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Die böse Zunge
GettyImages/Tempau

Die böse Zunge

Dr. Matthias Viertel
Ein Beitrag von Dr. Matthias Viertel, Evangelischer Pfarrer i. R., Kassel
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Eine Lehrerin hat in einer Klassenarbeit einen Fehler übersehen. Und zwar nicht aus Versehen, sondern mit Absicht. Denn der betreffende Schüler war gefährdet. Wenn er diese Arbeit verhaut, würde er sitzenbleiben, nur wegen eines dummen Fehlers. Deshalb hat die Lehrerin den Fehler nicht angestrichen und dem Schüler noch ein Ausreichend gegeben.

„Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“

Ich diskutiere mit Konfirmanden darüber, ob das nicht ein klarer Verstoß gegen das achte Gebot ist: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“. So hat Martin Luther es übersetzt, und so hat es sich in den Köpfen festgesetzt. Die einen Jugendlichen meinen, die Note sei doch vorsätzlich gefälscht. Die anderen entgegnen, die Lehrerin habe das nicht gegen den Nächsten gemacht, im Gegenteil sie habe ja für ihn geschummelt. Und das sei im Gebot doch nicht verboten.

Ist Lügen erlaubt, wenn es meinem Nächsten zum Nutzen ist?

Wie verhält es sich mit dem achten Gebot? Untersagt es tatsächlich nur die falsche Aussage, wenn sie jemandem Schaden zufügt? Und ist Lügen erlaubt, wenn es meinem Nächsten zum Nutzen ist? Was aber, wenn das, was der einen Person nützt, der anderen schadet? Wer soll da entscheiden?

Immanuel Kant fordert, immer die Wahrheit zu sagen

Der Philosoph Immanuel Kant hat deshalb für ein striktes Einhalten des Gebotes plädiert und gesagt, es sei niemals rechtens, ein falsches Zeugnis zu geben, selbst dann nicht, wenn es gut gemeint ist. Man müsse immer die Wahrheit sagen. Aber auch diese strikte Haltung ist problematisch, gerade weil es mitunter besser sein kann, eine wahre Aussage zurückzuhalten, etwa wenn damit Leben gerettet wird.

Laschon Hara -  „die böse Zunge“

Eine Rabbinerin aus Bamberg, sie heißt Antje Yael Deusel, bietet für dieses Dilemma ein interessante Lösung an (1). Sie beruft sich auf die Texte der Halacha, das ist der Jüdische Kommentar zu den biblischen Geboten. Dort findet sich der Begriff Laschon Hara - direkt übersetzt bedeutet das „die böse Zunge“. Diese Vorstellung von der bösen Zunge kann ein Schlüssel sein.

Es geht um die Absicht, warum ich etwas sage

Böse ist die Zunge nicht, weil sie Böses sagt, sondern weil sie Böses will. Es geht also um die Absicht, warum ich etwas sage. Ich kann lügen und dabei etwas Schlechtes im Schilde führen. Aber ich kann ebenso die Wahrheit sagen und das in böser Absicht tun.  

Folge ich diesem Hinweis auf die „böse Zunge“, bekomme ich zumindest eine Orientierung. Ich fange nämlich an, die Motive zu befragen, weil die Tat nicht isoliert beurteilt werden kann. Das achte Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ mahnt mich dann dazu, auf die innere Stimme zu hören; darauf zu achten, ob ich einer bösen Zunge folge oder einem guten Geist. Ob die Lehrerin mit ihrem Coup dem Schüler wirklich geholfen hat, bleibt offen. Auf jeden Fall aber folgte sie einer guten Absicht.


(1)  Welt und Umwelt der Bibel. Archäologie – Kunst – Geschichte. Heft 4/2021, S. 36-39.

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Die böse Zunge
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Die böse Zunge

Dr. Matthias Viertel
Ein Beitrag von Dr. Matthias Viertel, Evangelischer Pfarrer i. R., Kassel

Eine Lehrerin hat in einer Klassenarbeit einen Fehler übersehen. Und zwar nicht aus Versehen, sondern mit Absicht. Denn der betreffende Schüler war gefährdet. Wenn er diese Arbeit verhaut, würde er sitzenbleiben, nur wegen eines dummen Fehlers. Deshalb hat die Lehrerin den Fehler nicht angestrichen und dem Schüler noch ein Ausreichend gegeben.

Ich diskutiere mit Konfirmanden darüber, ob das nicht ein klarer Verstoß gegen das achte Gebot ist: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.“. So hat Martin Luther es übersetzt, und so hat es sich in den Köpfen festgesetzt.

Die einen Jugendlichen meinen, die Note sei doch vorsätzlich gefälscht. Die anderen entgegnen, die Lehrerin habe das nicht gegen den Nächsten gemacht, im Gegenteil sie habe ja für ihn geschummelt. Und das sei im Gebot doch nicht verboten.

Wie verhält es sich mit dem achten Gebot? Untersagt es tatsächlich nur die falsche Aussage, wenn sie jemandem Schaden zufügt? Und ist Lügen erlaubt, wenn es meinem Nächsten zum Nutzen ist? Was aber, wenn das, was der einen Person nützt, der anderen schadet? Wer soll da entscheiden?

Der Philosoph Immanuel Kant hat deshalb für ein striktes Einhalten des Gebotes plädiert und gesagt, es sei niemals rechtens, ein falsches Zeugnis zu geben, selbst dann nicht, wenn es gut gemeint ist. Man müsse immer die Wahrheit sagen. Aber auch diese strikte Haltung ist problematisch, gerade weil es mitunter besser sein kann, eine wahre Aussage zurückzuhalten, etwa wenn damit Leben gerettet wird.

Eine Rabbinerin aus Bamberg, sie heißt Antje Yael Deusel, bietet für dieses Dilemma ein interessante Lösung an. (1) Sie beruft sich auf die Texte der Halacha, das ist der Jüdische Kommentar zu den biblischen Geboten.

Dort findet sich der Begriff Laschon Hara - direkt übersetzt bedeutet das „die böse Zunge“. Diese Vorstellung von der bösen Zunge kann ein Schlüssel sein. Böse ist die Zunge nicht, weil sie Böses sagt, sondern weil sie Böses will. Es geht also um die Absicht, warum ich etwas sage. Ich kann lügen und dabei etwas Schlechtes im Schilde führen. Aber ich kann ebenso die Wahrheit sagen und das in böser Absicht tun.  

Folge ich diesem Hinweis auf die „böse Zunge“, bekomme ich zumindest eine Orientierung. Ich fange nämlich an, die Motive zu befragen, weil die Tat nicht isoliert beurteilt werden kann.

Das achte Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ mahnt mich dann dazu, auf die innere Stimme zu hören; darauf zu achten, ob ich einer bösen Zunge folge oder einem guten Geist. Ob die Lehrerin mit ihrem Coup dem Schüler wirklich geholfen hat, bleibt offen. Auf jeden Fall aber folgte sie einer guten Absicht.

 


(1) Siehe hierzu: Welt und Umwelt der Bibel. Archäologie – Kunst – Geschichte. Heft 4/2021, S. 36-39.

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