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Sehnsucht im Frühling
Bild: Pixabay/shogun

Sehnsucht im Frühling

Dr. Willi Temme
Ein Beitrag von Dr. Willi Temme, Evangelischer Pfarrer, Martinskirche Kassel
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Sehnsucht nach dem Frühlinge – so ist ein Lied von Mozart überschrieben, das mit den Worten beginnt „Komm, lieber Mai, und mache die Bäume wieder!“ Viele von uns werden das Lied kennen und womöglich auch schon selber gesungen haben.

Sehnsucht nach dem Frühlinge – der Titel des Liedes soll uns heute das Thema vorgeben für unsere morgendlichen Gedanken am 20. März. Der Kalender sagt uns: heute ist Frühlingsanfang. Und was der Frühling mit der Sehnsucht zu tun hat und wie es mit der Sehnsucht bestellt ist: darum soll es in dieser Morgenfeier gehen.

MUSIK: W.A. Mozart, Sehnsucht nach dem Frühlinge K. 596

Sehnsucht nach Frühling und neuer Freiheit

Die Sehnsucht nach dem Frühling ist die Sehnsucht nach Wärme, nach Licht, nach Blumen, nach Farben, nach Vogelgesang. Und es ist die Sehnsucht nach neuer Freiheit: endlich wieder rausgehen können und das Leben im Freien genießen: bei einem Spaziergang, bei einem Kaffee auf der Terrasse oder in einem Straßencafé. Endlich die schwere Winterkleidung abwerfen und wieder leichter durchs Leben gehen können!

„Ach, wenn’s doch erst gelinder
Und grüner draußen wär,
Komm, lieber Mai, wir Kinder,
Wir bitten dich gar sehr!“

Sehnsucht nach erfüllter Liebe

Ach ja, und für manch eine und manch einen bedeutet Frühling auch die Sehnsucht nach erfüllter Liebe. Das wird in unserem Lied nur kurz angedeutet, wenn da von „Lottchens Herzeleid“ die Rede ist. In anderen Frühlingsliedern und –gedichten aber wird die Liebessehnsucht immer wieder besungen. Die erwachende Natur lässt auch unser Herz erwachen und Sehnsucht steigt auf nach neuer Liebe und neuem Leben.
„Frühlingsnacht“ heißt ein Gedicht von Joseph von Eichendorff, in dem das so zum Ausdruck kommt.

Übern Garten durch die Lüfte
Hört ich Wandervögel ziehn,
Das bedeutet Frühlingsdüfte,
Unten fängt's schon an zu blühn.

Jauchzen möcht ich, möchte weinen,
Ist mir's doch, als könnt's nicht sein!
Alte Wunder wieder scheinen
Mit dem Mondesglanz herein.

Und der Mond, die Sterne sagen's,
Und in Träumen rauscht's der Hain,
Und die Nachtigallen schlagen's:
Sie ist deine, sie ist dein!

Auch in Krisenzeiten sich nach dem Frühling sehnen

Bevor wir an dieser Stelle der Spur der Sehnsucht weiter folgen, habe ich aber doch das Bedürfnis, mich mit Ihnen gemeinsam zu vergewissern, ob das in Zeiten wie diesen auch geht: über den Frühling reden und über Liebessehnsucht, wo doch im Moment ganz andere Themen unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen: vor allem der Krieg, die Klimakrise und die Pandemie. Ich bin zu dem Schluss gekommen: ja, gerade in solchen bösen Zeiten, wie wir sie gerade erleben, ist es wichtig, die Schönheit des Frühlings wahrzunehmen und uns nach ihr auszustrecken. Und gut mag es auch sein, neben unseren Gefühlen von Entsetzen, Angst und Zorn auch die zarten Gefühle in uns nicht zu übersehen, sondern sie zu würdigen und zu pflegen.

MUSIK: W.A. Mozart, Klavierkonzert Nr. 27 B-Dur KV 595, 2. Satz: Larghetto

„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“

Auf unserer Expedition zur Erforschung der Sehnsucht, kommen wir wohl nicht drum herum noch einen weiteren Dichter zu Rate zu ziehen, der ein Spezialist für unser Thema ist.

„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“ – fast schon sprichwörtlich ist dieser Anfang eines Gedichts von Johann Wolfgang Goethe geworden. Kaum jemand, der oder die diese Worte wohl nicht kennt. Sei es gesprochen oder auch gesungen.

„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“ – Bei Vertonungen des Gedichts war hier immer die Gefahr gegeben, dass daraus eine Schnulze wird, ein rührseliger Gesang, der es allein auf die Tränendrüsen abgesehen hat. Ja, überhaupt muss man wohl sagen, dass das Thema Sehnsucht – sei es in Liebesfilmen oder im Roman – dass dieses Thema immer ein wenig bedroht ist, verschlissen zu werden. Benutzt zu werden, um sentimentale Gefühle hervorzukitzeln.

