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Gestohlene Zeit
picture alliance/dpa-Film

Gestohlene Zeit

Lisa Maria Tumma
Ein Beitrag von Lisa Maria Tumma, Evangelische Pfarrerin, Rundfunkbeauftragte für den Hessischen Rundfunk
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Dem Sonntag, 30. März 2025 fehlt durch die Zeitumstellung eine Stunde. Doch auch an anderen Tagen fragt man sich öfter, wo bloß die Zeit geblieben ist. Autorin Lisa Maria Tumma kennt das und hat Ideen, wie wir mehr Zeit erleben, die dem Leben Tiefe gibt. Sie erzählt die Geschichte von Michael Endes Buch "Momo", die mit Zeitdieben zu tun hat. Das Foto zeigt die deutsche Schauspielerin Radost Bokel aus der Verfilmung von 1986. 

Die Kollegin auf dem Flur oder das Pling des Handys

Der Kalender ist voll, ich gestresst – dabei war ich extra schon so früh im Büro. Eine kurze Kaffeepause zwischen Mails und Terminen. Für mehr reicht‘s nicht. Auf dem Weg zur Kaffeemaschine kommt mir eine Kollegin entgegen. Ich sehe schon von weitem: mit ihr stimmt was nicht. „Hey, geht es dir gut?“ Sie schüttelt den Kopf, holt tief Luft: Zuhause ist gerade alles schwer. Ärger mit der Familie. Ständig gibt’s Streit. Alles hängt an ihr. Ich höre ihr zu. Bis ich im Hintergrund das „Pling“ höre – eine neue Email. Und gleich noch einmal: „Pling“. Eine zweite – und wieder eine. Ich muss zurück zum Schreibtisch, werde nervös.

Momo und die grauen Herren

Rückblickend denke ich: Die Situation auf dem Flur erinnert ein bisschen an Momo, die Geschichte von Michael Ende. Momo ist ein ganz besonderes kleines Mädchen. Sie hat riesig viel Zeit und kann zuhören wie niemand sonst. Wer Momo besucht und ihr die Sorgen erzählt, fühlt sich danach besser. Alle freuen sich, wenn sie Momo sehen und mit ihr plaudern können. Bis eines Tages eine dunkle Macht auftritt: Die grauen Herren.

Effizienz ist nicht alles

Die grauen Herren sind Zeitdiebe. Sie schleichen sich unauffällig in das Leben der Menschen und bedrängen sie: sie sollen Zeit sparen. Sie könnten dann irgendwann ein anderes Leben führen. Sie müssen nur schneller und mehr arbeiten, immer fokussiert, kein unnützes Geschwätz, ohne lange Pausen. Die grauen Herren rechnen vor, wie viele Stunden, Minuten, Sekunden verloren gehen durch solche „Zeitverschwendung“. Damit treffen sie einen Nerv: Die Menschen arbeiten von da an effizienter und stöhnen über alles, was ablenkt und unnötig Zeit kostet.

Wer klaut die Zeit?

Natürlich weiß ich: Die Geschichte ist überspitzt. Trotzdem erkenne ich mich darin wieder. An diesem Morgen, auf dem Flur: Meine Kollegin erzählt. Ich höre zu, aber denke mir: „Eigentlich habe ich für so was heute gar keine Zeit!“ Es scheint: Die grauen Herren haben mich längst im Griff. Das Gespräch bringt alles durcheinander, klaut mir wertvolle Minuten. Andererseits: Ich merke ja: meine Kollegin braucht gerade ein offenes Ohr. Wenn da nicht schon wieder das „Pling“ wäre. Ich frage mich: Was bestimmt eigentlich meine Zeit? Und wer klaut sie: Die Kollegin oder die Mails?

Musik

Die Zeit reicht nicht für alles, was ich will

Meine Kollegin braucht ein offenes Ohr, aber der Schreibtisch läuft über. Und meine Arbeit ist mir wichtig. Ich mache sie gerne und gründlich – sogar an solchen Tagen, wo es eigentlich zu viel ist. Aber ich mag auch meine Kollegin und sie tut mir leid. Ich will für sie da sein. Am liebsten würde beides machen: Arbeit und Zuhören. Aber dafür reicht die Zeit heute nicht. Für was gebe ich also meine Zeit?  

Nie ist man fertig

Die kleine Momo kann über diese Frage nur lachen. Hektik und Zeitdruck kennt sie nicht. Sie weiß: Zeit ist ein kostbares Gut, aber sie selbst hat mehr als genug davon und verschenkt dieses Gut von Herzen gerne. Doch damit ist Momo plötzlich alleine. Alle um sie herum verlieren immer mehr Zeit. Immer noch was zu tun. Nie genug Stunden. Nie ist man fertig. Momo beobachtet das genau. Und sie erkennt: Zeit ist etwas Rätselhaftes.

Chronos und Kairos

Sie tickt rhythmisch: Stunde um Stunde, Tag um Tag, Jahr um Jahr – ohne Pause, ohne Unterlass… Aber: manchmal scheint eine Stunde wie ein Wimpernschlag. Oder ein Augenblick wie eine Ewigkeit. Und beides stimmt: Die Uhr tickt gleichmäßig, aber die Zeit dehnt sich und rast ganz unterschiedlich. Um diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, lohnt sich ein Blick in die Bibel: Auf Griechisch, eine Sprache der Bibel, gibt es nämlich zwei Worte für Zeit: Chronos und Kairos. 

