Plädoyer fürs Wandern – Gehen und das Leben spüren
I
Wir hatten uns fest vorgenommen, mal wieder richtig sportlich zu sein in dieser ersten Januarwoche: Schweiz, Berge, Sonne, Schnee. Meine Frau und ich wollten Skier ausleihen und uns den leichten bis mittelschweren Pisten zuwenden, zuerst den blauen, dann den roten. Gleich am ersten Tag haben wir uns die entsprechenden Sportpässe für die Seilbahnen besorgt. Aber dabei ist es dann auch geblieben. Denn, wunderbare Übereinstimmung, beide hatten wir keine rechte Lust, uns in Skistiefel zu zwängen und auf die Bretter zu steigen. Niemand zwingt uns, wir sind im Urlaub, haben wir uns gesagt – und haben’s gelassen.
Die Sportpässe haben wir trotzdem voll ausgenutzt. Denn damit sind wir nun tagelang munter hin und her gegondelt durch die nähere Umgebung. Natürlich sind wir auch mal ausgestiegen. Und wir haben uns auch viel bewegt. Denn es gibt da oben im Schnee ja nicht nur Pisten, sondern auch Wanderwege. In 2000 Metern Höhe in der Sonne spazieren zu gehen: ein echter Genuss! Streckenweise kann man da sogar schon von Wandern sprechen, denn hier und da ist natürlich auch ein bisschen Anstrengung mit dabei.
Die Vorzüge gegenüber dem Skilaufen werden schnell klar: Erstens sieht man viel mehr von der Landschaft; man gewinnt andere Blicke auf das Panorama – und auf das, was man direkt am Weg vor sich hat. Zweitens kann man miteinander reden; und gerade im Gehen kann man sich oft ja besonders gut unterhalten. Gespräche beim Wandern haben einen ganz eigene Qualität. Denn da kommt irgendwie Bewegung in den Geist; und da kommt Geist in die Bewegung. Viele kennen das: Manchmal fallen einem Dinge ein, auf die man sonst wahrscheinlich gar nicht gekommen wäre. Man redet locker und assoziativ und ist gerade dadurch manchmal ganz bei der Sache. Man kann minutenlang schweigend nebeneinander herlaufen und ist doch ganz dicht beieinander. Natürlich kann man auch ganz einfach vor sich hintrotten und seinen eigenen Gedanken nachhängen – oder auch mal gar nichts denken.
So ist diese erste Januarwoche in den Bergen dann nicht der geplante Skiurlaub geworden, sondern ein ungeplanter Wanderurlaub. Und wie passend: Frisch zurückgekehrt, springt mir vom aktuellen Blatt meines Kalenders das folgende Zitat entgegen: „Wandern ist die vollkommene Art der Fortbewegung, wenn man das wahre Leben entdecken will. Es ist der Weg in die Freiheit.“ Das stammt von der Schriftstellerin Elizabeth von Arnim. Klar, das Zitat kommt etwas steil daher. Trotzdem gefällt es mir.
II
Wie war das: „Wandern ist die vollkommene Art der Fortbewegung, wenn man das wahre Leben entdecken will. Es ist der Weg in die Freiheit.“ So drückt sich nicht nur eine poetisch veranlagte Schriftstellerin aus. Genau so reden auch die Profis, diejenigen also, die das Wandern ernsthaft betreiben. Manche schreiben auch darüber. Einer von ihnen heißt Ulrich Grober*.
Der stellt Folgendes fest: „In der globalisierten Kultur des 21. Jahrhunderts keimt die Freude am Herumstreifen in der Natur wieder kräftig auf.“ Das liegt zunächst an der schlichten Tatsache, dass uns Menschen die Geschwindigkeit von vier, fünf Kilometern in der Stunde einfach gut tut. Das Schritttempo ist uns sozusagen auf den Leib geschrieben. „Wandern ist die natürlichste Form der Entschleunigung“, sagt Grober. „Ich nehme für eine bestimmte Zeit das Tempo aus meinem Alltag, ich reduziere es auf das menschliche Maß.“ Offenkundig wird es zunehmend wichtig, diese Möglichkeit zu haben und sie zu nutzen. Denn auf der einen Seite erhöht sich bei den meisten das Lebenstempo; Arbeitsabläufe, Aktivitäten und Erlebnisse laufen immer schneller und damit oft auch flüchtiger. Auf der anderen Seite herrscht weitgehend Bewegungsarmut; Büromenschen zum Beispiel gehen im Schnitt in der Woche nur noch drei bis fünf Kilometer zu Fuß. Unser Körper ist aber für weit mehr ausgelegt – und braucht auch mehr. Wer ihm ab und an Auslauf gönnt, kann schnell merken, wie er es einem dankt mit einer Portion Wohlbefinden. Erst recht gilt das natürlich von einer Wanderung über mehrere Stunden. Wobei Fortgeschrittene natürlich noch mal mit anderen Zeiten und anderen Entfernungen rechnen. Die sind oft ja tagelang unterwegs – und tragen alles mit sich herum, was sie für diese Zeit benötigen. Dass auch Durstrecken und Strapazen dazugehören, muss man nicht extra betonen; wohl aber, dass gerade sie für diese wohlige Mischung aus Erschöpfung, Stolz und Glück sorgen, die einen dann am Etappenziel durchströmt.
