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Ostern erfahren
Bild: medio.tv/Dellit & Schauderna

Ostern erfahren

Tina Oehm-Ludwig
Ein Beitrag von Tina Oehm-Ludwig, Evangelische Pfarrerin, Versöhnungskirche-Matthäuskirche Fulda
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"Rühr‘ mich nicht an!" Wer das sagt, will sich in der Regel abgrenzen. Vielleicht will er sich auch schützen. "Rühr‘ mich nicht an!" Wer das gesagt bekommt, hält in der Regel inne und ist darüber hinaus vielleicht auch verletzt. Denn dieser Satz bedeutet Zurückweisung. Er tut weh – gerade dann, wenn er von einem Menschen kommt, den man berühren möchte. Dem man nahe sein will. Der einem etwas bedeutet.

Berührung ist für viele wichtig

Berührung ist für die meisten Menschen sehr wichtig. Sie brauchen sie. Das ist vielen von uns in der Coronapandemie deutlich geworden. Auf viele Berührungen mussten wir in dieser Zeit verzichten. Und hätten sie vielleicht dringend gebraucht, um verstehen zu können: die Liebe und Zuneigung eines anderen Menschen, Geborgenheit und Halt. Um verstehen zu können: Etwas ist da. Etwas ist so, wie es scheint. Denn Berührung ist eine wesentliche, wenn nicht sogar die entscheidende Art und Weise, die Wirklichkeit zu erfassen.

Musik: Nicolaus Bruhns, Erstanden ist der heilige Christ

"Rühr‘ mich nicht an!" dieser Satz von Jeus ist kaum zu verstehen

Berührung ist für die meisten von uns sehr wichtig. Wir brauchen sie, um die Welt und die Menschen um uns herum zu verstehen. Daher ist der Satz "Rühr‘ mich nicht an!" für viele schwer zu ertragen. Kaum zu glauben, dass Jesus ihn einmal gesagt haben soll. Nach dem Evangelisten Johannes sagt Jesus diesen Satz am Ostermorgen zu Maria von Magdala, die auch unter dem Namen Maria Magdalena bekannt ist. Er sagt ihn ausgerechnet zu der Frau, die ihm – neben seiner Mutter – wohl am nächsten stand.

Wir hörendie Geschichte, wie der Evangelist Johannes sie erzählt:

Bibeltext: Johannes 20, 11-18

11 Maria stand draußen vor dem Grab und weinte. Als sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein

12 und sieht zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, einen zu Häupten und den andern zu den Füßen, wo der Leichnam Jesu gelegen hatte.

13 Und die sprachen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie spricht zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.

14 Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß nicht, dass es Jesus ist.

15 Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mir: Wo hast du ihn hingelegt? Dann will ich ihn holen.

16 Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und spricht zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni!, das heißt: Meister!

17 Spricht Jesus zu ihr: Rühre mich nicht an! Denn ich bin noch nicht aufgefahren zum Vater. Geh aber hin zu meinen Brüdern und sage ihnen: Ich fahre auf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott.

18 Maria Magdalena geht und verkündigt den Jüngern: "Ich habe den Herrn gesehen", und was er zu ihr gesagt habe. (Johannes 20,11-18)

Maria Magdalena möchte den Auferstandenen berühren, um zu verstehen

Maria Magdalena möchte Jesus berühren. Sie möchten ihn berühren, um verstehen zu können. Sie möchte durch diese Berührung das Ostergeschehen verstehen. Sie möchte Ostern – im wahrsten Sinne des Wortes – begreifen. Sie hat mit ihren Augen gesehen, sie hat erkannt: Es ist tatsächlich Jesus, der da vor ihr steht. Es ist nicht der Gärtner, wie sie ursprünglich vermutet hat. Es ist auch kein Fremder und es ist schon gar kein Toter, der da vor ihr steht. Es ist tatsächlich Jesus, ihr Freund und Vertrauter, und zwar der lebendige Jesus. Aber nun möchte Maria Magdalena – ganz menschlich – auch Hand anlegen. Sie möchte Jesus berühren. Sie möchte ihn anfassen, ihn vielleicht sogar umarmen. Alles soll wieder so sein wie früher – wie vor Jesu Tod. Doch Jesus entzieht sich ihr und sagt: "Rühr‘ mich nicht an!"

