
Von der Couchpotato zur Langstreckenwanderin
"Geh aus, mein Herz, und suche Freud in dieser lieben Sommerzeit an deines Gottes Gaben." Seit Tagen singe und summe ich dieses Lied vor mich hin. Es ist ein Kirchenlied. Fast 400 Jahre alt. Der Text ist von Paul Gerhardt.
Ein Lied über die Natur
Er beschreibt in diesem Lied die sommerliche Natur. Grüne Bäume, saftiges Gras. Bunte Blumen. Summende Bienen. Die ganze Fülle, die der Sommer so mit sich bringt. Da geht mir das Herz auf. Vor Freude und vor Glück. Am besten erleben kann ich das beim Wandern. Nächste Woche zum Beispiel. Da bin ich mit Freunden unterwegs. Wir machen eine Tagestour zum Altkönig. Das ist ein Berg im Taunus. Er ist nur zu Fuß zu erreichen. Zusätzlich zu einer einzigartigen Landschaft gibt es viel Aussicht. Der Feldberg scheint zum Greifen nahe. Und es gibt jede Menge Bänke und Tische. Sie laden zum Picknick und Ausruhen ein.
Wenn ich so darüber nachdenke, merke ich: Ich mache das viel zu selten. Einfach mal raus. Ab in die Natur. Den Alltag hinter mir lassen. Früher war ich öfter wandern. Einmal sogar mehrere Wochen am Stück. Das war in den Semesterferien. Ich bin mit Studienkollegen in die Toskana gefahren. Mit Zelt und Rucksack haben wir uns auf den Weg gemacht. Gestartet sind wir in Florenz. Am Ende wollten wir dort wieder ankommen. Vielmehr hatten wir nicht geplant. Mit der Wanderkarte in der Hand sind wir einfach losgelaufen. Ich weiß noch: die ersten Tage waren hart. Jeden Morgen den Rucksack wieder auf die schmerzenden Schultern packen. Die Blasen an den Füßen. Aber dann eines Morgens fiel mir auf: Mit tut nichts mehr weh. Der Rucksack gleitet wie von selbst auf meinen Rücken. Das war ein fantastisches Gefühl.
Mit der Wanderkarte in der Hand sind wir einfach losgelaufen
Gelebt haben wir damals von der Hand in den Mund. Häufig wussten wir morgens nicht, wo wir abends schlafen würden. Im besten Fall gab es einen Campingplatz. Mit warmem Wasser. Zum Duschen und Wäschewaschen. Aber in der Regel haben wir in kleinen Dörfern an Kirchen und Pfarrhäusern geklopft. Wir wurden freundlich empfangen und durften auf dem Kirchhof zelten. Manchmal lud uns jemand zum Abendessen ins Pfarrhaus ein. Nie wieder haben mir Spaghetti und Tomatensoße besser geschmeckt. Obwohl es schon über dreißig Jahre her ist, erinnere ich mich sehr deutlich an diesen Wanderurlaub. Und ich glaube, es liegt am Laufen. Schritt für Schritt erlebe eine Reise ganz anders. Jeder Augenblick erschien mir damals intensiv. Ich habe mich so lebendig gefühlt. Und frei. Ich hätte schreien können vor Glück.
Verglichen mit damals bin ich heute eine echte Couchpotato. Eine Sofakartoffel. Dabei ist das Glück des weiten Wanderns keine Frage des Alters. Oder der Kondition. Das hat die Langstreckenwanderin Christine Thürmer erfahren. Ihr Buch „Weite Wege wandern“ liegt auf meinem Nachtisch.
Musik
Als Langstreckenwanderin eineinhalbmal um die Erde gewandert
Christine Thürmer ist Langstreckenwanderin. Sie ist die meistgewanderte Frau der Welt. Auf allen fünf Kontinenten war sie unterwegs. 65.000 Kilometer hat sie zu Fuß zurückgelegt. Krass! Das ist eineinhalbmal um die Erde. Angefangen hat für Christine Thürmer alles im Jahr 2003. Sie war auf einer USA-Reise im Yosemite-Nationalpark. Dort traf sie zum ersten Mal Langstreckenwanderer. Die waren auf dem Weg von Mexiko nach Kanada. Thürmer faszinierten diese braungebrannten, abgeranzten Typen. Sie sagt: „Die haben so ein wahnsinniges Glück ausgestrahlt, eine Zufriedenheit und ich dachte: Boah! Das will ich auch.“ Doch zuhause warteten der Beruf und eine erfolgreiche Karriere als Managerin. Aber dann - ein paar Jahre später - kommen zwei Dinge zusammen: Christine Thürmer wird überraschend gekündigt. Zeitgleich stirbt ein guter Freund. Viel zu früh an einem Schlaganfall. Das gibt für sie den Ausschlag. Sie kommt zu der Erkenntnis: „Die wichtigste Ressource im Leben ist nicht Geld, sondern Lebenszeit. Denn anders als Geld ist Lebenszeit weder planbar, noch vermehrbar.“
Und ich dachte: "Boah! Das will ich auch.“
Seitdem wandert sie das halbe Jahr um die Welt. Das andere halbe Jahr plant sie ihre nächste Tour, tritt in Talkshows auf. Sie schreibt Bücher und ermutigt Menschen, sich auf den Weg zu machen. Christine Thürmer sagt, dafür braucht es nicht viel. Man muss nicht jung sein, nicht reich und auch nicht extrem fit. Sich selbst beschreibt sie als gänzlich unsportlich, eher der Typ gemütlich. Mit etwas Übergewicht, X-Beinen und Plattfüßen. Viel wichtiger, sagt sie, ist das Reisegepäck. Fünf Kilo Ausrüstung hat sie dabei. Mehr nicht. Und das ist wirklich nicht viel. Umgerechnet grade mal zwei Säcke Kartoffeln. Ich glaube, selbst meine Handtasche wiegt mehr.