Bei dem Ganzen geht es nicht nur darum, sich zu entschleunigen und sich zu bewegen. Man nimmt auch intensiv wahr – mit allen Sinnen: Was ich vor mir sehe, welche Geräusche ich höre, wie die Luft riecht, wie sich der Boden unter meine Füßen anfühlt. „Nur wo du zu Fuß warst, warst du wirklich“, behauptet Ulrich Grober. „Man blickt zurück und sieht den Waldrand, an dem man vor zwei Stunden rastete. Man schaut nach vorn zu der Kammlinie am Horizont, die man morgen erreichen wird... Nah und fern bekommen eine sinnliche Qualität.“
Wo ich gerade bin, wo ich herkomme, wo ich hin will und wie ich dorthin komme – die Orientierung beschäftigt einen auf einer Wanderung ja ganz direkt und handfest. Aber auch im übertragenen Sinn laufen solche Fragen manchmal ein gutes Stück mit. Wo ich gerade stehe, worauf ich zurückblicke, was ich als nächstes vor mir habe.
Beim Wandern kann man das Leben gut spüren. Und religiöse Menschen merken hier und da auch mal ganz deutlich, wie sie der Gott anrührt, mit dem sie sich durchs Leben bewegen.
III
Wer wandert, bewegt sich in der Natur und in der Landschaft. Gleichzeitig bewegt man sich dabei oft aber auch sozusagen in einer inneren Landschaft und an einem ganz bestimmten Ort in seiner Lebensgeschichte. Der Blick kann sich öffnen sich für eine Station, die vielleicht schon länger zurückliegt; und ein Erlebnis kommt noch mal ganz nah heran und erscheint in einem neuen Licht. Wer so einen dankbaren Augenblick auch mit Gott erlebt, kann dann sagen: Danke, dass du mir den schenkst! Oder man schaut voraus auf etwas, das demnächst ansteht – vielleicht mit ganz gemischten Gefühlen. Doch Schritt für Schritt gewinnt die Zuversicht an Boden. Wer wandert, bewegt sich in der Natur und in der Landschaft. Als religiöser Mensch sage ich: Ich bewege mich in der Schöpfung Gottes. Da sagt die innere Stimme dann womöglich noch etwas mehr als „Mensch, ist das hier schön!“. Sie sagt zum Beispiel, mit Worten aus der Bibel: „Wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele“ (Psalm 139, Vers 14). Dadurch kommt noch ein anderer Klang und eine andere Farbe ins Spiel.
In der Bibel findet das Wandern in unserem modernen Sinn überhaupt nicht statt. Klar, da sind viele Menschen unterwegs. Aber die sind auf der Flucht oder auf einem langen Weg in eine neue Heimat oder sie haben einen Auftrag, den sie erledigen müssen. Nur bei zweien gibt es dort so etwas Ähnliches wie Wandern. Der Erste ist Gott selbst. Von ihm wird am Anfang sehr menschlich berichtet: Er ging im Garten Eden umher, als der Abendwind den Tag abkühlte (1. Buch Mose, Kapitel 3, Vers 8).
Der Zweite ist Jesus. Er ist mit den Seinen durchs Land gezogen, hat auf den Wegen hin und her mit ihnen intensive Gespräche geführt, war gespannt, wo sie am Abend unterkommen würden und vor welche Aufgaben ihn der neue Tag stellen würde. Dabei hat sich Jesus auch öfters mal von den anderen abgesetzt und Ruhe gesucht auf Wegen und an Orten, die in diesem Moment nur ihm allein gehören sollten.
Bei alldem scheinen Erfahrungen durch, die in der Sprache des schon öfters zitierten Wanderprofis Ulrich Grober so klingen: „Unterwegs wird man zugänglich für seine innere Stimme... Beim Wandern bekommen Tagträume eine besondere Frische und Lebendigkeit... Der unangestrengte, monotone Rhythmus des Gehens begünstigt die Abfolge von Einfällen. Die Aufmerksamkeit kann sich nach innen verlagern...“ Wie gut, das alles sind nun keine religiösen oder sportlichen Ausnahmeerscheinungen! Erfahrungen dieser Art warten sozusagen vor der Haustür. Ein Sonntag – und erst recht ein ganzes Wochenende – ist wie gemacht für eine längere Wanderung, allein oder zu zweit oder in einer Gruppe. Und manchmal tut es sogar schon ein Spaziergang.