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Streit ums Erbe: Jakob und Esau
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Streit ums Erbe: Jakob und Esau

Ein Beitrag von Reinhold Truß-Trautheim, Evangelischer Pfarrer, Berlin, früher Frankfurt

Manchmal wird aus einem kleinen Ding eine große Sache. Ein Porzellanservice zum Beispiel, mit Blumenmuster, Kornblumen, das Blau inzwischen etwas verblasst; nicht mehr ganz komplett, Tassen und Teller zum Teil an den Rändern leicht angeschlagen. Aber auf einmal dreht sich alles nur noch um dieses Service. Nie war es so wertvoll wieheute. „Das wollte ich schon immer haben“, sagt die Mittlere der drei Geschwister, „da hängen für mich so viele Erinnerungen dran. Das gemütliche Kaffeetrinken sonntags, bis dann Bonanza angefangen hat“. Die drei sind schon etwas älter, längst erwachsen.

„Das ist ja wie im Sandkasten hier, diese Streiterei um Sachen“, schimpft der Älteste. Aber auch er kann da nicht einfach aussteigen. Inzwischen ist er selbst davon angesteckt und mittendrin im Streit ums Erbe.

Merkwürdig, der entzündet sich an diesem alten Service, an einer Kleinigkeit, eigentlich. Die großen Dinge hatten die Eltern zum Glück in einem Testament geregelt, schon vor Jahren, als der Vater noch lebte: was mal mit dem Ersparten und mit der kleinen Eigentumswohnung geschehen soll. Anders als viele andere müssen die drei Geschwister um die materiellen Werte keine Kämpfe austragen. Dieses Drama bleibt ihnen erspart. Bei ihnen geht es um etwas anderes. Jetzt, da auch die Mutter mit 84 Jahren gestorben ist, muss der Haushalt aufgelöst werden: Möbel, Teppiche und Schmuck, Bücher, Besteck und Geschirr. Was kann weg? Was ist noch zu gebrauchen? Was will ich selbst gerne haben?

Und, wie gesagt, auf einmal dreht sich alles nur um dieses eine Service. Die Mittlere hat damit angefangen; und sie legt nach: Das wäre schon immer so gewesen, seit sie denken kann. Immer musste sie kämpfen, um etwas abzukriegen! Ist halt einfach Pech, das Sandwichkind zu sein, eingeklemmt zwischen dem Stammhalter und dem Nesthäkchen. Der Erste und die Kleine, die waren immer was Besonderes. Sie, die dazwischen, hat einfach mitlaufen müssen und sollte möglichst unauffällig funktionieren. Nie ist sie wirklich von den Eltern gesehen worden. Wie mühsam es dann war, das zu lernen: Dass sie auch jemand ist! Und jetzt will sie sich eben mal durchsetzen und kriegen, was ihr zusteht: das Service mit den Kornblumen.

Den beiden anderen war das im Vorfeld gar nicht so wichtig, aber nun ist auch ihr Ehrgeiz geweckt. Denn für sie hängen ja schließlich auch Erinnerungen daran.

Und so leicht war es nun auch wieder nicht, der Älteste zu sein: als die Mutter noch überängstlich war und der Vater oft überstreng. Und immer auf die anderen aufpassen und verantwortlich sein. Die Jüngste findet ihren Part auch nicht so ohne: Bei ihrer Einschulung ist der Vater dann schon gar nicht mehr mitgekommen, weil was anderes wichtiger war. Konfirmation, Abschlussball in der Tanzschule, Abitur – immer hat sie zu spüren bekommen, dass die Eltern das mehr als Pflichtübung mitgemacht haben, alles halt zum dritten Mal.

Solche großen Themen liegen auf einmal auf dem Tisch. Und sie machen sich fest an diesen paar Tassen und Tellern. Wie kommt es dazu? Worum geht es dabei? Der Streit ums Erbe entzündet sich oft an Kleinigkeiten. Die werden dann auf einmal riesengroß - wie das schon etwas lädierte Kaffeeservice. An solchen Dingen hängen Erinnerungen; und die sind wichtig. Aber daran hängt noch mehr. Manchmal sind Gegenstände regelrecht aufgeladen mit Bedeutung. Erbstücke können eine solche innere Kraft bekommen, dass sie einen ganz eng mit der Person verbinden, der sie gehört haben. Man erhält durch einen solchen Gegenstand Anteil an dem Leben, in dem er zu Hause war. Er soll greifbar eine Brücke bauen, Kontinuität herstellen, die Verbindung halten.

Gerade nach dem Tod des zweiten Elternteils spüren viele Menschen ein großes Bedürfnis, sich noch mal neu in ihrem Leben zu beheimaten. Dabei spielen Erbstücke häufig eine zentrale Rolle. Die längst erwachsenen Kinder wollen sich durch bestimmte Gegenstände den Geist und die Liebe der Eltern neu aneignen und sich ihrer versichern, sie im eigenen Leben festhalten. Das verbreitete Gefühl, irgendwie zu kurz gekommen zu sein, verschärft die Situation, in der sich Geschwister dann befinden und mit der sie klarkommen müssen. Deswegen wird um manche Sachen oft so heftig gestritten – bis hin zur Unversöhnlichkeit.

