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Alles hat seine Zeit – ungewöhnliche Weisheiten der Bibel
Bild: Dietmar Thiel/Pfarrei St. Josef Neu-Isenburg

Alles hat seine Zeit – ungewöhnliche Weisheiten der Bibel

Ein Beitrag von Martin Berker, Katholischer Pfarrer, Pfarrei Sankt Josef in Neu-Isenburg
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Zeit ist Leben 

„Es gibt Kalender und Uhren, um sie zu messen (die Zeit), aber das will wenig besagen, denn jeder weiß, dass einem eine einzige Stunde wie eine Ewigkeit vorkommen kann, mitunter kann sie aber auch wie ein Augenblick vergehen – je nachdem, was man in dieser Stunde erlebt. Denn Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen“ (Michael Ende, Momo, Stuttgart 1973, S. 59).

Diese Sätze haben Sie womöglich schon einmal gehört oder gelesen. Sie stammen aus dem Erfolgsbuch „Momo“ von Michael Ende. Momo ist ein kleines Mädchen, das gegen die grauen Herren kämpft, die den Menschen die Zeit stehlen. Eine lohnende Lektüre ist dieses Buch – genauso wie das Buch Kohelet, aus dem heute ein Abschnitt in den katholischen Gottesdiensten gelesen wird. Die Lebenszeit spielt hier auch eine bedeutende Rolle. 

Wie ein Hauch des Windes

Aus der Schrift dieses Propheten Kohelet im Alten Testament wird in den katholischen Gottesdiensten fast nie etwas vorgetragen – nur eben heute diese Stelle: Es geht dabei um die Welt, die vergänglich ist wie ein Hauch des Windes. Da heißt es: 

Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch. Denn es kommt vor, dass ein Mensch, dessen Besitz durch Wissen, Können und Erfolg erworben wurde, ihn einem andern, der sich nicht dafür angestrengt hat, als dessen Anteil überlassen muss. Auch das ist Windhauch und etwas Schlimmes, das häufig vorkommt. Was erhält der Mensch dann durch seinen ganzen Besitz und durch das Gespinst seines Geistes, für die er sich unter der Sonne anstrengt? Alle Tage besteht sein Geschäft nur aus Sorge und Ärger, und selbst in der Nacht kommt sein Geist nicht zur Ruhe. Auch das ist Windhauch. (Koh 1, 2; 2, 21-23)

Soweit das Zitat. Kohelet ist ein Buch mit großen Zweifeln, aber auch mit einem tiefen Gottvertrauen und großer Menschlichkeit. 

Musik 1: aus: Giacomo Carissimi, Vanitas vanitatum I (CD: Carissimi Motets, Ensemble Solamente, Hungaroton 2002, Track 11)  

Realistische und nüchterne Worte 

„Was hat dieses Buch in der Bibel zu suchen.“

Kurz vor der Priesterweihe sucht sich der Weihekandidat einen sogenannten Primizspruch aus. Ein Wort aus der Heiligen Schrift, das ihn begleitet, das ihn beschäftigt, das er als Lebensmotto für seinen pastoralen und seelsorglichen Dienst auswählt, sozusagen eine Überschrift für sein Priestersein. Ich habe mir damals ein Wort aus dem Buch Kohelet ausgesucht: „Alles hat seine Stunde.“ (Koh 3,1) Wir Priesteramtskandidaten haben uns gegenseitig unsere ausgesuchten Worte vorgestellt. Als ich sagte, dass ich mir ein Wort aus dem Buch Kohelet ausgesucht habe, bekam ich zur Antwort: „Was hat dieses Buch in der Bibel zu suchen.“ „Das klingt ja nur depressiv und pessimistisch.“ „Da ist doch von Gott nicht die Rede.“ „Ich würde schon ein aufbauendes und positives Wort erwarten.“ 

