Glück ist zu tun, was Not wendet
Manchmal tut eine Wahrheit ja richtig weh, finde ich. Zum Beispiel diese hier: Mein Glück ist immer das Glück der anderen. Ich kann alleine gar nicht glücklich sein, solange andere unglücklich sind. Mein Haus, mein Auto, mein Einkommen sind zwar schön und vielleicht beruhigend, aber glücklich macht das alles nicht. Dafür gibt es viel zu viele Unzufriedene, die in ihren schönen Häusern und Autos sitzen. Mein Glück ist immer das Glück der anderen. Das ist wahr, denke ich.
Aber richtiges Denken allein genügt leider auch nicht. Jede allgemeine Wahrheit ist eine langweilige Wahrheit. Alle stimmen ihr zu und leben dann weiter wie bisher. Darum möchte ich zu der allgemeinen Wahrheit über das Glück noch eine Geschichte vom Glück erzählen. Sie ist um das Jahr 1900 geschrieben worden vom russischen Schriftsteller Anton Tschechow (1860 – 1904). Der ist in seinem Land damals ein angesehener Arzt und behandelt gerne auch Menschen, die kein Geld haben. Nebenbei schreibt er Theaterstücke wie „Der Kirschgarten“ und „Die Möwe“, die erst unbeachtet bleiben und heute weltberühmt sind.
Tschechow wird nur 44 Jahre alt. Er ist stark tuberkulosekrank und stirbt bei einer Kur in Badenweiler nahe Freiburg. Ich weiß nicht, wie glücklich er war. Ich weiß aber, dass er eine wunderbare Geschichte über das Glück geschrieben hat. Sie heißt „Stachelbeeren“ und ist für mich eine der schönsten Glaubensgeschichten, die nicht in der Bibel stehen.
MUSIK
Stachelbeeren ist die Geschichte zweier Brüder, die sehr unterschiedlich aufwachsen. Der eine lebt unauffällig und sorgfältig, der andere träumt viel. Er träumt davon, Geld zu sparen und dann einen Gutshof zu kaufen, auf dem er Stachelbeeren anpflanzt. Das ist sein Lebenstraum vom Glück: Eigene Stachelbeeren zu pflanzen, zu ernten und zu essen. Sogar seine Ehe ordnet er dem unter. Er heiratet diese Frau nur, weil sie ein gewisses Vermögen für seinen Traum mitbringt. Und er behandelt seine Frau so, dass sie bald vor Gram stirbt.
Aber sein großer Traum erfüllt sich. Nach langer Zeit des Wartens und Planens sitzt er auf der Terrasse seines Bauernhofes, lässt sich von seinen Knechten als „Edler Herr“ und „Adliger“ anreden und erntet seine Stachelbeeren. Die bietet er auch seinen Gästen an. Als sein Bruder eines Tages bei ihm zu Besuch ist, muss der die Stachelbeeren natürlich sofort kosten. Sie sind - fürchterlich sauer, einfach nicht essbar. Was den Besitzer in seinem alleinigen Glück aber keineswegs stört.
Nur der Bruder macht sich so seine Gedanken über glückliche Menschen und denkt vor sich hin: Geld macht den Menschen seltsam, genauso wie Wodka. Seht euch mal die glücklichen Menschen an in ihren Häusern und Straßen. Sie sehen sich selber, immer wieder nur sich selber – aber etwas sehen sie nie: die Unglücklichen. Die sind auf den Straßen vor ihren Häusern oder im Park neben den Häusern und frieren oder hungern. Vor der Tür eines jeden Glücklichen lebt immer auch ein Unglücklicher, der schon verloren hat. „In dieser Nacht wurde mir klar“, sagt der Bruder dann zu einem Freund, „mir wurde klar: es gibt kein Glück…und wenn das Leben einen Sinn und ein Ziel hat, dann liegen dieser Sinn und dieses Ziel nicht in unserem Glück, sondern in etwas Vernünftigerem und Größerem. Tun Sie Gutes!“
MUSIK
Das Glück der einen, sagt die Geschichte von den Stachelbeeren, ist oft schwer erkauft mit dem Unglück der anderen. Darum schreibt Tschechow nicht gerne vom Glück. Die Bibel übrigens auch nicht. Sie spricht eher von Seligkeit und beschreibt sie so: Welchen Nutzen hätte der Mensch, wenn er die ganze Welt gewönne und verlöre sich selbst oder nähme Schaden an sich selbst? (Neues Testament, Lukasevangelium Kapitel 9, Vers 25).
Je mehr sich ein Mensch um sich selbst kümmert, desto mehr verliert er andere Menschen aus den Augen. Das ist selten eine böse Absicht, das ist beinahe zwangsläufig. Glück allein macht nicht glücklich. Davon können die ein Lied singen, die viel Glück hatten und es beinahe genauso schnell wieder verloren haben. Weil Glück geteilt werden muss. Immer. Mein Glück ist das Glück der anderen.
Mit dieser Wahrheit bin ich weit weg von dem, was heute oft gelebt und gewünscht wird. Es scheint ein heimliches Lebensrezept zu geben, das hat drei große Buchstaben und heißt: ICH. Zuerst komme ich. Mein Platz in der Bahn, mein Platz vor dem Schalter, mein Platz vor der Kasse. Oder: Warum ich? Sollen sich doch andere darum kümmern. Was hat das mit mir zu tun? Mir hilft auch niemand. Ich bin unschuldig; und vieles mehr.
Ich will das nicht verurteilen, denn ich neige auch dazu, merke ich.
Wer nicht der erste ist, hat oft schon das Gefühl zu verlieren. Vielleicht ist es ja so, dass Menschen in Zeiten von Vereinzelung, kleinerer und neu zusammen gesetzter Familien, mancher Kämpfe im Beruf und größerer Ängste vor Verlust immer stärker meinen, allein nur auf sich schauen zu müssen und sich fragen zu müssen: Wo bleibe ich? Es gibt hier nichts zu verurteilen, nur zu verstehen. Dann erst erkenne ich nämlich, dass Glück oder Seligkeit nur in Beziehung möglich ist.
Wer nur auf sich achtet, auf den achtet sonst keiner mehr. Und dann sind auch noch die heiß ersehnten Stachelbeeren fürchterlich sauer. Ist das nicht schrecklich? fragt Anton Tschechow. Wie falsch kann der Traum vom Glück sein, wenn seine Erfüllung oft so düster ist und so bitter?
MUSIK
In der Geschichte von Anton Tschechow klingt die Wahrheit so: Wenn das Leben einen Sinn und ein Ziel hat, dann liegen dieser Sinn und dieses Ziel nicht in unserem Glück, sondern in etwas Vernünftigerem und Größerem. Tun Sie Gutes!
Nichts von dem, was ich gebe, ist verloren. Das garantieren die Worte und das Leben Jesu. Wer die Gnade auf seinem Konto oder die Gnade der Liebe in seinem Leben wirklich erkennt, kann nicht verlieren, wenn er gibt. Geben heißt: Tu das dir Mögliche; gib, was dir nicht schadet – es darf aber ruhig auch mal weh tun. Tu Gutes nach deinen Kräften und Gaben - besten Wissens und Gewissens. Suche nicht das Glück nur für dich, suche nicht allein dein, sondern das Glück für möglichst viele.
Mein Glück ist immer das Glück der anderen.