Jesus aus der Wundertüte
In Hanau gibt es eine Einrichtung, die es öfter geben sollte. Mitten in der Innenstadt, zwischen den anderen Geschäften, findet man den Kirchenladen. Um Missverständnissen vorzubeugen – wer da durch die Ladentür geht, kann kein Gotteshaus erwerben, die in Zeiten knapper Finanzen auch schon mal zum Verkauf angeboten werden. Nein, zur Konzeption eines Kirchenladens gehört es, Menschen den Weg zu Kirche und Gemeinde niederschwellig zu machen. So findet man hier das Gemeindebüro untergebracht und kann seine Angelegenheiten schnell und direkt in freundlicher Atmosphäre erledigen. Vor allem aber ist im vorderen Bereich Raum, sich hinzusetzen und Gespräche mit den oft ehrenamtlichen Mitarbeitern zu führen. Kaffee und Plätzchen gibt’s auch, Regale an den Wänden präsentieren Bücher, Musik und manche Kleinigkeit, die sich auch zum Verschenken eignet.
Und dann - entdeckte ich sie. Damit hatte ich nun gar nicht gerechnet: Da stand tatsächlich eine Wundertüte mit Fischmotiv im Regal! Kein Wunder, dass ich mich wunderte: Wundertüten gehören zu meinen Kindheitserinnerungen. Die gab’s am Kiosk oder auf der Kirmes. Es waren bunte, süße Puffreiskörner drin und vor allem: faszinierende Plastik-Figuren, die wir alle sammelten. Bei mir hat die Faszination angehalten, ich sammle immer noch welche – Indianer, Zirkusfiguren und besonders Figuren vom Bauernhof. Mit denen habe ich als Kind das nachgespielt, was die Großen draußen auch gemacht haben und mir so meine eigene kleine Welt auf dem Küchentisch gebaut. Irgendwann hatte ich dann einen Schuhkarton voll davon – meine Schatztruhe. Heute stehen die Figuren bei mir im Regal, aufbewahrte Kinderträume.
Aber eine Wundertüte mit Jesus erinnere ich mich nicht. So etwas gab’s in meiner Kindheit nie. Natürlich, Wunder und Jesus gehören zusammen. Aber wenn ich in meinem Unterricht das Thema ‚Wunder’ behandle, bringe ich keine Tüte voller Wunder mit. Jesu Wunder passen nicht in unser Weltbild, sie sprengen unsere Vorstellungskraft, die sich auf eine naturwissenschaftliche Sicht bezieht. Da ist nur möglich, was auch den Gesetzmäßigkeiten der Natur entspricht – und Jesu Wunder gehen darüber hinaus. Wunder sind doch unmöglich, oder es steckt irgendein Trick dahinter - das ist jedenfalls die gängige Überzeugung mit der nicht nur meine Schüler Jesu Wundererzählungen lesen. Die Unglaublichkeit der Wunder wird dann leicht auf Jesus selbst übertragen: auch der ist – unmöglich, oder irgendein Trickser.
Da bleibt eigentlich nur eins: her mit so einer Tüte, oder besser gleich zwei, vielleicht gibt’s ja auch was zum Sammeln, wie damals.
MUSIK
Der Moment kurz von dem Öffnen einer Wundertüte ist noch wie früher: die Spannung steigt. (geräuschvoll werden zwei Tüten geöffnet, der Inhalt fällt hörbar heraus)
Na also, das steckt hier drin – in der einen ist ein Radiergummi mit Fisch- Motiv, in der anderen ein Reflektor für’s Fahrrad in Engelsgestalt. Ich gebe zu, ich bin ein bisschen enttäuscht. Das sind ziemlich gewöhnliche Sachen. Offensichtlich gehöre ich nicht zur Zielgruppe des Tüteninhaltes. Das ist kein Wunder, so eine Tüte ist ja immer ein wenig wie die sprichwörtliche ‚Katze im Sack’, und sie ist ja eigentlich für Kinder gedacht.
Ob die eigentliche Zielgruppe etwas damit anfangen kann? Auch die, die Jesu Wunder vor 2.000 Jahren miterlebten, waren vor allem eins: irritiert. Wer ist das, der so was kann: Wind und Wellen beherrschen, Kranke heilen, böse Geister vertreiben, Tote auferwecken? Das fragen in den Evangelien nicht nur die Zuschauer, sondern sogar seine Jünger, die es doch eigentlich wissen müssten!
Und nicht genug damit, oft verbietet es Jesus sogar, seine Wunder publik zu machen – dabei wären das doch irgendwie Beweise oder könnten zumindest für ihn werben – so würde man das heute wohl sehen oder auch machen, der Slogan ‚nichts ist unmöglich’ verkauft heute ja auch Autos.