Auferstehung ist etwas völlig Neues

Es ist nicht alles so wie früher. Genauer gesagt: Es ist überhaupt nichts mehr so wie früher. Denn es ist Ostern geworden. Jesus ist auferstanden. Und das bedeutet: Jesus ist nicht einfach in den Zustand vor seinem Tod zurückgekehrt. Er ist als Auferstandener ins Leben zurückgekehrt. Und Auferstehung bedeutet nicht, dass alles so ist wie früher. Auferstehung ist nicht die Fortsetzung des Lebens, wie wir es kennen.

Auferstehung ist etwas vollkommen Neues. Etwas, das wir nicht kennen. Etwas, das wir bestenfalls erahnen können.

Musik: Nicolaus Bruhns, Erstanden ist der heilige Christ

Auferstehung ist nichts, was man anfassen kann

"Rühr mich nicht an!" So sagt Jesus, der Auferstandene, am Ostermorgen zu Maria Magdalena. Genau genommen ist das das Problem mit der Auferstehung bis heute: Sie ist einfach nichts zum Berühren. Die Auferstehung ist nichts, das man anfassen und begreifen könnte – weder mit Händen noch mit dem Verstand. Dabei wäre eine Berührung für viele Menschen so wichtig, um verstehen zu können. Um diese neue Wirklichkeit verstehen zu können. Doch die Geschichte von der Begegnung zwischen Maria Magdalena und dem auferstandenen Jesus am Ostermorgen macht unmissverständlich deutlich: Wir können das, was an Ostern geschehen ist, wir können die Auferstehung nicht einfach anfassen. Wir können sie nicht begreifenund daher auch nicht bis ins Letzte hinein verstehen. Diese Erkenntnis schmerzt. Sie tut weh. Wie auch der Satz "Rühr‘ mich nicht an!" wehtut. Denn es geht bei der Auferstehung nicht um irgendetwas, sondern es geht um den Kern, um die Mitte unseres Glaubens. Es geht um den Dreh- und Angelpunkt all unserer Hoffnung – für uns selbst und für die Menschen, die wir lieben.

Ostern ist dennoch zu erfahren

Wir können die Auferstehung nicht einfach anfassen. Wir können sie nicht begreifenund daher auch nicht bis ins Letzte hinein verstehen. Aber das bedeutet nicht, dass wir das, was an Ostern geschehen ist, nicht erfahren können. Es kann für uns trotzdem Ostern werden. Auch das macht die Geschichte von der Begegnung zwischen dem auferstandenen Jesus und Maria Magdalena am Ostermorgen unmissverständlich deutlich. Denn für Maria ist es an diesem Ostermorgen tatsächlich Ostern geworden. Maria hat an jenem Ostermorgen Ostern tatsächlich erfahren – und das, obwohl sie Jesus nicht berühren durfte. Sie hat Ostern sogar schon erfahren, bevor sie Jesus überhaupt berühren wollte. Schon vorher hat sie erkannt: Der da vor ihr steht, ist nicht der Gärtner, auch kein Fremder und schon gar kein Toter, sondern der lebendige Jesus. Schon vorher hat Maria erkannt: Jesus ist nicht im Tod geblieben, er lebt. Die Frage ist nur: Wie hat Maria Ostern erfahren? Wie ist es für sie Ostern geworden?