Sehnsucht, die zu Gott hin zieht

Jedoch die Sehnsucht recht betrachtet hat überhaupt nichts zu tun mit Rührseligkeit und Sentimentalität. Sehnsucht ist ein starkes, ist ein echtes, ist ein drängendes Gefühl. Ein Gefühl, das uns über uns hinaus zieht – hin zu etwas anderem: sei es zu einem anderen Menschen, sei es zu einer anderen Lebenswirklichkeit (wie Frühling oder auch Frieden), oder sei es hin zu Gott.

„Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott“.

Bevor wir aber dieser Sehnsucht nach Gott, von der Psalm 84 spricht, nachspüren wollen, lassen wir heute einmal Goethe Gerechtigkeit widerfahren und lauschen dem kurzen Gedicht, in Gänze. Ich bin nämlich sicher: hier erfahren wir ganz Wesentliches darüber, was es mit der Sehnsucht auf sich hat:

Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh ich ans Firmament
Nach jener Seite.
Ach! der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwindelt mir, es brennt
Mein Eingeweide.
Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!

Sehnsucht offenbart: Hier fehlt was

Sehnsucht – so erfahren wir hier, hat etwas zu tun mit einem Brennen im Leib ganz tief innen und mitunter auch mit Schwindelig werden und damit, die Orientierung zu verlieren.

Die Sehnsucht, so könnte man sagen, hat ihre Wohnung im Bauch. Von dorther drängt sie nach außen, ja drängt manchmal so heftig, dass derjenige, der sie spürt, mitunter Angst haben muss um sich, und wenn es schlimm kommt, sogar um sein Leben. Denn die Sehnsucht gibt unmissverständlich zu verstehen: Dir fehlt etwas! Dir fehlt etwas zum Leben! Du brauchst etwas Wesentliches, was du jetzt nicht hast. Du brauchst unbedingt etwas, was du jetzt entbehren musst.

Die Sehnsucht, so sagt es Goethe, ist das Gefühl, abgeschieden zu sein, getrennt und abgeschieden von etwas ganz Wichtigem - in unserem Gedicht: abgeschieden zu sein von dem Geliebten:

Ach, der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwindelt mir, es brennt
Mein Eingeweide.

MUSIK: Franz Schubert, Nur wer die Sehnsucht kennt D. 877/4   

Nicht jede Erfüllung einer Sehnsucht, bedeutet Glück

Ja es ist sicher so: die meisten Menschen erleben das starke Gefühl der Sehnsucht in Bezug auf einen geliebten Menschen. Es ist die Sehnsucht nach Liebe und nach dem Geliebtwerden, die uns umtreibt. Eine Sehnsucht, in deren Erfüllung wir das Glück erspähen. Wenn der geliebte Mensch endlich da wäre, wenn die Liebe zu ihrem Ziel gelangte, dann und erst dann wäre alles gut und das Leben in Ordnung.
Jedoch, man muss sagen: längst nicht immer bedeutet die Erfüllung eines tief gehegten Sehnsuchtswunsches auch tatsächlich das Erleben des angestrebten Glücks. Manchmal dauert dieses Glück, wenn es sich denn tatsächlich einstellt, nur kurz. Und ein anderes Mal entpuppt sich das herbeigesehnte Glück geradezu als Unglück. Eine kleine Geschichte aus dem 19. Jahrhundert mag das verdeutlichen:

Die Geschichte von Lulu

Bei einem Besuch in einer – wie man damals sagte - Irrenanstalt nahm ein Besucher wahr, wie einer der Insassen auf einem Stuhl saß und sich ständig hin und herwiegte. Immer wieder murmelte der Kranke die Worte: „Lulu, Lulu ...“

„Was hat dieser Mann für ein Problem?“ fragte der Besucher den Arzt.

„Lulu – antwortete der Doktor -: sie war die Frau, nach der er sich gesehnt hat; aber Lulu hat ihn sitzen gelassen.

„Ah, ich verstehe“, sagte der Gast.

Besucher und Arzt gingen weiter und kamen nun zu einer Gummizelle: deren Bewohner schlug immer wieder mit seinem Kopf gegen die Wand, und stöhnend wiederholte er immer wieder: „Lulu, Lulu...“

„Ist Lulu auch das Problem dieses Mannes?“ fragte der Besucher?

„Ja – antwortete der Arzt – auch dieser Mann hat sich nach Lulu gesehnt. Aber diesen Mann hat sie geheiratet!“

Die Geschichte mag uns lehren: obwohl doch die Sehnsucht ein so großes und starkes und brennendes Gefühl ist – nicht immer ist unsere konkrete Sehnsucht für uns auch ein guter Wegweiser zu unserem Glück.

Beides, die Erfüllung wie die Nichterfüllung unseres Sehnsuchtswunsches kann am Ende unser Glück sein. Und auch umgekehrt: Beides, die Erfüllung und die Nichterfüllung unseres Sehnsuchtswunsches kann am Ende unser Unglück sein. Man kann sich darauf nicht verlassen.

Wenn Sehnsucht Leiden schafft-was tun?

