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Beziehungen weiter denken
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Beziehungen weiter denken

Prof. Dr. Thomas Hieke
Ein Beitrag von Prof. Dr. Thomas Hieke, Professor für Altes Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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Ich fahre viel mit der Bahn. Das ist gut für den Klimaschutz. Es schult auch etwas die Geduld angesichts der vielen Verspätungen. Die Deutsche Bahn gibt denen, die viel mit ihr fahren, einen Bonus, so dass man sich ab und zu ein Freigetränk in der Bordgastronomie gönnen kann. Neulich saß ich wieder mal auf einer langen Zugfahrt bei einem alkoholfreien Weizenbier. Gegenüber trank ein offensichtlicher Vielfahrer oder Pendler sein Feierabend-Bier. Wie es so geht, kommen wir ins Gespräch. Und ehe ich mich versah, erzählt mir mein Gegenüber seine aktuelle Lebensgeschichte. Eine Leidensgeschichte. Er müsse jetzt beruflich zwischen zwei Großstädten pendeln. Für die Familie ganz schwierig. 

Ist es vielleicht besser, allein zu leben?

Seine Frau hat ihn verlassen – sagt er. Stress im Job, Stress in der Beziehung. Momentan sei er also Single – gezwungenermaßen. Die weiteren Details seiner gescheiterten Ehe – muss ich hier nicht darlegen. Einsam sei er momentan, und es gehe ihm nicht gut. Er tat mir ein wenig leid in seiner Zwickmühle: Allein geht es irgendwie nicht, aber die Beziehung hat auch nicht funktioniert. Ist es vielleicht doch besser, allein zu leben? Ohne Beziehung, vielleicht nur mit Büchern und Gedichten, wie eine Insel oder ein Fels? Dann gibt es jedenfalls keine Beziehungsdramen, keinen Liebeskummer, keinen Trennungsschmerz. So ähnlich formulieren es Simon und Garfunkel in einem alten Song: I Am a Rock, I Am an Island. 

Musik 1: Simon and Garfunkel, I Am a Rock, I Am an Island. [2:51] 

Man kann sich hier vielleicht reinfühlen

I Am a Rock, I Am an Island – Ich bin ein Fels, ich bin eine Insel. So heißt es in dem Song von Simon and Garfunkel. Ich brauch keine Freundschaft, Freundschaft verursacht Schmerz, meine Bücher und meine Gedichte beschützen mich, ich bin eine Festung, in die niemand eindringt – ein Fels fühlt keinen Schmerz, und eine Insel weint niemals. Was für ein Text! Wer gerade das Zerbrechen einer Beziehung erlebt oder erlebt hat, wer von einer Freundschaft enttäuscht wurde – der kann sich hier vielleicht reinfühlen. Eine enttäuschte Liebe – ein fürchterliches Erlebnis. Ist es also vielleicht doch besser, allein zu bleiben? 

Die göttliche Hilfe hier ist die Beseitigung des Allein-Seins

Gott sagt in der Bibel: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“ (Gen 2,18). Der Satz steht im Kontext der Erschaffung des Menschen und der Welt. Gott formt den Menschen, heißt es da, aus Staub vom Erdboden. Gott gibt dem Menschen etwas zu tun, Gartenarbeit. Eigentlich ganz schön. Aber: da fehlt etwas, sagt Gott. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist. Ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm ebenbürtig ist“. Gott probiert es mit den Tieren, aber das funktioniert nicht so richtig. Die Tiere sind wichtig für den Menschen, aber keine ebenbürtige Hilfe. Gott baut dann aus einer Rippe des Menschen die Frau – und jetzt passt es: Fleisch von meinem Fleisch. Der Mensch ohne sein Seitenteil, meist als Rippe übersetzt, hängt sich an die Frau, an seine Frau, und sie werden ein Fleisch. Was war es nun, das „nicht gut“ war und für das die Frau die Abhilfe ist? Der Begriff „Hilfe“ ist im weiteren Verlauf der Bibel, vor allem in den Psalmen, das Wort für die „göttliche Hilfe“. Und die göttliche Hilfe hier ist die Beseitigung des Allein-Seins, der Einsamkeit, der fehlenden Liebe. Der Mensch, jeder Mensch, braucht jemanden zum Liebhaben. Da fällt mir ein weiterer Song ein, diesmal von Solomon Burke aus dem Jahr 1964. Bekannt wurde das Lied in der Cover-Version von den Blues Brothers, aus dem Kult-Film von 1980: Everybody needs somebody to love.

