Sein letzter Traum
Eigentlich will ich nur eine Zeitung kaufen, aber das dauert. Vor mir an der Kasse steht ein alter Mann, vielleicht um die achtzig Jahre alt, groß, etwas dick. Er gibt seinen Lottoschein ab, das dauert. Er muss ein paar Taschen durchsuchen, findet dann den Schein und hört den Preis: 87. - - Euro. Oh, sagt er, das ist viel. Nun holt er die Geldbörse aus der Hosentasche. Dabei sagt er: 87. - - Euro, das ist viel. Und dabei nützt das gar nichts, das Lottospielen, sagt er, ich könnte das Geld ebenso spenden. Da hat er Recht. 87. - - Euro sind über 170 Mark. Das ist viel Geld für einen Rentner. Gewinnen wird er wohl nichts, das weiß er. Ebenso gut könnte er das Geld den Armen geben. Aber das tut er nicht. Er geht mühsam zur Annahmestelle und spielt Lotto. Warum eigentlich? Warum spielt er immer wieder - und verliert jedesmal sein schönes Geld?
Weil Gewinnen sein letzter Traum ist, glaube ich. Aus vielen Träumen ist er schon erwacht. Der Beruf ist zu Ende, die Gesundheit nicht mehr wie früher. Mit dem Reisen ist es vorbei, seit die Schritte mühsam sind. Mit fast achtzig sind die Aussichten begrenzt und viele Träume ausgeträumt. Aber einen Traum hat er noch, der alte Mann; sein letzter Traum ist: der Riesengewinn, eine Million Euro vielleicht, oder zwei. Und dann groß rauskommen, im Mittelpunkt stehen, in der Zeitung und im Fernsehen sein. Alle fragen: Wie haben Sie das gemacht? Was machen Sie jetzt mit dem Geld? Die Eintönigkeit seiner Tage wird aufpoliert. Er geht zur Annahmestelle, weil er seinen letzten Traum träumt, jede Woche, auch wenn er weiß, dass sein Geld weg ist. Wenn er es den Armen gäbe, wäre der Traum ausgeträumt. Und das geht gar nicht.
Einen Traum braucht jeder, manchmal einen teuren. Als ich sehe, wie der Mann etwas wacklig in seinen weißen Gesundheitsschuhen heimgeht, verstehe ich ihn besser. Ich würde das Geld den Armen geben. Aber wenn es sein letzter Traum ist - das letzte, was er sich gönnt - darf ich das nicht verurteilen. Vielleicht ist er alleine, oft traurig - und sein Traum hält ihn lebendig, jede Woche neu. Dann lebt er für seinen Traum. Das darf sein. Nicht einmal Gott wird das verurteilen.