Ihr Suchbegriff
Beitrag anhören:
Mit deinen Augen schauen
GettyImages/Polina Panna

Mit deinen Augen schauen

Stefan Claaß
Ein Beitrag von Stefan Claaß, Evangelischer Pfarrer und Professor, Theologisches Seminar Herborn
Beitrag anhören:

Die Adventszeit hat für mich zwei Gesichter. Ein Kindergesicht, in dem die Augen strahlen voller Vorfreude auf Weihnachten. Die Zukunft dauert ab heute noch gut zwei Wochen, dann ist Weihnachten. Das andere Gesicht in der Adventszeit ist erwachsen.

Ein fröhliches Gesicht - und ein sorgenvolles

Es schaut ein wenig skeptisch und sorgenvoll nach vorn. Die Zukunft dauert ab heute – ja, wie lange eigentlich? Bis der Winter vorbei ist und die Sorge um Energie nicht mehr so groß ist? Oder bis zum eigenen Lebenshorizont: Was werde ich wohl noch alles erleben, bis ich alt bin? 

Am zweiten Advent geht es um die Zukunft

Seit die christliche Kirche Advent feiert, hat sie den heutigen Tag, den 2. Advent, zu einem Tag der Hoffnung für die ganz weite Zukunft gemacht. Wann werden wir einen Frieden erleben, den kein Autokrat stören kann? Wann wird kein Mensch mehr hungern oder frieren? Advent heißt ja Ankunft: Wird die Erfüllung dieser Wünsche je ankommen? Erwachsen in die Zukunft schauen heißt: Sorgen und Hoffen beieinander halten.

Harry, Meghan und Lilibet

Ich muss an Harry und Meghan denken, die beiden aus dem englischen Königshaus, die jetzt in Kalifornien leben. Sie haben bei der Geburt ihres zweiten Kindes Lilibet bekannt gegeben, sie wollten keine weiteren Kinder mehr in die Welt setzen. Aus Verantwortung für die Zukunft, das Klima und die Übervölkerung der Erde. 

Soll man noch Kinder in die Welt setzen?

An dieses Statement musste ich denken, als ich in einem Café die Familiendiskussion am Nebentisch mitbekam. Ich habe nicht gelauscht, die Debatte war einfach nicht zu überhören. Sie wurde lauter und hitziger, nachdem die Tochter verkündet hatte: "Ich bekomme keine Kinder. Das könnte ich nicht verantworten, so wie unsere Welt sich entwickelt." Die Eltern waren "not amused", wie die Engländer das nennen würden. Die Mutter, vielleicht so in den 50ern, war ziemlich aufgebracht und erinnerte ihre Tochter daran, dass die eigene Kinderzeit doch wohl auch schön gewesen sei. Und eigene Kinder würden doch erst recht dazu motivieren, sich für eine gute Zukunft einzusetzen. Der Vater neben ihr fing an, von fehlenden Fachkräften und Renten zu erzählen.

Advent hat was mit einem Kind zu tun

Irgendwie hatte jeder der Beteiligten recht, dachte ich. Jede und jeder aus der eigenen Perspektive. Sie haben ihre Argumente gegeneinandergehalten und haben sich in eine heftige Debatte hineingesteigert. Und ich am Nebentisch dachte, das hat auch was mit dem Advent zu tun. Warum feiern wir das? Weil ein Kind geboren werden soll, von dem sich ganz viele Menschen Frieden und Zuversicht erwarten. Wie passt das denn zusammen? Ich hätte da eine Idee.

Sich in einen anderen hineinversetzen ist mehr als nur verstehen

Mir geht die Szene aus dem Café nicht aus dem Kopf, im Advent. Eine junge Frau möchte keine Kinder bekommen. Sie will ihnen nicht zumuten, was ihnen an Kämpfen und Nöten in den kommenden Jahren womöglich droht. Die Adventszeit lenkt unsere Blicke darauf, dass Gott beschlossen hat, als Kind in die Welt zu kommen. Als Erwachsener sehe ich darin keine romantische Beruhigungspille in einer irren Welt. Ich sehe in diesem Jahr die Pointe darin, dass Gott – bildlich gesprochen – in unsere Haut schlüpft, sich in unsere Lage versetzt. Das ist eine hohe Kunst: sich in jemand anderen hineinversetzen. Das ist mehr als Verstehen. Das heißt, Leben mit den akuten Hoffnungen und Ängsten zu teilen.