Musik 2: Everybody needs somebody to love (Film-Soundtrack, nach dem Lied-Text ausblenden). [ca. 3:00 – oder ganz 3:20]  

Jeder Mensch braucht jemanden, den er liebt

Everybody needs somebody to love – Jeder Mensch braucht jemanden, den er liebt, singen die Blues Brothers. Diese Zeile weitet meinen Blick auf den Bibeltext, der von der Erschaffung der Frau erzählt. Wenn man die biblische Erzählung so liest, dann könnte man meinen, der einzige Weg zur Abhilfe der Einsamkeit sei die Ehe zwischen Mann und Frau. Aber steht die Verschiedenheit der Geschlechter wirklich so im Vordergrund? Es geht um Ebenbürtigkeit, um Bein von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch, um die Abhilfe von Einsamkeit. Manche Männer finden das am besten mit einem lieben Mann, manche Frauen mit einer lieben Frau. 

Noch immer müssen sie für ihre Rechte kämpfen

Ich kenne homosexuelle Paare, die einander liebevolle und ebenbürtige Hilfen sind – genau so, wie ich die Bibel hier verstehen würde. Statistisch am häufigsten ist die Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau – aber es gibt auch die gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Die Humanwissenschaft ist sich inzwischen sicher, dass es sich niemand aussuchen kann, zu welchem Geschlecht seine oder ihre Neigung geht. Nach der Vorschrift im Katechismus der Katholischen Kirche muss jedoch jemand, der eine gleichgeschlechtliche Orientierung hat, allein bleiben und darf die Abhilfe für die Einsamkeit nicht körperlich erleben. Ich halte diese Lehre für lebensfeindlich und falsch. Heute ist es in unserer Gesellschaft kein Problem mehr, dass es gleichgeschlechtliche Ehen gibt. Aber so ganz ist das noch nicht bei allen Menschen angekommen, nicht bei allen in Deutschland und schon gar nicht in vielen Ländern in Osteuropa und Afrika. Noch immer müssen homosexuelle Menschen für ihre Rechte kämpfen. 

Aus einer schwarzen Welt in die Weite unter dem blauen Himmel

Und auch anderen Menschen wird es oft schwer gemacht, ihre Sehnsucht nach Beziehung zu leben, gerade wenn ihre sexuelle Identität von dem abweicht, was eine Mehrheit für „normal“ hält. Es gibt sie, die „non-binären“ Menschen: Ihre sexuelle Identität ist anders als bei den meisten. Sie haben es sich nicht ausgesucht. Und auch für sie ist es nicht gut, wenn sie allein bleiben – auch sie brauchen Liebe. Ihre Gefühle stehen oft im Konflikt mit Erwartungen der Familie und der Gesellschaft. Sie müssen es erleben, wie andere über sie und ihre Gefühle bestimmen wollen. Wenn sie es dann doch schaffen, ihr eigenes Leben zu leben, und wenn sie Menschen finden, die sie annehmen und lieben, wie sie sind – dann ist das wie ein Schritt aus einer schwarzen Welt hinaus in die Weite unter dem blauen Himmel. Lana del Rey hat ein poetisches Lied geschrieben für alle, die in ihren Chancen und Möglichkeiten durch gesellschaftliche Vorgaben gehindert werden. „Get Free“, werde frei, heißt es.

Musik 3: Lana del Rey, Get Free, Track 16 from the Album “Lust for Life” (2017). [ca. 3.00 aus den insgesamt 5:34] 

 Dieser Satz muss noch weiter gedacht werden

Lebe dein eigenes Leben, komm aus den schwarzen Gedanken ins Blaue, so ähnlich heißt es in dem Song. Es ist nicht gut, die eigenen Gefühle und die eigene Identität dauernd unterdrücken zu müssen. Gesellschaftliche Verhältnisse, die so etwas fordern, sind nicht gut. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“, so heißt es in der Bibel. Ich finde, der Satz muss größer, breiter und weiter gedacht werden. Es geht nicht nur um Beziehungen zwischen Mann und Frau, die Ehe zwischen Mann und Frau ist nur ein Teil davon. Es gibt noch vieles andere. Gewiss, die Beziehung von Mann und Frau wird deswegen so hochgeschätzt, weil sie Nachkommen hervorbringen kann. Aber das ist nicht alles und nicht der einzige Zweck von Beziehungen. In der Bibelstelle geht es um das Allein-Sein, das nicht gut ist, und um das Zusammenkommen von Menschen auf gleicher Ebene, und das ist dann gut. 