Mir geht es mit diesem Kohelet ganz anders als meinen Kollegen damals. Ich bin froh und dankbar, dass diese realistischen und nüchternen Worte in die Bibel mit aufgenommen wurden. Aus seinen Zeilen spricht ein kritischer, nachdenklicher und wohl auch gebildeter Mensch, dessen Thema immer wieder die Vergänglichkeit ist. Für mich sind seine Worte nicht pessimistisch. Seine Verse wollen zu einem bewussten Leben führen. Ich finde auch: Er ist ein Autor, der in unsere Zeit passt. Wie viele Menschen heute, zweifelt er an Gott oder einem Sinn des Lebens, er stellt Dinge in Frage, denkt nach – und in all dem trägt ihn seine Gottesfurcht und sein Glaube. In seinen Fragen entdecke ich auch Fragen, die mich beschäftigen, Fragen nach dem, was mein Lebensfundament ist. Ich entdecke darin, dass er zum Glauben an Gott führen will. Wo Menschen fragen und suchen, ehrlich und voller Leidenschaft, da sind sie auf dem Weg zu Gott, auch wenn sie ihn noch nicht endgültig gefunden haben. 

Musik 2: aus: Giacomo Carissimi, Vanitas vanitatum II  (CD: Vanitas Vanitatum ROME 1650, Tragicomedia, Teldec, track 1) 

 

Kohelet, diese Schrift aus dem Alten Testament, ist ein sehr modernes Buch, obwohl es schon über 2000 Jahre alt ist. Es ist vermutlich in der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. in Jerusalem entstanden. Die Zeit war von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Veränderungen bestimmt. Frömmigkeit schien wenig dazu beitragen zu können, ob jemand glücklich wurde. Ich erlebe ähnliche Dinge in unserer Zeit. Ich stelle mir die Frage: Wie geht es weiter mit dem Krieg in der Ukraine, werden wir genügend Energie, Wasser und Ressourcen in Zukunft haben?  

 

Was aber macht dann glücklich? 

Kohelet scheint auf den ersten Blick ein Mensch tiefer Skepsis zu sein. Für ihn ist es nicht wichtig, viel vom Leben zu bekommen – er schaut dankbar auf das, was er hat. Und diese Dankbarkeit führt ihn zur Lebensfreude. 

Gott danken für die Gaben 

Mit all seiner Bildung und Weisheit blickt er auf den Alltag der Menschen und stellt vieles in Frage. Immer wieder heißt es in seinem Buch: "Ich sah", im Sinne von "Ich beobachtete und zog meine Schlüsse daraus". Genauso macht er dies im Bibeltext über den Windhauch auch: Er fragt sich: Was nützt das alles, wenn man sich für seinen Besitz anstrengt und dann wieder alles verliert? Wer viel besitzt, so Kohelets Beobachtung, macht sich auch viele Sorgen, hat viel Ärger und kann nachts nicht schlafen. Geld allein macht nicht glücklich - das würde Kohelet folgern. Was aber macht dann glücklich? Das ist die Frage, die Kohelet umtreibt, die er aber in seinem Buch auch nur annäherungsweise beantworten kann. 

Ganz nüchtern rät er dazu, das Leben mit seinen Höhen und Tiefen, mit seinen Ungerechtigkeiten und allem Unbegreiflichem möglichst gelassen zu akzeptieren und sich mit der eigenen Vergänglichkeit abzufinden und Gott zu danken für die Gaben, die er mir schenkt, und sie zu genießen. 

An einer späteren Stelle heißt es: „Iss freudig dein Brot, und trink vergnügt deinen Wein; denn das, was du tust, hat Gott längst so festgelegt, wie es ihm gefiel ... Mit einer Frau, die du liebst, genieße das Leben alle Tage deines Lebens voll Windhauch, die er dir unter der Sonne geschenkt hat, alle deine Tage voll Windhauch. Denn das ist dein Anteil am Leben und an dem Besitz, für den du dich unter der Sonne anstrengst. Alles, was deine Hand, solange du Kraft hast, zu tun vorfindet, das tu!“(Koh 9,7–10). 

„Alles hat seine Zeit“

Wenn ich genau hinhöre, merke ich: Das ist nicht einfach ein Aufruf zu hemmungslosem Genuss. Immer ist hier auch von Gott die Rede: Gott teilt die Tage voll Windhauch zu, Gott schenkt die Kraft zu tun, was ich tun kann. 