Nicht zustimmen, aber mitfühlen

Ach, wie schön wäre es, wenn das öfter gelingen könnte, sich in andere wirklich hineinzuversetzen. Wenn Wladimir Putin sich in jemanden hineinversetzen könnte, der kalt im Dunkeln sitzt und sich Frieden wünscht. Oder wenn jemand, der Lebensmittel in den Mülleimer kippt, sich hineinversetzen könnte in jemanden, der tierisch Hunger hat. Ja, manchmal kommt das vor, und dann wird das Leben ein bisschen heller. Allerdings habe ich bei Wladimir Putin und anderen Genossen nicht viel Hoffnung, dass sie sich je in andere Menschen hineinversetzen können. Aber bei der Familie im Café am Nachbartisch schon. Sich in andere hineinversetzen muss nicht heißen, ihnen in allem zuzustimmen. Aber ich kann intensiver mitdenken und mitfühlen.

Mit den Augen der Mutter - mit den Augen der Tochter

Ich kann mit der Mutter davon schwärmen, wie schön es ist, mit Kindern draußen herumzutollen und die Welt zu entdecken. Aber ich könnte dann auch mit den Augen der Tochter sehen, wie schrecklich es sein wird, wenn der ganze Wald verschwunden ist, vertrocknet und abgeholzt. Wie toll, mit Kindern ins Schwimmbad zu gehen und zu plantschen. Gibt es in ein paar Jahren noch genug Wasser dafür? Die Debatte zwischen Hoffen und Sorgen kann lange weitergehen. Hilfreich finde ich es, wenn wir sie nicht nur gegeneinanderstellen, sondern sie miteinander und nebeneinander betrachten. Wenn wir uns darin üben, uns in andere hineinzuversetzen. Ich möchte gerade in diesem Advent suchen, wie mein Hoffen stärker werden kann als mein Sorgen.

Wie wird mein Hoffen stärker als meine Sorgen?

Zwei Gedanken helfen mir dabei. Der erste: Ich bin dankbar, dass meine Vorfahren sich getraut haben, Kinder zu bekommen. Klar, sie hatten auch weniger Möglichkeiten, das zu steuern. Trotzdem. Der älteste Verwandte, den wir in meiner Ahnenreihe ausfindig machen können, wurde im 30jährigen Krieg geboren, so um 1620. Mutig. Das trifft auch auf viele andere Generationen vor mir zu. Gut so, sonst gäbe es mich gar nicht.  Der zweite Gedanke ist ähnlich, betrifft aber nicht nur mich. Als Gott sich entschlossen hat, sich in unser Leben hineinzuversetzen, waren die Zeiten alles andere als rosig. Jede Menge Anlass, sich zu sorgen. Trotzdem, trotzdem – oder gerade deshalb? versetzt er sich in unsere Lage.

Auch früher waren die Zeiten nicht rosig

Die Zeiten damals waren übel. Israel war besetzt von den Römern. Der Landesherrscher Herodes hat aus Angst um seine Macht sogar eigene Familienmitglieder umgebracht. Und die junge Maria soll sich auf den Weg machen. Hochschwanger, ohne ärztliche Versorgung unterwegs. Behördliche Anordnung: auf nach Bethlehem. Ich finde, diese Geschichte ist deswegen zu allen Zeiten so gut, weil die Zeiten damals so schlecht waren. Maria hätte viele Gründe gehabt zu sagen: Ich will kein Kind. Und wir hätten ihr recht geben können. Es ist anders gekommen.

Hoffnungsration für dunkle Tage

Diese Geschichte ist für mich Hoffnungsration für kalte und dunkle Tage. Ich kann die junge Frau im Café verstehen mit ihrer Sorge, und sie hat ein Recht, so zu denken und zu empfinden. Ich wünsche ihr viele hoffnungsvolle Erfahrungen und Ermutigungen. Ich erlebe das selbst durch meine erwachsenen Kinder und durch die Kinder, denen ich im Beruf und in der Nachbarschaft begegne. Sie haben einen guten Einfluss auf mich. Ein Nachmittag mit Kindern wirkt motivierend auf mich. Es stärkt mein Verantwortungsgefühl im Blick auf die nächsten Jahre. Ich kann mich hineinversetzen in Kinder, die sich eine gute Zukunft wünschen. 

Weitere ThemenDas könnte Sie auch interessieren