Religiös gedacht und in der Sprache der Bibel ausgedrückt, geht es dabei um den Segen der Eltern. Die Elternliebe, die enge Verbundenheit und Teilhabe an ihrem Leben, die Kontinuität und innere Kraft der Beziehung – all das kann man zusammenfassen in dem Begriff Segen. In dem Sinn jedenfalls, wie dieser Begriff in den Anfangsgeschichten, den sogenannten Vätergeschichten der Bibel mit Leben gefüllt wird – dort, wo von Abraham und Sarah, von Isaak und Rebekka und von Jakob und Esau erzählt wird.

Diese beiden, Jakob und Esau, sind nicht nur Geschwister, sondern auch noch Zwillinge; das heißt: wirklich von Anfang an sehr eng miteinander verbunden – und gegeneinander angetreten in der Rivalität um die besseren Lebenschancen. So könnte man sagen, ihr Streit ums Erbe hat schon pränatal, im Mutterleib angefangen. Er wird zu einem Kampf um den Segen.

Und ihre Eltern, Isaak und Rebekka, hängen da massiv mit drin. Die Bibel stellt das ganz nüchtern ohne Umschweife fest: Der Vater liebt Esau; die Mutter liebt Jakob. So einfach ist das – und es hätte auch funktionieren können. Tut es aber nicht.

Die Geschichte in groben Zügen: Jakob trickst den minimal älteren Zwillingsbruder in einem schwachen Moment aus und ergattert das Erstgeburtsrecht - in ihrer Kultur gleichbedeutend mit: später mal das gesamte Erbe. Zusammen mit seiner Mutter überlistet Jakob dann den Vater auf dem Sterbebett und verschafft sich den Segen Isaaks, der nur einmal weitergegeben werden kann. Esau wird also um all das betrogen, was ihm rechtmäßig zusteht: Erbe und Segen. Er will sich an seinem Bruder rächen und beschließt, ihn bei passender Gelegenheit umzubringen. Rebekka kriegt das mit und treibt ihren Liebling Jakob zur Flucht. Nach Jahren steht die Wiederbegegnung der verfeindeten Brüder bevor. Beide haben inzwischen eigene Familien und einen großen Besitz. Jakob hat Angst vor dem Wiedersehen. Mit Recht, denn Esau zieht ihm mit vierhundert Mann entgegen. Die Zeichen stehen auf Krieg. Es verspricht, ein spannendes Finale zu werden.

Nach Jahren begegnen sich die verfeindeten Brüder Jakob und Esau wieder. Die Zeichen stehen auf Krieg. In der Nacht vor dem Zusammentreffen muss Jakob noch durch einen anderen Kampf hindurch. Eine dunkle Gestalt überfällt ihn am Ufer eines Flusses, der Jabbok heißt, beim Überschreiten des letzten Hindernisses. In dem erbitterten Zweikampf wird Jakob verletzt. Aber er wird auch gesegnet - zwei Erfahrungen in einer. Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet, sagt er am Ende der Nacht. Jakob wird für den Rest seines Lebens hinken; aber er hat an diesem Morgen die Sonne gesehen wie noch nie.

Als er dann später seinem Bruder Esau begegnet, ist er auf das Schlimmste gefasst. Doch jetzt sieht Jakob auch das Gesicht seines Bruders, wie er es noch nie gesehen hat. Esau läuft ihm entgegen, fällt ihm um den Hals und küsst ihn; und sie weinen. „Ich sah dein Angesicht, als sähe ich Gottes Angesicht“, sagt Jakob, als er seine Sprache wiedergefunden hat. Eine der großen Geschwistergeschichten der Bibel. Sie ist eine Geschichte von Verletzung und von Versöhnung. Und die Moral von der Geschichte? Es gibt keine Moral. Es gibt nur diese Geschichte. Und die behauptet: Familienprobleme und Geschwisterkonflikte gehören zum Leben. Der Streit ums Erbe ist unvermeidbar.

Irgendwo und irgendwie muss er ausgetragen werden. Denn Elternliebe ist ungleich verteilt. Konkurrenz und Rivalität, Neid und Eifersucht unter Geschwistern sind unvermeidbar. Verletzungen werden uns nicht erspart. Je näher wir uns stehen, desto größere Schmerzen können wir uns zufügen. Flüchten ist auf Dauer keine Lösung. Wir müssen uns wieder ins Gesicht sehen können – ohne das Gesicht zu verlieren. Wir können uns gegenseitig unsere Geschichten erzählen; manchmal geht das ohne viele Worte. Versöhnung ist möglich, aber sie braucht Zeit.

Und mit diesen menschlichen Erfahrungen gehen andere oft Hand in Hand: die religiösen, die Erfahrungen mit Gott. Gott macht es uns nicht leicht mit diesem Leben, in das wir hineingeboren werden, auch nicht mit den Beziehungen, die wir uns nicht aussuchen - und die uns doch so stark bestimmen. Manchmal stellt er selbst sich uns in den Weg, und wir haben unseren Kampf mit ihm. Aber Hauptsache, Gott überlässt uns nicht unserem Schicksal. Und sein Segen begleitet uns. Was man mitunter wohl auch merken kann, wenn Geschwister sich noch mal mit anderen Augen ansehen.

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