Achtsamkeit
Washington. An einem kalten Morgen. Ein Mann steht in der Fußgängerzone und spielt Geige. Unter anderem die Chaconne aus Bachs „Partita für Violine in d-Moll“. Eines der großartigsten und schwersten Stücke, die je für Geige geschrieben wurden. Dann spielt der Musikant das bekannte „Ave Maria“ von Schubert – und noch einige andere Meisterwerke der Weltliteratur.
Nach einer Dreiviertelstunde packt der Mann sein Instrument wieder ein und geht. In dieser Zeit hat er 32 Dollar verdient. 1100 Menschen sind vorbeigelaufen. 7 sind stehengeblieben. Keiner hat applaudiert.
Nur eines wussten die Passanten nicht. Das Ganze war ein Experiment der „Washington-Post“. Der Geiger heißt Joshua Bell, er ist einer der besten Violinisten der Welt, seine Stradivari ist mehr als drei Millionen Dollar wert. Und er hat das glei-che Programm gespielt wie zwei Tage zuvor in der ausverkauften Symphony Hall in Boston. Die eigentliche Frage des Experimentes aber lautete: Nehmen wir das Be-sondere, das Schöne auch dann war, wenn wir nicht speziell darauf achten.
Antwort: Nein, das tun wir nicht. Mehr als tausend Leute sind achtlos an einem der virtuosesten Musiker der Welt vorbeigerannt, weil sie in diesem Moment keinen Blick dafür hatten. Das Fazit der „Washington Post“ jedenfalls war: Wir verpassen unendlich viel, wenn wir nicht achtsam sind. Und das gilt nicht nur für grandiose Musik am Straßenrand, sondern auch für viele andere Dinge – etwa für die Spuren Gottes im Leben. Vielleicht scheint er ja deswegen so weit weg, weil wir nicht auf ihn achten.