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Bevor es zu spät ist
Foto: Stephan Meckel

Bevor es zu spät ist

Jörg Niesner
Ein Beitrag von Jörg Niesner, Evangelischer Pfarrer, Laubach
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hr4 Gottesdienstübertragung an Karfreitag, 18. April 2025, von 10:05 - 11:00 Uhr aus der der Evangelischen Stadtkirche in Laubach

Sie können unsere Seelsorger und Seelsorgerinnen von 11 Uhr bis 13 Uhr telefonisch erreichen unter der Telefonnummer 0 69 / 580 98 468.

Predigt von Pfarrer Jörg Niesner

Liebe Hörerinnen, liebe Hörer, liebe Gemeinde,

„Wer so stirbt, der stirbt wohl.“ – Mit diesem Satz endet das Lied, das wir gerade gesungen haben. Er begleitet mich schon lange. Kann man gut sterben? Und wenn ja, wie geht das?

Gut sterben - wie geht das?

Ich denke an eine Frau, die mir einmal von ihrem Bruder erzählte. Er starb ganz plötzlich. Sie hatte ihm kurz vorher noch eine Nachricht geschrieben: „Wir müssen mal reden.“ Dazu kam es nicht mehr.

Und dann gibt es die anderen Geschichten. Wie die von Susanne und ihrem Mann Christian. Er wusste, dass er sterben würde. Und er hat alles vorbereitet: Die Familie war oft an seinem Bett. Er wollte sich verabschieden – mit allen, die ihm wichtig waren. Worte, die lange nicht gesagt wurden, fanden endlich ihren Platz. "Es hat uns verändert“, hat Susanne gesagt. „Wir haben gemerkt, wie wichtig es ist, sich zu sagen, was man fühlt. Nicht erst, wenn die Zeit knapp wird.“

Auch Jesus bereitet seinen Tod vor

Am Kreuz ist klar: Jesus wird sterben. Und doch blickt er weiter auf andere. Er sieht seine Mutter Maria und seinen Freund Johannes. Jesus ahnt: Vor ihnen liegt eine schwere Zeit. Sie werden trauern. Ihn vermissen. Und es gibt ganz praktische Herausforderungen. Aber er weiß auch: Es ist leichter zu tragen, wenn man nicht allein ist. Deshalb bringt er die beiden zusammen. Er sagt: „Siehe, dein Sohn! Siehe, deine Mutter!“ (Joh 19,26f)

Warum tut er das? Maria und Johannes sind keine Familie. Aber für Jesus zählt nicht nur das Verwandtsein. Er sieht ihre Einsamkeit – und weiß: Geteiltes Leid wiegt weniger. Das ist für mich eine starke Botschaft. Jesus sorgt sich nicht um seinen eigenen Tod. Er sorgt sich um die, die weiterleben. Er denkt an die, die zurückbleiben. Er sorgt dafür, dass sie nicht allein sind.

In der Trauer nicht allein bleiben

Vielleicht ist das eine Spur, die über Sterben und Trauer hinausgeht: Leiden lässt sich immer besser aushalten, wenn man es nicht allein tragen muss. Wir erleben das oft: Wenn Worte fehlen – aber jemand da bleibt, einfach daneben sitzt, schweigt, aushält. Wenn nicht alles gut wird – aber man nicht allein ist. Jesus zeigt hier etwas sehr Menschliches: Wir brauchen einander. Jesus sagt am Kreuz: „Siehe, dein Sohn! Siehe, deine Mutter!“ Für ihn zählt in diesem Moment genau das: dass seine Liebsten nicht allein bleiben.

Und was zählt für uns?
In den Worten Jesu steckt für mich genau diese Frage: Was ist mir wichtig? Mit wem bin ich verbunden? Was müsste ich noch sagen – und was darf ich endlich loslassen? Manchmal sind es große Dinge, manchmal ganz kleine. Wie oft denke ich mir:„Ich rufe morgen mal an…“ „Das kann noch warten…“ „Jetzt ist nicht der richtige Moment…“

Aber dann kommt der richtige Moment vielleicht nie.