Wie ein roter Faden zieht es sich durch das ganze Buch Kohelet: Was immer ich an Geld und Besitz erwerben kann, ist letztlich Gottes Geschenk. Und wenn ich es genießen kann, ist das auch Gottes Geschenk. Ich sollte also immer Gott auf der Rechnung haben – nie die Rechnung ohne ihn machen! Ich denke, das ist ein guter Ratschlag: Wenn ich weiß, dass mein Können und mein Besitz letztlich Gottes Geschenk sind, werde ich damit glücklicher und freigiebiger umgehen. 

Musik 3: aus: Orlando di Lasso, Omnia tempus habent (CD: Inferno, Roland de Lassus; Capella Amsterdam, Daniel Reuss; harmonia mundi, Track 1) 

Es gibt Texte in der Bibel, wenn ich die höre, werde ich schon nach den ersten Sätzen ganz still.  Und anderen geht es ähnlich. Man kann dann eine Stecknadel fallen hören. Ein weiterer Abschnitt aus dem Buch Kohelet gehört zu diesen eindrucksvollen Texten, „Alles hat seine Zeit“ beginnt er. Das liegt für mich an der Eindringlichkeit, mit der hier vom Wesentlichen des Lebens gesprochen wird: Von Zeit und Ewigkeit. Von Mensch und Gott. Und auch von mir selbst. 

Alles hat seine Stunde

Meinen Primizspruch habe ich aus diesem Text ausgesucht, „Alles hat seine Stunde“ heißt er, und stammt aus dem 3. Kapitel des Buches Kohelet.

In diesem Text werden Gegensatzpaare genannt, die den Wechsel des Lebens auszeichnen. 

1 Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit:


2 eine Zeit zum Gebären / und eine Zeit zum Sterben, / eine Zeit zum Pflanzen / und eine Zeit zum Ausreißen der Pflanzen,


3 eine Zeit zum Töten / und eine Zeit zum Heilen, / eine Zeit zum Niederreißen / und eine Zeit zum Bauen,


4 eine Zeit zum Weinen / und eine Zeit zum Lachen, / eine Zeit für die Klage / und eine Zeit für den Tanz;


5 eine Zeit zum Steinewerfen / und eine Zeit zum Steinesammeln, / eine Zeit zum Umarmen / und eine Zeit, die Umarmung zu lösen,


6 eine Zeit zum Suchen / und eine Zeit zum Verlieren, / eine Zeit zum Behalten/ und eine Zeit zum Wegwerfen,


7 eine Zeit zum Zerreißen/ und eine Zeit zum Zusammennähen, / eine Zeit zum Schweigen / und eine Zeit zum Reden,


8 eine Zeit zum Lieben / und eine Zeit zum Hassen, / eine Zeit für den Krieg / und eine Zeit für den Frieden.


9 Wenn jemand etwas tut - welchen Vorteil hat er davon, dass er sich anstrengt? 10 Ich sah mir das Geschäft an, für das jeder Mensch durch Gottes Auftrag sich abmüht. 11 Das alles hat er schön gemacht zu seiner Zeit. Überdies hat er die Ewigkeit in ihr Herz hineingelegt, doch ohne dass der Mensch das Tun, das Gott getan hat, von seinem Anfang bis zu seinem Ende wiederfinden könnte. (Koh. 3, 1-11) 

Sieben Sachen, die das Leben ausmachen 

Sieben Sachen werden in dem Text über das Leben aneinandergereiht: 

  • als erstes sein natürlicher Verlauf: vom Geborenwerden bis zum Sterben, vom Pflanzen bis zum Ausreißen;
  • als zweites die Gewalt, die in jedem Leben steckt und seine Wiedergutmachungsversuche: töten und heilen, einreißen und bauen; 
  • als drittes die Gefühle der Seele: weinen und lachen, klagen und tanzen;
  • als viertes seine Geschlechtlichkeit: lieben und aufhören zu lieben;
  • als fünftes der Besitz: ihn suchen oder verlieren, ihn behalten oder wegwerfen;
  • als sechstes Kommunikation: schweigen und reden, Kleider zerreißen aus Empörung oder Scham und sie danach auch wieder zunähen;
  • und als siebtes Beziehungserfahrungen: lieben und hassen, Friede und Streit. 

Wohl geordnet sind die sieben Sachen des Lebens in diesem Text, und das tut gut. Es fühlt sich so an, als wäre hier eine ausgleichende Gerechtigkeit am Werk, die dafür sorgt, dass am Ende doch alles ins Lot kommt: Weil alles scheinbar gleich viel Zeit bekommt, erscheint alles gut.

