Die Sehnsucht nach Heil
Die Mutter ist überrascht. Ihr kommen die Tränen, wie ich gelesen habe. Am Abend hatte sie dem Jungen einen Brief ins Zimmer gelegt. Darauf steht: WUNSCHZETTEL. Den Brief hatte sie in einen Umschlag gesteckt. Als der Junge am nächsten Morgen in der Schule ist, öffnet die Mutter den Umschlag. Auf dem Brief die Frage der Mutter: Weißt Du schon, was Du Dir zu Weihnachten wünschst? Darunter die Antwort des Jungen. Sie heißt: Dass Oma kommen kann (gelesen auf Twitter am 15.12.2020). Sonst steht nichts auf dem Wunschzettel. Nur: Dass Oma kommen kann. Voriges Jahr stand so viel auf dem Zettel. Süßes, Spielsachen, besondere Schuhe und so. Jetzt nur die Oma.
Aber sie darf ja nicht kommen. Wir wissen das. Die Mutter weiß es auch. Und der Junge. Es ist die Sehnsucht, die ihn das schreiben lässt. Die Sehnsucht nach Heilem. Es soll wieder heil sein, das Leben; es soll nicht so zersplittert sein. Der Junge will seine Oma umarmen.
Der Mutter kommen die Tränen. Sie ist ja selber traurig. Aber auch froh. Über ihren Jungen, über die Oma. Sie sind nichts Besonderes, aber - sie haben sich lieb. Und brauchen einander. Darum setzt sich die Mutter hin und schreibt ihrem Jungen. Auf den Wunschzettel schreibt sie: Ich bin auch traurig. Aber es wird wieder gut, bestimmt. Weihnachten rufen wir Oma an. Und erzählen uns, was wir alles machen, wenn wir uns wiedersehen. Dann steckt sie den Brief in den Umschlag und denkt: Bitte, Gott, mach dem allen ein Ende. Lass uns Oma sehen. Du willst doch Liebe - und wir haben uns lieb. Bitte, Gott.