Chronos: Gut, dass man Zeit messen und planen kann

Chronos meint die mechanische Zeit, das gleichmäßige Ticken. Die Sekunden, Stunden, Tage, die mit Uhren gemessen und im Kalender erfasst werden. Kairos meint die erlebte Zeit. Die ist nicht messbar, man kann sie nicht planen. Es sind die besonderen Momente, in denen etwas Entscheidendes passiert. Wenn die Zeit gleichzeitig stillsteht und verfliegt und nur das Jetzt zählt. Ich finde: Beide Vorstellungen von Zeit sind wichtig. Chronos, die messbare Zeit, gibt dem Leben Struktur. Nur so weiß ich, wann etwas passiert oder wie lange es dauert. Dadurch kann ich den Alltag organisieren, Termine verabreden und die Zukunft planen. Erst so wird Fortschritt möglich. Das verstehen auch die Menschen in der Geschichte von Momo. Sie füllen deshalb ihre Kalender mit Terminen. Sie schaffen immer mehr in immer kürzerer Zeit. Aber sie versinken dabei regelrecht in den Alltagsrhythmen und merken gar nicht, was sie verlieren:

Kairos: Der einzigartige Moment macht glücklich

Kairos. Die andere Zeit. Die besonderen Momente, die nicht im Kalender stehen, die die Zeit anhalten: Wenn das entscheidende Tor fällt und im Stadion der Jubel ausbricht – und du stehst mitten drin!  Wenn der Morgentau in der Sonne glitzert und diese Schönheit dir plötzlich die Sprache verschlägt. Wenn du nach einem langen Tag die Tür öffnest und es duftet schon nach deinem Lieblingsessen. Es ist diese Zeit, die dem Leben Tiefe gibt. Die mich lebendig macht und noch Wochen später erfüllt – mit Jubel, Staunen, Liebe.

Himmlische Begeisterung spüren

Für mich als Christin sind das die Momente, in denen ich Gott spüre. Ich glaube: Es ist Gottes Kraft, die mich so lebendig macht. Die mich mit Begeisterung ansteckt, mich mit anderen verbindet, sodass ich mich geborgen fühle oder getröstet. Machen kann ich diese Momente nicht. Aber ich kann aufmerksam sein. Dann erlebe ich sie. Und gehe verändert weiter.

Den Zeitdieben auf der Spur

Leider geht es mir zu oft wie den Menschen in der Geschichte von Momo: Mein Kalender ist zu voll, ich eile durch den Alltag, die Stunden verfliegen. Meistens habe ich gar keinen Blick für diese Momente, in denen ich spüre: Gott ist da. Dabei wünsche mir mehr davon. Ich habe mich deshalb auf die Suche gemacht nach den Zeitdieben in meinem Leben. Ich habe mich gefragt: Wer stiehlt meine Stunden?

Musik

In der Fastenzeit bewusst mit der Zeit umgehen

Es passt gerade gut, nach den Zeitdieben zu suchen. Denn es ist eine besondere Zeit im Jahr: Passionszeit. Oder auch Fastenzeit – sieben Wochen, zwischen Aschermittwoch und Ostern. Viele verzichten jetzt auf schlechte Gewohnheiten wie zu viel Süßes oder Alkohol. Andere nutzen diese Wochen, um bewusst mit ihrer Zeit umzugehen. Sie fragen sich: Was tut mir wirklich gut? Und auf was kann ich verzichten. Oder: wie gebe ich den besonderen Momenten mehr Raum? Wie schaffe ich in meinem Alltag Platz für Zeit, die nicht planbar ist, die einfach passiert? Zeit für andere, für mich, für Gott.

Kostbare Zeit im Gespräch

Ich denke wieder an meine Kollegin auf dem Büroflur, die von ihren Sorgen erzählt hat, während bei mir die Arbeit aufgelaufen ist. Später wurde es stressig. Trotzdem war das ein schöner Moment. Sie hat mir ihr Herz geöffnet. Und ich konnte zuhören. Ich glaube, ihr ging es danach sogar ein bisschen besser. Sie hat mir keine Zeit gestohlen. Im Gegenteil: Schweres miteinander teilen verbindet uns. Wo wir so verbunden sind, ist Gott nah. Das Gespräch auf dem Flur war kostbare Zeit.

Zeitdieb gefunden

Einen anderen, echten Zeitdieb finde ich schnell: Scrollen durch Social Media. Da verfliegen die Minuten, nichts davon bleibt. Bilder und Videos rauschen vorbei. Ich fühle mich danach oft müde und leer – verlorene Zeit. Mein Fastenvorhaben ist also: Weniger Bildschirm. Und mehr Raum für die echten Momente. Bisher gelingt es mir so lala – aber bis Ostern sind es auch noch zwei Wochen.

Die gestohlene Zeit kommt zurück 

Und selbst wenn dann die Fastenzeit vorbei ist: Ich finde: Die Frage lohnt sich immer: Wo sind in meinem Leben Zeitdiebe? Und wie kann ich ihnen Einhalt gebieten? Der kleinen Momo gelingt es, die Zeitdiebe in die Schranken zu weisen und die grauen Herren zu besiegen. All die gestohlene Zeit kehrt zurück. Die Menschen machen endlich wieder Pausen, schwatzen, träumen und freuen sich miteinander. Ich will mir auch Zeit nehmen – zum Jubeln, Staunen, Lieben. Zum Gott-in-meinem Leben-Spüren.

Geschenkte Zeit, wertvolle Zeit

Dafür muss ich mir bewusst machen, was jetzt dran ist: meine Mails beantworten, Termine einhalten, meine Arbeit sorgsam erledigen. Diese Zeit ist mir wertvoll. Trotzdem soll Raum bleiben. Für Kaffeepausen, für ein offenes Ohr, Zeit für meine Kollegin. Dabei halte ich es mit Momo: Diese Zeit verschenke ich – und das von Herzen gerne.

 

 

 

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