Um auf die fünf Kilo zu kommen, überlegt Thürmer ganz genau: Was brauche ich wirklich? Und was ist „nice to have“, aber nicht überlebenswichtig? Darin ist sie Expertin. Sie schneidet sogar den Stiel ihrer Zahnbürste ab und trennt die Etiketten aus der Kleidung. Jedes Gramm zählt. Was am Ende übrig bleibt, reicht aus um ganze Kontinente zu durchwandern. Sie sagt: „Das macht einen plötzlich wieder sehr demütig und vor allem sehr zufrieden mit dem, was man hat.“
Überhaupt hat das weite Wandern Christine Thürmers Leben positiv verändert. Das hat für sie viel damit zu tun, dass sich beim Wandern das Zeitgefühl verändert. Das habe ich damals bei meiner Wanderung durch die Toskana auch gemerkt. Man lebt völlig im Hier und Jetzt. Da ist keine Zeit für verdrießliche Blicke auf die Vergangenheit oder für Zukunftsängste. Nur der Moment. Und das Gefühl: Ich – hier – genau so ist es richtig. Dieses Gottvertrauen ist auch für Christine Thürmer zurückgekommen. In ihrem Buch schreibt sie: „Jeden Abend liege ich in meinem Zelt oder Bett, denke über den vergangenen Tag nach und könnte vor Freude über die wunderbaren Erlebnisse laut schreien >Danke! Danke! Danke!<. Obwohl ich das gar nicht beabsichtigt hatte, habe ich unterwegs das große Glück gefunden. (…) Gott sei Dank.“ Und was heißt das jetzt für mich? Soll ich meinen Job hinter mir lassen und loslaufen?
Musik
Was hilft mir glücklich zu sein?
Müssen wir jetzt alle raus aus dem Job und tausende Kilometer wandern, um glücklich zu werden? So wie Christine Thürmer, die Langstreckenwanderin? Ich glaube nicht. Was ich aus der Lektüre ihres Buches lerne, sind zwei Dinge. Zuerst: Meine Lebenszeit ist wichtig. Die ist nämlich begrenzt. Und zum zweiten: Um Glück zu finden, braucht es eher leichtes Gepäck. Christine Thürmer hat Recht. Das weiß ich. Und trotzdem mache ich es oft anders. Ich lasse Lebenszeit einfach vorbeifließen oder packe sie mit unnützen Dingen voll. Dabei ist das Leben auch eine Art Langstreckenwanderung. Ich habe schon ganz schön viele Kilometer abgelaufen. Wie viele noch vor mir liegen, weiß ich nicht.
Ich finde, ich sollte meine Lebenszeit bewusster nutzen. Und da fällt mir vieles ein. Zum Beispiel könnte ich mich häufiger mit mir lieben Menschen treffen. Oder: Schon lange überlege ich ein Ehrenamt zu übernehmen. Wie wäre es mit einer Lesepatenschaft in der Grundschule? Einmal bei einem Lady-Gaga-Konzert Front of Stage neben den Hardcore-Fans stehen. Ach und wie oft habe ich schon meiner Freundin versprochen, sie in Australien zu besuchen. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Was willst du sein: Eine Sofakartoffel oder eine Langstreckenwanderin?
Christine Thürmer würde mir wahrscheinlich sagen: Liebe Pia, denk daran, deine Lebenszeit ist nicht vermehrbar. Entscheide dich, wer willst du in deinem Leben sein? Eine Sofakartoffel oder eine Langstreckenwanderin? Wenn du etwas tun willst, dann tue es jetzt. In deinem Leben gibt es noch viel zu entdecken. Es wäre doch schade, wenn du alles verpassen würdest, nur weil du glaubst: Ich kann das nicht. Ich habe jetzt keine Zeit. Ich bin dafür zu alt. Oder nicht fit genug.
Wie gut, dass ich nächste Woche mit meinen Freunden im Taunus wandern bin. Ich komme runter vom Sofa. Treffe liebe Menschen. Setzte bewusst einen Schritt vor den anderen. Erfreue mich an der Natur und danke Gott. Das ist doch schon mal ein Anfang. Und das Lied „Geh aus, mein Herz“ von Paul Gerhardt packe ich auch ein. Vielleicht nicht alle fünfzehn Strophen. Ich muss ja aufs Gewicht achten.
Quellen:
Thürmer, Christine; Weite Wege wandern, München 2023
https://rundfunk.evangelisch.de/christine-thuermer-13822
https://www.deutschlandfunkkultur.de/christine-thuermer-langstreckenwanderin-sinnsuche-gott-100.html