Maria Magdalena erfährt Ostern durch die Weitung ihres Blicks

Für Maria Magdalena ist es Ostern geworden, indem sich ihr Blick geweitet hat – ihr Blick, der ganz und gar eng geworden war, der ganz und gar verhaftet war an dem Vergangenen. Maria lebte nur noch in der Vergangenheit – in dem, was sie mit Jesus erlebt hatte, und in ihrer Trauer um den toten Freund. An jenem Ostermorgen geht sie traurig zu seinem Grab. Als sie dort ankommt, sieht sie: Der Stein ist weggerollt und das Grab leer ist! Zuerst denkt sie: Vielleicht haben sie den Leichnam umgebettet. Dann kommt ihr der Gedanke: Der Leichnam wurde gestohlen! Maria ist ganz gefangen in ihrem Schmerz – in ihrem Schmerz, jetzt noch nicht einmal mehr den toten Jesus zu haben. Als sie ins leere Grab hineinschaut, sieht sie dort zwei Engel. Doch auch das ändert nichts an ihrer Trauer. Marias Blick haftet ganz und gar an dem Vergangenen. Als sie sich vom Grab wegdreht, wird sie Jesus gewahr. Im ersten Moment hält sie ihn für den Gärtner, der den Leichnam vielleicht weggenommen hat. Maria will wenigstens die sterblichen Überreste Jesu zurückhaben – alles, was ihr von Jesus geblieben ist. Sie will wenigstens seinen Leichnam – die denkbar größte Reliquie – zurückhaben, damit sie die Erinnerung an ihn bewahren und seiner gedenken kann. Marias Blick haftet ganz und gar an dem Vergangenen.

Wenn der Blick an dem haftet, was vergangen ist

Viele von uns kennen das auch: Der Blick haftet an dem, was vergangen ist. Das einzig mögliche Glück scheint dann in der Erinnerung zu bestehen. Von der Gegenwart und der Zukunft erwartet man demgegenüber nichts oder zumindest nicht viel und vor allem nichts Gutes. Solche Zeiten sind von Melancholie geprägt, von Resignation und von Traurigkeit.

Für Hannelore, 73 Jahre, ist das Osterfest alle Jahre wieder eine solche Zeit. Denn Ostern ist für sie ein Fest mit vielen Erinnerungen. Da sind die Erinnerungen an das Eierfärben und Eiersuchen der Kinder. Da sind die Erinnerungen an fröhliche Familienfeste in großer Runde, bevor die Ehe des Sohnes zerbrach und die Tochter mit ihrer Familie ins Ausland ging. Da sind die Erinnerungen an die Zeit, als sie wenigstens noch mit ihrem Ehemann Günther Ostern feiern konnte. Doch Günther ist vor drei Jahren gestorben. Ganz plötzlich, von jetzt auf gleich. Herzinfarkt. Für ihn war das zwar ein "schöner" Tod – ein Tod, wie er ihn sich immer gewünscht hat. Aber er kam viel zu früh. Und es gab keine Möglichkeit des Abschiednehmens. Nun ist Hannelore an Ostern allein, und ihr Blick haftet an dem, was vergangen ist.

Musik: Heinrich Schütz, Auferstehungshistorie: Jesus erscheinet der Maria Magdalena

Der Auferstandene nennt Maria beim Namen

Für Maria Magdalena ist es Ostern geworden, indem sich ihr eng gewordener Blick geweitet hat. Dies geschieht in einem einzigen Augenblick – in dem Augenblick, in dem der auferstandene Jesus sie bei ihrem Namen nennt: „Spricht Jesus zu ihr: Maria!“ In diesem Moment fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: Der da vor ihr steht, ist nicht der Gärtner, sondern es ist Jesus, der lebendige Jesus. Deshalb ist das Grab leer. Niemand hat Jesu Leichnam umgebettet oder gar gestohlen. Das Grab ist leer, weil Jesus von den Toten auferstanden ist. In einem einzigen Augenblick weitet sich Marias Blick über Tod und Trauer hinaus. Ihr Blick ist nicht länger in der Vergangenheit verhaftet. Er löst sich und öffnet sich für die Gegenwart und sogar für die Zukunft – mit der überraschenden Erkenntnis: Von beiden gibt es noch etwas zu erwarten! Maria erkennt: Gott ist mit seinen Möglichkeiten noch lange nicht am Ende! Sie erkennt: Gott hat noch etwas mit mir vor! So geht sie nach der Begegnung mit dem Auferstandenen geradewegs zu Jesu Jüngern und verkündigt ihnen: "Ich habe den Herrn gesehen." Maria wird zur ersten Osterzeugin.