Kümmere dich um das, was zählt

Jesu Worte vom Kreuz sind für mich auch ein Weckruf: Kümmere dich um das, was zählt. Was immer es für dich ist. Es ist nie zu früh, letzte Dinge zu klären – aber manchmal zu spät. Petra hat erzählt, wie Menschen am Ende ihres  Lebens neu nachzudenken über ihr Leben – und darüber, was noch zu klären ist.

Schwere Entscheidungen

Nicht jeder kann das gleich gut. Manche sprechen offen, andere tun sich schwer. Manche sagen: „Ich müsste mal…“, aber es bleibt beim Vorsatz. Und auch dafür gibt es gute Gründe. Der Gedanke, dass das Leben irgendwann zu Ende geht, ist hart.

Manche haben Angst, andere sind unsicher: Wie verteilt man gerecht? Und an wen überhaupt? Das sind schwere Entscheidungen. Aber ich weiß aus Gesprächen mit Angehörigen, wie viel leichter es wird, wenn alles geregelt ist. Manchmal entscheidet eine Kleinigkeit – eine Unterschrift, ein klares Wort – ob nach dem Tod Frieden bleibt oder Streit beginnt.

Es geht um das, was zwischen Menschen steht

Dabei geht es nicht nur um Besitz. Es geht um das, was zwischen Menschen steht. Wer gehört zusammen – und wer nicht? Jesus sorgt sich nicht um Geld oder Erbe. Er sorgt sich um Menschen. „Siehe, dein Sohn! Siehe, deine Mutter!“

Jesus spricht diese Worte, weil er sieht: nach seinem Tod bleiben zwei Menschen zurück, die einander brauchen. Maria und Johannes – zwei, die bisher keine Familie waren. Aber jetzt sollen sie füreinander da sein. Das bedeutet: Jesus überträgt ihnen Verantwortung. Er sagt: Kümmert euch umeinander. Tröstet euch. Gebt aufeinander Acht. Denn niemand soll allein bleiben.

Manchmal bleibt einer allein zurück

Aber ich weiß: Manchmal passiert das doch. Manchmal bleiben Menschen allein zurück. Nicht, weil sonst niemand da ist. Sondern weil etwas Ungeklärtes im Raum steht. Wie eine unsichtbare Mauer:Ich erinnere mich an eine Beerdigung. Der Verstorbene hatte jahrelang Streit mit einem Freund. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Und dann ging es plötzlich nicht mehr. Der Freund stand am Rand der Trauerfeier, unsicher, ob er überhaupt da sein darf. Er war voller Schmerz und voller Fragen. Was wäre gewesen, wenn einer von ihnen nur einmal angerufen hätte?

Ich weiß: Manchmal sind Konflikte kompliziert. Manchmal kann man sich nicht einfach wieder in die Arme fallen.

Letzte Worte, die bleiben

Aber dann gibt es auch die anderen Geschichten. Ein Mann, der im Krankenhaus noch Briefe für seine Kinder schreibt. Worte, die er nie zuvor gesagt hat: „Ich bin stolz auf dich.“ "Ich hätte dir das früher sagen sollen.“ „Verzeiht mir, dass ich manchmal zu streng war.“

Solche Worte verändern nicht die Vergangenheit. Aber sie öffnen einen Weg nach vorn. Einen Weg, den man nur gehen kann, wenn einer den ersten Schritt wagt.
Ich frage mich deshalb: Womit sollte ich nicht warten? Manche Klärung darf ich nicht länger aufschieben. Manches Gespräch will ich führen, bevor es zu spät ist. Und ich denke mir: Was hält mich eigentlich ab, das jetzt anzugehen?

Karfreitag ist der Tag der letzten Worte

Karfreitag ist der Tag der letzten Worte. Jesus spricht seine letzten Worte am Kreuz. Und Gott spricht damit zu uns Menschen. Das Kreuz steht zwischen Himmel und Erde – Gottes letztes Wort über uns.

Das Kreuz verbindet

Jesus verbindet unter dem Kreuz nicht nur Menschen, die ihm nahestehen. Er schafft auch eine neue Verbindung zwischen uns Menschen und Gott. Seine letzten Worte: „Es ist vollbracht.“  Aber was ist vollbracht?