Die Wahrheit ist: aus Wundern allein lässt sich nicht erkennen, wer Jesus ist, damals nicht und heute auch nicht. Die Meinungen gingen weit auseinander – die einen hielten ihn für einen Magier oder Scharlatan, andere, weil er beanspruchte, dass sein Vollmacht Wunder zu tun von Gott kommt, gar für einen Gotteslästerer, der mit dem Tod bestraft gehört oder gleich für einen Abgesandten des Teufels, beherrscht er doch die dunklen Mächte.
Sicher, die Zeitgenossen Jesu hatten eine andere Weltsicht – für die Menschen damals war es noch selbstverständlich, dass Gott die Naturgesetze beherrscht und natürlich auch durchbrechen kann. Heilung und Religion waren eng miteinander verbunden, der Heilgott Asklepios war einer der Beliebtesten und hatte regelrechte Therapiezentren. Gebete um Heilung finden sich viele in den Psalmen.
Ja, als Erweis göttlicher Macht und Sendung gehörten Wunder unbedingt dazu - und vielleicht sind auch wir heute nicht ganz frei davon, die Sehnsucht nach Wundern jedenfalls ist geblieben.
Aber trotzdem: aus Wundern allein ist Jesu nicht zu erkennen. Die Wunder können den Zugang zu Jesus sogar versperren. Wer nur auf das sieht, was vor Augen ist, verliert vielleicht den Blick für das Eigentliche. Wer seinen Wahrheitsbegriff nur aus dem bezieht, was mit den Augen zu sehen und mit den Händen zu greifen ist, muss erst lernen, tiefer zu sehen.
Genau dazu aber will Jesus helfen. Für ihn sind die Wunder Sehhilfen, Erkennungszeichen für das, worum es ihm eigentlich geht: Darum, dass mit ihm und in ihm das Reich Gottes zu den Menschen gekommen ist. ‚Blinde gehen, Lahme sehen und den Armen wird das Evangelium – die frohe Botschaft – verkündet‘, das lässt Jesus dem Johannes ausrichten, der auch wissen will, was eigentlich mit Jesus los ist. Schau mich an, hör’ auf mich, sagt Jesus damit, Gott ist da, bei dir.
Du kannst mit Gott leben. Du wirst eine neue Qualität von Leben erleben – ob du krank bist oder nicht, ob Zweifel in deinem Glauben manchmal überwiegen, ob die Welt vom Untergang bedroht ist oder du vom Tod. Darum gehen vielen Heilungen Versöhnungen mit Gott voraus, darum hilft Jesus auch denen, die zweifeln, darum rettet er auch die, die sich verloren glauben. Und die Botschaft der Auferweckungen heißt: mit Jesus wirst du leben, auch, wenn du stirbst. Das sind die Wunder, die mit einem tieferen Blick zu erkennen sind. Vollends erst im Licht seiner Auferstehung vermochten die Jüngerinnen und Jünger das eigentliche Wunder zu erkennen: Jesus ist der Christus, in Jesus ist Gott bei mir – darum beherrscht er wie Gott die Schöpfung, darum ist er der Herr über Krankheit und Leid, sogar über den Tod. Das eigentliche Wunder ist Jesus selbst, sein Angebot, in ihm und mit ihm Gott zu erleben. Und das passt in keine Tüte.
MUSIK
Was fange ich jetzt mit den Sachen aus der Tüte an? Unsere achtjährige Sophie freut sich bestimmt über den Engel-Reflektor, das ist ja auch ein schönes Zeichen für die Begleitung Gottes, und der Fisch-Radiergummi kann so manchen Fehler im Schulheft der dritten Klasse aus der Welt schaffen - auch wunderbar.
Als Schulpfarrer mache ich gute Erfahrungen damit, die Wundergeschichten nachzuspielen. Mitzuerleben, wie aus Versöhnung Heilung wird, wie Zweifel zum Glauben gehören und Trauer in Mut verwandelt wird – das ist auch in unserer Welt ein Wunder und regt an, von Wundern im eigenen Leben zu erzählen, von Vertrauen, Hilfe und Trost, die Zeichen sind für die Gegenwart des Reiches Gottes, das noch vollendet wird.
Und auch, wenn die Wundertüten vielleicht nicht der Verkaufsschlager des Kirchenladens werden, so eine Art Basislager des Reiches Gottes ist hier schon – wie in vielen Pfarr- und Gemeindehäusern, in offenen Kirchen, Diakoniestationen und kirchlichen Einrichtungen. Hier gibt’s Kontakte, Veranstaltungen und Raum zur Begegnung zwischen Gott und den Menschen, Wunder nicht ausgeschlossen - in die Kirche wieder eintreten kann man da übrigens sehr unkompliziert auch. Aber falls Sie noch einen Schuhkarton mit Plastikfiguren aus den Sechzigern irgendwo haben, können Sie sich gerne an mich wenden, in meinem Regal ist noch Platz.