Wo bist Du Gott?

Aber wenn ich mir anschaue, was wie viel Zeit in meinem eigenen, ganz konkreten, persönlichen Leben bekommt, wird es komplizierter: Eigentlich will ich ja gar nicht, dass Hass genauso viel Zeit bekommt wie Nächstenliebe. Vom Lachen und der Freude, da kann ich nicht genug von bekommen, aber wenn das Hassen Lebenszeit von mir bekommt, das Weinen und Klagen, dann sieht es schon anders aus, dann frage ich gerne: Wo bist Du Gott?

Gott hat einen Plan

Mir sagt dieser Text: Gott hat alles wohl geordnet. Gott hat einen Plan, und er hat alles in seiner Hand. Er gibt mir nicht nur Mühen und Plagen, sondern er schenkt mir Freude am Leben. Alles hat seine Zeit, und ich darf das, was ich habe, genießen – genießen und dankbar aus Gottes Hand nehmen. Im Heute und Jetzt, nicht erst nach der Schule, der Ausbildung, der Karriere, dem Hausbau, den Kindern, dem Ruhestand – nein, jetzt.

Das lässt sich sicher leichter sagen, wenn ich darauf vertraue, dass Gott da ist, dass mein Leben in seiner Hand ist und dass er es gut mit mir meint.

Auch ich kann das nicht immer gleich vertrauensvoll glauben. Manchmal denke ich: Warum muss mir das jetzt passieren? Warum erleidet dieser Mensch so ein Schicksal? Aber mich fasziniert gerade deswegen dieses Buch Kohelet, das sagt: Diese Welt hat eine Balance und eine Mitte.  Kohelet bestätigt mir, auf Grund seiner Lebenserfahrung, dass diese Welt ihre Mitte hat und dass wir ein Gegenüber haben, das alles in Händen hält.

Es lässt sich leichter leben, wenn ich annehmen kann: Ich bin gewollt, so wie ich bin. Ich bin wertgeschätzt – und das kann ich im Grunde nicht verspielen. Und: Gott meint es gut mit mir. 

Musik 4: aus: Giacomo Carissimi, Vanitas vanitatum II (CD: Vanitas Vanitatum ROME 1650, Tragicomedia, Teldec, Track 1) 

An den der Wind sie hinweht

Mich fasziniert dieses Buch Kohelet aus der Bibel, ich kann es immer und immer wieder zur Hand nehmen und entdecke darin Lebensweisheiten, die mir gut tun. Zum Beispiel eben diese Weisheit: Ich muss nicht die Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten meines Lebens schönreden, aber ich darf mir – im Wissen um die Begrenztheit meiner Zeit – auch die frohen und unbeschwerten Tage gönnen. 

Zeit ist etwas Kostbares 

Die Zeit ist etwas so Kostbares – das verbindet das Buch Kohelet aus der Bibel mit Michael Endes Buch „Momo“. Es endet mit den Worten: „Und nachdem der Jubel und das Umarmen und das Händeschütteln und Lachen und Durcheinanderschreien sich gelegt hatten, setzten alle sich rundherum auf die grasbewachsenen steinernen Stufen. Es wurde ganz still. Momo stellte sich in die Mitte des freien runden Platzes. Sie dachte an die Stimmen der Sterne und an die Stunden-Blumen. Und dann begann sie mit lauter Stimme zu singen“ (Michael Ende, Momo, Stuttgart 1973, S. 269). 

Als Christ kann ich ein Lied auf Gott und über die Zeit singen. Am Sonntag. Im Urlaub. 24 Stunden am Tag. Sieben Tage in der Woche. 52 Wochen im Jahr: 
Wenn jetzt Ferien sind, dann wünsche ich allen: Genießen Sie die Zeit. Blicken Sie gespannt, neugierig und offen nach vorne. Genießen Sie, was kommt. Und genießen Sie es an dem Ort, an den der Wind sie hinweht.

Musik 5: aus:Giacomo Carissimi, Vanitas vanitatum I (CD: Carissimi Motets, Ensemble Solamente, Hungaroton 2002, Track 11)

(Musikauswahl: Regionalkantorin Regina Engel, Neu-Isenburg)

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