
Kultur der Veränderung
Guten Morgen und einen schönen Sonntag!
Zurzeit geht mir immer wieder ein berühmter kleiner Text von Bertolt Brecht durch den Kopf. Je älter ich werde, umso mehr schätze ich ihn. Gerade auch angesichts bestimmter Zustände, die ich heute in unserer Gesellschaft wahrnehme. Der Text stammt aus den „Geschichten vom Herrn Keuner“. In ihrem Charakter zwischen Aphorismus und Kurzprosa sind sie ein eigenes TextGenre, das Brecht über 30 Jahre lang entwickelt und bedient hat.
Diese hier ist wohl eine der bekanntesten: „Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ›Sie haben sich gar nicht verändert.‹ ›Oh!‹ sagte Herr K. und erbleichte.“
"Gar nicht verändert…?“
Warum ich diese Geschichte so liebe und sie mir immer wichtiger wird? Weil sie auf so kluge wie bescheidene Weise, in allerkleinster Form ein allergrößtes Zeugnis gibt, wie gut und wie wichtig Veränderungen sind. Ja, Veränderung ist ganz grundsätzlich gut und wichtig. Das ist kein AllroundFreibrief für alles Neue. Und es sagt auch bei Weitem nicht, dass alle Veränderungen angenehm wären oder einfach so widerstandslos hinzunehmen. Und trotzdem: Veränderung muss sein! Sie ist so eine Art Naturgesetz.
Gesellschaftlich sehe ich uns in einer Art widersprüchlicher Doppel- und Gegenbewegung: Einerseits ist da ein enorm vorwärtsdrängender Strom von Veränderung, in dem wir mehr oder weniger freiwillig mitschwimmen. In (fast) allen Bereichen des Lebens ändert sich dauernd etwas. Einiges davon haben wir selbst erwünscht, ersehnt, erkämpft. Gehören dort also zu den aktiven Veränderern. Manches nehmen wir auch einfach nur passiv hin. Anderes müssen wir eher erleiden und fühlen uns als Opfer. Dann ängstigt uns dieser rasante Veränderungssog und löst eine Gegenbewegung nach hinten, nach rückwärts aus: Es soll alles bleiben, wie es ist! Oder wieder so schön werden wie früher! Früher war halt alles besser!
Mehr Opfer als Akteure…
Angesichts höchst komplexer regionaler und globaler Krisen und Probleme glaube ich: Viele Menschen fühlen sich heute persönlich eher als Opfer, denn als Akteure von Veränderung. Und die Kräfte und Institutionen, die früher in unser aller Auftrag gesellschaftlich Veränderungsprozesse steuern und reglementieren konnten, sie haben viel Vertrauen eingebüßt und an Kraft verloren. Inwieweit sie ihren Einfluss selbst verspielt haben oder ob da subtilere Verwerfungen und Verschiebungen ablaufen, das lasse ich jetzt mal offen.
Dieser Bedeutungsverlust gilt für klassische politische Parteien genauso wie für traditionelle Medien (z.B. die öffentlich-rechtlichen Sender); er gilt für Gewerkschaften, Vereine und Verbände; für überparteiliche Umweltbewegungen und natürlich gilt er allemal auch für uns Kirchen! Die Gesellschaftskräfte und Popularitäten von gestern haben für viele Leute offensichtlich ausgedient und müssen Platz machen für die Populismen von heute.
Kultur der Veränderung
Im Blick auf diese komplizierte gesellschaftliche Gemengelage plädiere und werbe ich mit Brechts Herrn K. für eine sehr bewusste und aktive „Kultur der Veränderung“. Was könnte das sein: eine „Kultur der Veränderung“? Ich benenne mal so einige Elemente, die für mich dazugehören:
- Wichtig find ich zum Beispiel, dass ich Veränderungsprozesse überhaupt erst mal zu durchschauen versuche und zu verstehen…
- Und ich muss mir klar werden: Wo bin ich selbst - vielleicht sogar schon länger und ohne es zu merken - Teil der Veränderung?
- Dann gehört dazu: Veränderungen nicht fürchten und ablehnen, sondern akzeptieren und gestalten.
- Wo ich kein aktiver Akteur der Veränderung bin, sollte ich zumindest Position beziehen, ob ich die Veränderung befürworte oder ablehne.
Ja, gerade im „wilden Strom der Veränderung“ sind klare Standpunkte wichtig!
- Wo es aus meiner Sicht notwendig und sinnvoll ist, für Veränderung eintreten.
- Und umgekehrt: Wo ich Veränderungen ablehne, muss ich sie auch bekämpfen…
- Und schließlich noch etwa ganz Wichtiges: Für alle Elemente in diesen Veränderungsprozessen ist es gut, Verbündete und MitstreiterInnen zu suchen.