Und dennoch: der Sehnsucht entweichen – das können wir nicht. Zu stark ist dieses Gefühl, das uns sagt: dir fehlt etwas, und wenn du das nicht bekommst, wirst du unglücklich sein – und im schlimmsten Fall: wirst du nicht mehr leben können. Wir kennen die Geschichten von unerfüllter Liebessehnsucht. Die Zeitungen sind voll davon.

So stellt sich denn die Frage: wenn es sich denn so verhält, dass die Sehnsucht Leiden schafft: wie gehen wir dann am besten mit ihr um? Sollten wir sie vielleicht nicht am besten ganz fliehen lassen oder vielleicht versuchen, sie zu ignorieren, versuchen, sie gar nicht zu beachten?

Ja, auch das gibt es, dass Menschen ihre Sehnsucht gewissermaßen begraben haben, dass es da nichts mehr gibt, wohin ihre Sehnsucht zielt – da ist kein geliebter Mensch, den man sich herbeiwünscht, kein Lebensplan, der nach einer Erfüllung drängt, keine Verbesserung des jetzigen Gesundheitszustands, keine Sehnsucht nach einer friedlicheren Welt.

Sollte das denn die Lösung sein für unsere Sehnsucht, dass wir sie gewissermaßen abschaffen, weil sie ja doch immer mit Leiden verbunden ist?

MUSIK: W.A. Mozart, Klavierkonzert Nr. 27 B-Dur KV 595, Larghetto

In der Sehnsucht, spüren wir das Leben

Ich meine, dem Sehnsuchtsleiden sollten wir nicht entfliehen wollen. Denn in der Sehnsucht spüren wir das Leben, spüren wir das Feuer, das unserem Leben Antrieb gibt. Und dem brennenden Leben nachzuspüren, ist an sich ein Wert, ist ein Schatz, den wir nicht wegwerfen sollten.

Aber wir sollten doch vielleicht von dem Ziel Abschied nehmen, unsere Sehnsucht in diesem Leben jemals ganz und vollständig und auf Dauer stillen zu können. Ja, es gibt die Momente gestillter Sehnsucht, Momente der Seligkeit gewissermaßen. Momente größten Glücks. Aber ich kennen niemanden, der von sich immer und in jeder Situation sagen könnte: Ich bin ganz, ich bin vollständig, ich habe alles, es gibt nichts mehr, wonach ich mich sehne. Und selbst wenn das auf unser privates Leben zutreffen würde und man mit sich selbst im Frieden lebte: die Welt da draußen wird diesen Zustand wohl nie erreichen. Die Sehnsucht nach Frieden unter den Menschen und mit der Natur – diese Sehnsucht wird wohl nie ganz gestillt werden können.

Aber für kurze lichte Momente scheint uns die Erfahrung von gestillter Sehnsucht ab und an geschenkt zu werden. Das sind dann Momente, in denen gewissermaßen die Ewigkeit hindurchschimmert, Momente eines höheren Glücks.


MUSIK: W.A. Mozart, Klavierkonzert Nr. 27 B-Dur, K. 595, 3. Satz: Allegro

Religiöse Menschen finden die Erfüllung ihrer Sehnsucht immer wieder in Gott

Wie lieb sind mir deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott“.

Wie hier in den Worten von Psalm 84, haben religiöse Menschen schon immer die Erfüllung ihrer Sehnsucht in Gott erblickt. Und ich meine, wir tun der Sehnsucht die höchste Ehre, wenn wir sie letztlich begreifen als einen Drang nach einem höheren Leben, nach einem Leben in Ganzheit und Fülle, nach einem Leben mit und in Gott.

Das aber ist eine Erfahrung, die wir in diesem irdischen Leben nie ganz erfüllt sehen werden.

Erst nach unserem Tod ist die Sehnsucht nach Gott vollständig gestillt

In unserem Psalmwort, das vom Heiligtum Gottes spricht, ursprünglich vom Tempel in Jerusalem, heißt es weiter:

Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen – deine Altäre, Herr Zebaoth.

Da bei Gott, sagt der Psalm, ist erst das rechte Zuhause, da erst kommen wir zu unserer wahren Heimat. Da erst wird unsere Sehnsucht ganz gestillt.

Hier aber in diesem Leben gibt uns ein Wort von Jesus zu denken, das uns bei allzu hohen Sehnsuchts-Höhenflügen wieder herunter holen kann auf den Boden nüchterner Tatsachen. Jesus sagt:

Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.

Getröstet, weil Jesus unsere Heimatlosigkeit mit uns teilt

Hier in diesem Leben werden wir nie ganz und vollständig behaust sein. Und es soll uns trösten, dass Jesus diese Heimatlosigkeit mit uns geteilt hat. Hier in diesem Leben wird die Erfüllung unserer Sehnsucht nach Ganzheit und Glück immer nur Stückwerk bleiben.
Und dennoch: unsere Sehnsucht soll uns hier schon etwas erahnen und auch spüren lassen von jenem Zuhause, das uns Glück und Erfüllung bringen soll:

Wie lieb sind mir deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar.

Musik:   J.G. Rheinberger, „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ op. 35

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