Das Gedächtnis der Welt
Weil ich unterwegs Hunger habe, kaufe ich mir eine Brezel. Sie kostet siebzig Cent. Ich gebe dem Verkäufer einen Euro und sage: Stimmt so. Erst schaut er mich ungläubig an. Dann sagt er: Danke, dafür schließe ich Sie heute in mein Nachtgebet ein. Jetzt sage ich Danke. Und überlege dabei: für 30 Cent Trinkgeld ein Teil seines Nachtgebets zu sein, ist nicht teuer. Aber vom Geld ganz abgesehen freue ich mich über seinen Satz. Es tut gut, wenn einer an mich denkt. Es tut noch mehr gut, wenn einer vor Gott an mich denkt. Dann bin ich nicht allein auf der Welt. Da ist jemand, der abends seine oder ihre Hände faltet und an mich denkt. Vielleicht ein ganz fremder Mensch, oder ein Bekannter. Wenn meine alte Tante nachts wach lag, war sie in Gedanken bei den Menschen, die sie kennt: bei ihren Nichten und Neffen und deren Kindern; bei den Handwerkern, die gerade ihre Wohnung schön machen; bei dem Ehepaar, das für sie einkauft. Sie sprach im Dunkel der Nacht keine Riesengebete; sie dachte einfach an ein paar Menschen hier und da. Sie dachte vor Gott an diese Menschen. Beten ist Denken vor Gott - die Gedanken laufen lassen in dem Wissen, dass Gott da ist und die beschützen soll, die man liebt. Und die anderen auch.
Ja, die anderen auch. Wer betet, denkt nicht nur an seine Lieben, sondern auch mal an Fremde. Sie wollen auch nicht allein sein in der Welt. Sie wollen auch, dass jemand an sie denkt. Allein sein kann schön sein, für eine Weile. Wenn man sich aber tief im Herzen alleine fühlt, ist das schlimm - wie ausgesetzt und vergessen auf einer einsamen Insel. Ich kann nicht allen helfen, die sich einsam fühlen oder alleine gelassen, aber einigen bestimmt. Vielleicht sogar einigen mehr, als ich oft denke. Dann nehme ich mir ein paar Minuten - morgens oder abends, mit oder ohne Musik, mit oder ohne Kerze - und denke an sie. Ich hole sie aus meiner weiten Seele ans Licht Gottes. Das spüren die Menschen, an die ich denke. Weil ich vor Gott an sie denke. Gott ist das Gedächtnis der Welt.