- Schließlich mit Brechts Herrn K. verstehen, dass auch ich selbst mich verändern darf und muss. Manchmal müssen Veränderungsprozesse tatsächlich mit mir beginnen. „Sei du selbst die Veränderung, die du dir für diese Welt wünschst!“ Ein Satz, der - wahrscheinlich fälschlich - Mahatma Gandhi zugeschrieben wird.
Die Liste könnte noch weitergehen…
"AntiPopulismusVorsorge“
Wer an einer solchen „Kultur der Veränderung“ aktiv mitwirkt, der fühlt sich nicht mehr nur als ohnmächtiges Opfer und als Spielball fremdgesteuerter Prozesse. Der wird zwar viele Probleme auch nicht lösen können, aber sein Gefühl, Zusammenhänge ein Stück weit zu verstehen, das trägt ihn. Und es gibt ihm Kraft zum Aushalten von Unabänderlichem und zum Kämpfen, wo es Sinn macht. Wer an einer solchen „Kultur der Veränderung“ aktiv mitwirkt, der ist – so glaube ich fest – ein Stück weit immun gegen ideologische Manipulation und gesellschaftliche Agitation, die einerseits Feindbilder züchtet, Hass und Negativität schürt und andererseits für die komplexen Probleme allzu einfache Lösungen verspricht.
Darum brauchen wir dringend eine „Kultur der Veränderung“. Eine frühere Politikerin hat es mal so auf den Punkt gebracht: „Weil wir das Wesentliche bewahren wollen, darum brauchen wir den Wandel.“ (Hanna Renate Laurien) Und der Liedersänger Wolf Biermann sagt es noch knapper und sehr nah an Brechts Herrn K.: „Nur wer sich ändert, bleibt sich treu!“
Sich selbst treubleiben…
Das „sich selbst Treubleiben“ ist für mich übrigens eine ganz besondere Tugend. In meinem Christentum fordern wir die Treue ja recht offensiv und häufig ein. Allerdings, wenn ich recht sehe, eher im Umgang mit anderen als mit sich selbst. Wir erheben sie schnell zur „zeigefingernden“ moralischen Pflicht, besonders in Fragen von Sexualität und Ehe. Aber genauso wie das biblische Liebesgebot neben der Liebe zum anderen eben auch die Selbstliebe einfordert („Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst“), so dürften, ja so müssten wir es auch für die Treue formulieren: „Sei deinem Nächsten treu, wie du dir selbst treu bist!“
Hier kommen wieder die festen Standpunkte von eben ins Spiel und der Versuch, komplexe Probleme ohne fahrlässige Vereinfachungen zu verstehen. Also meine „AntiPopulismusVorsorge“!
Tugend der Verbindlichkeit
Fundamental wichtig wird mir hier aber auch eine Tugend, die als solche kaum ausdrücklich benannt wird: „Verbindlichkeit“. Verbindlichkeit hat für mich drei große Bedeutungen.
Zum einen eben die Treue: Ich halte mein Wort. Ich übernehme Verantwortung. Andere können sich auf mich verlassen. Ich bin eine Stütze für meine Umgebung.
Zweitens: Meine Verbindlichkeit kann mich zum Verbindungsglied machen zwischen einzelnen Personen, ganzen Gruppen, vielleicht sogar zwischen „verschiedenen Welten“. Das hat etwas von „Netzwerk“, vielmehr aber noch von Vermittlung, Verständigung, bis hin zur Versöhnung.
Und die dritte Bedeutung von Verbindlichkeit ist Freundlichsein. Wer „verbindlich“ ist, wirkt positiv auf seine Umgebung. Alles Trennende ist weniger wichtig als das Gemeinsame. Das Gute, Aufbauende, Bestärkende am anderen und in allen Beziehungen wird betont; in einer Haltung zwischen Achtung, Sympathie und Liebe. Toleranz wird hier zum wesentlichen Merkmal.
"Sei du selbst die Veränderung…“
Zum Schluss nochmal ausdrücklich: Ich wünsche mir eine Welt, die einer „Kultur der Veränderung“ Raum gibt und in der die Menschen „verbindlich“ sind.
Und ja, auch wenn der schöne Satz vielleicht nicht von Gandhi stammt, so will ich ihn mir doch ganz persönlich zu Herzen nehmen: „Sei du selbst die Veränderung, die du dir für diese Welt wünschst!“
Anmerkungen:
Bertolt Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner, Suhrkamp Verlag, ISBN 978-3-518-45846-4
2003 fand man sogar noch 15 unveröffentlichte „Geschichten vom Herrn K.“
Den Impuls zum Thema Veränderung verdanke ich meiner Ehefrau Heike; das Stichwort „Verbindlichkeit“ unserer Freundin Andrea!
Auf der Suche nach einer Quelle für das (angebliche) GandhiZitat fand ich einerseits keine Quelle und andererseits den Hinweis, dass dieses Zitat wohl eher von der Amerikanerin Arleen Lorrance stammt als von Gandhi. (https://falschzitate.blogspot.com/2019/08/sei-du-selbst-die-veranderung-die-du.html)