Ich glaube, diese Offenheit steckt auch in diesem Text

„Ein Fleisch werden“, so nennt es die Bibel – ohne dass gleich alles dazu gesagt wird, was damit traditionell verbunden ist: nur in der Ehe, nur für Nachkommen. Doch ein genaues Lesen zeigt: Was Gott für nicht gut hält, ist die Einsamkeit, das Nicht-Geliebt-Sein. Everybody needs somebody to love, „jede und jeder braucht jemandem zum Lieben“ – die Blues Brothers haben das gut erkannt und vielleicht bewusst sehr allgemein formuliert. Ich glaube, diese Offenheit steckt auch in dem Bibeltext. 

Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist

Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist – jeder Mensch, gleich welcher Orientierung oder Identität. Ich frage mich, was das Entscheidende bei Gottes Abhilfe für die Einsamkeit ist. Ich glaube nicht, dass es die Verschiedenheit der Geschlechter und das Hervorbringen von Nachkommen ist. Kinder, Nachfahren zu haben, das ist etwas Schönes, aber wenn das das Einzige wäre, würden Menschen, die nicht heterosexuell sind, einsam im Regen stehen bleiben. Was auch wichtig ist und viel zählt, sind doch Zuneigung, Wertschätzung, Zärtlichkeit, Verlässlichkeit, Achtsamkeit, Respekt – solche Werte. Wohl denen, die das in ihren Beziehungen erfahren können und einander schenken können. All das, und ich zähle es gern noch einmal auf: Zuneigung, Wertschätzung, Zärtlichkeit, Verlässlichkeit, Achtsamkeit, Respekt – können natürlich auch Menschen gleichen Geschlechts einander schenken, auch mittels ihres Körpers und ihrer Geschlechtlichkeit. Ebenso ist es bei Menschen, deren geschlechtliche Identität nicht dem binären Schema „Mann“ und „Frau“ zuzuordnen ist. Ich bin überzeugt: Auch für sie hat Gott eine göttliche Hilfe gedacht in Form eines Menschen, den sie lieben können und der sie liebt. 

Was Gott verbunden hat, kann er auch wieder trennen

Wenn zwei Menschen nun beisammen sind – muss das ein Leben lang halten? Viele sehen darin ein großes Ideal, auch Jesus. Er sagt: Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen (Mt 19,6). Jesus schützt damit die Frauen seiner Zeit, die von den Männern willkürlich aus der Ehe verstoßen werden konnten – weil sie die Macht dazu hatten. Aber wollte Jesus damit Menschen auf ewig aneinanderketten, selbst, wenn es giftig wird?

Im Beruf muss sich heute jeder weiterbilden, weiterentwickeln, dazulernen. Bei Beziehungen ist es auch so: Jeder Mensch entwickelt sich weiter, verändert sich. Ich lehne mich jetzt mal weit aus dem Fenster und vermute: Was Gott verbunden hat, das kann Gott auch wieder trennen. Wenn sich die beiden Menschen so verändern, dass sie nicht mehr zusammenbleiben können. Es kann zu Verletzungen kommen, die tief sitzen. Wertschätzung und Respekt können auf null sinken – dann spricht man heute von „toxischen“, giftigen Verbindungen. Wenn mindestens einer der beiden Partner unerträglich und dauerhaft unter der Beziehung leidet, ist deren Ende mit Schrecken besser als ein Schrecken ohne Ende. 

 

Die Natur ist vielfältiger, als manche denken

Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist – diese Erkenntnis stellt die Bibel als Gottes Einsicht dar. Darin steckt viel menschliche Lebenserfahrung. Diesen Satz kann man als das große Vorzeichen vor der Klammer menschlicher Beziehungen lesen: Menschen brauchen einander, brauchen jemanden zum Lieben und jemanden, der sie liebt – auf geistiger, seelischer und körperlicher Ebene. Das geht in vielfältiger, heute sagen wir: in diverser Weise. Die diversen Lebenswirklichkeiten der Menschen gilt es anzuerkennen und anzunehmen. Die meisten leben als Mann und Frau zusammen, aber es gibt auch viele, die als Frau und Frau und Mann und Mann zusammenleben – und einige, die von sich gar nicht als Mann und Frau sprechen wollen und in Beziehungen leben. Auch „queere Menschen “ sind Gottes Geschöpfe, von Gott geliebt und gewollt. Sie sollen und müssen nicht allein bleiben. Der Satz aus der Bibel „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist“ ist eine Einladung, menschliche Beziehungen weiter zu denken im doppelten Wortsinn: weiter im Sinne von breiter, also mehr Möglichkeiten, weil die Natur vielfältiger ist, als manche noch immer denken. Und weiter im Sinne einer Entwicklung in die Zukunft: Menschen und Beziehungen verändern, entwickeln sich. Wahrhaftig: Es ist mehr möglich.

Musik 4: Moon River. [2:58]

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