakonie zusammen mit ortsansässigen Einrichtungen vorbereitet. Auch in Kassel sollen Welten zusammengeführt werden: Hier die einen, die einen festen Platz im Leben haben – dort die anderen, die draußen stehen und nicht immer wissen, wo sie in der nächsten Nacht schlafen werden. Das Projekt ist eine besondere Art der Stadtführung. Es führt dazu, das Leben aus der Sicht derer wahrzunehmen, die in den Einkaufsstraßen sitzen. Das Konzert hilft zu entdecken, was wichtig ist für das Leben einzelner und für uns als Gemeinschaft: ein soziales Netz, in dem Menschen aufgefangen werden, denen die Probleme über den Kopf gewachsen sind. Nächstenliebe, die konkret wird.
Übrigens: Der Eintritt ist frei, damit niemand ausgeschlossen ist.