Sein Auftrag ist erfüllt. Die Distanz zwischen Gott und den Menschen, die durch Schuld, Verlorenheit und Trennung geprägt ist, wird überwunden. Gott bleibt nicht fern – er geht den Weg in den Tod, um den Menschen ganz nahe zu sein. Karfreitag ist der Tag, an dem Gott selbst die letzten Dinge klärt. Nicht nur zwischen Maria und Johannes. Sondern zwischen sich und uns. Nicht nur für einzelne, sondern für die ganze Welt. Nicht nur für einen Moment, sondern für die Ewigkeit.

Offene Enden - neue Hoffnung

Es gibt Dinge, die wir nicht mehr klären können: Versäumte Worte. Offene Rechnungen. Geschichten ohne einen guten Schluss. Wie der alte Freund, der nicht weiß, ob er überhaupt hier sein darf, weil eine alte Wunde nie geheilt ist.

Meine Hoffnung ist: Gott vergibt, was zwischen ihnen steht. Das macht es nicht ungeschehen. Gott nimmt die Vergangenheit nicht zurück. Aber es eröffnet einen Weg nach vorne. Gott vergibt, das heißt: Das letzte Wort über uns ist nicht Schuld oder verpasste Chancen. Sondern Gott sagt: Ich halte dich. Ich halte deine Geschichte. Ich halte auch das, was du nicht mehr ändern kannst. Er nimmt es aus unserer Hand – damit wir nicht daran zerbrechen.

Der Trost an Karfreitag

Das ist für mich der Trost von Karfreitag: Was wir nicht mehr klären können, klärt Gott. Er trägt, was wir nicht mehr tragen können. Gott vergibt, wo wir es selbst nicht mehr gutmachen können. Mit dem Tod – ein neues Leben. Das ist, was Jesus vollbracht hat: Nicht, dass er stirbt – sondern dass sein Tod unser Leben neu macht, verändert. Das Neue ist, dass wir nicht in der Vergangenheit feststecken. Dass es nicht zu spät ist für Hoffnung, für Versöhnung, für einen neuen Anfang.

Neues Leben

Neues Leben bedeutet: Einer, der sich lange abgewendet hat, findet den Mut und ruft an. Jemand, der Schuld mit sich trägt, hört: Du bist trotzdem geliebt. Menschen, die sich lange fremd waren, sitzen irgendwann doch wieder an einen Tisch. Spätestens bei Gott.

Nicht alles müssen und können wir selbst regeln, nicht alles klären wir aus eigener Kraft. Das Wichtigste hat Gott längst für uns getan.

Karfreitag ist nicht der Tag, an dem alles zerbricht. Sondern der Tag, an dem alles in Gottes Hände gelegt wird. Durch Jesus am Kreuz: Der sieht, wie sehr wir einander brauchen, um das Leben zu tragen. Der sorgt dafür, dass wir Wege zueinander finden. Und der zeigt: Wo wir es nicht schaffen, hat Gott die Dinge längst geklärt. Es geht genau um dieses Vertrauen: „Wer so stirbt, der stirbt wohl.“

Amen.

Mitwirkende: 

Liturgie und Predigt: Pfarrer Jörg Niesner
Moderation und Lesungen: Hermann Hillebrand
Liturgische Mitwirkung: Ulrich David Möll, Anne Nordsieck, Petra Wagner

Musik:

Karin Amrhein, Klarinette
Christoph Kögel, Bass
Bettina Link, Harfe
Anja Martine, Orgel

Musikalische Gesamtleitung: Anja Martine

Kirchliche Leitung:

Pfarrerin Lisa Maria Tumma, Theologische Beratung: Dr. Peter Meyer

Musik und Lieder:

Godfrey Finger: Sonata Grave
EG 96: Du schöner Lebensbaum, Strophen 1,3 und 4
EG+ 55: Christus, Antlitz Gottes (Agnus Dei)
Johann Sebastian Bach: Siciliano
Domenico Scarlatii: Sonate K 466
EG 85: O Haupt voll Blut und Wunden, Strophen 1, 9 und 10
Edward MacDowell: To a wild rose
Joachim Johow: Der Mirjambrunnen
EG+ 6: Von guten Mächten treu und still umgeben, Strophen 1 und 5
Johann Sebastian Bach: Sinfonia
EG 142: Verleih uns Frieden gnädiglich
EG+ 142: Verleih uns Frieden gnädiglich
John Dowland: Flow my tears

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