Ostern zu erfahren, das bedeutet: Ich spüre, wie mein Blick sich weitet

Ostern zu erfahren, das bedeutet: Ich spüre, wie mein Blick sich weitet. Ich spüre, wie sich eine neue, umfassende und befreiende Perspektive auf mein Leben auftut. Ich spüre: Leben ist möglich. Neues Leben ist möglich – schon hier und jetzt und über den Tod hinaus.

Hannelore hat genau das letztes Jahr an Ostern gespürt. Nach langem Zögern ist sie schließlich doch zum Ostergottesdienst gegangen und hat dort eine alte Schulfreundin wiedergetroffen, die ebenfalls verwitwet ist. Nun verabreden sich die beiden regelmäßig zum Kaffeetrinken und engagieren sich gemeinsam in der Hausaufgabenbetreuung für benachteiligte Kinder in ihrem Stadtteil.

Maria Magdalenas Blick hat an dem gehaftet, was vergangen ist. Hannelores Blick ebenfalls. Manchmal sind es auch andere Menschen, die den eigenen Blick verhaften, die ihn einschränken oder ganz gefangen nehmen. Mein Blick haftet dann an der Anerkennung der anderen: meiner Familie, meiner Freunde, Nachbarn und Kollegen, "der Gesellschaft". Mein Blick haftet daran, wie sie mich sehen, was sie von mir halten, wie sie mich beurteilen.

Beim Namen nennen heißt jemanden kennen

Bei der Begegnung zwischen Maria Magdalena und dem auferstandenen Jesus "spricht Jesus zu ihr: Maria!" Jesus spricht Maria mit ihrem Namen an. Er nennt sie bei ihrem Namen. Und das heißt: Er kennt sie. Er weiß um sie – um ihr Leben, ihre Sehnsüchte, ihr Verlangen nach Liebe und Geborgenheit. Er weiß auch um ihr Versagen und um ihre Schuld. Ostern zu erfahren, das bedeutet auch das: Ich werde gewahr, dass ich erkannt bin. Ich werde gewahr, dass ich anerkannt bin – von dem Auferstandenen. Mit meinem ganzen Leben. Jesus spricht mich zwar nicht wie Maria direkt mit Namen an, aber er kennt meinen Namen. Er erkennt mich. Er erkennt mich an. Daher brauche ich mein Leben nicht damit zu verbringen, die Anerkennung der anderen zu erlangen. Ich brauche nicht um ihre Anerkennung und um ihren Beifall zu kämpfen, so sehr ich mich dankbar darüber freuen darf. Denn ich kann aus der Anerkennung dessen leben, der mich schon längst erkannt hat – als die, die ich bin. Und das ist Jesus, der Auferstandene. Gewahr zu werden, dass der Himmel um mich weiß – auch das ist eine Ostererfahrung. Denn ich spüre, wie mein Blick sich weitet.

Musik: Heinrich Schütz, Auferstehungshistorie: Jesus erscheinet der Maria Magdalena

Ostern erfahren durch Loslassen

"Rühr‘ mich nicht an!", so sagt der auferstandene Jesus am Ostermorgen zu Maria Magdalena. „Rühr‘ mich nicht an!“, so heißt es in gewisser Hinsicht auch für uns heute, wenn es darum geht, das Ostergeschehen fassen und greifen zu wollen. Aber vielleicht geht es bei dem Ostergeschehen überhaupt nicht darum, etwas zu fassen zu bekommen, sondern um das Gegenteil. Vielleicht erfahre ich Ostern gerade dann, wenn ich etwas aus den Händen gebe, wenn ich etwas loslasse. Wenn ich etwas Vergangenes loslasse. Etwas, das mich davon abhält, in der Gegenwart zu leben und für die Zukunft offen zu sein. Oder wenn ich die anderen loslasse, genauer gesagt: deren Meinung über mich, wenn sie mich davon abhält, um meinen unverrechenbaren Wert zu wissen. Meinen eigenen Wert als Geschöpf und Kind Gottes, der zu mir sagt: "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!" (Jesaja 43,1)

Ich wünsche Ihnen ein gesegnetes Osterfest!

Musik: Nicolaus Bruhns, Erstanden ist der heilige Christ

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