hr2 ZUSPRUCH
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Dörken-Kucharz, Dr. Thomas

Ein Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Frankfurt

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Rolltreppe und Himmelsleiter

Vor einer Rolltreppe steuert eine junge Frau an mir vorbei. Sie hat einen Säugling im Arm und ist mit Gepäck beladen. Hinter ihr läuft ihre ungefähr zweijährige Tochter. Die Frau betritt die Rolltreppe, ihre kleine Tochter will ihr folgen, bleibt dann aber verwundert und ängstlich stehen. Sie traut sich nicht auf die Treppe. Mit großen Augen beäugt sie misstrauisch die sich auffaltenden fahrenden Stufen. Die Mutter entschwebt längst. Sie dreht sich um und sieht ihre Tochter unten zögern. Sie ermutigt sie nachzukommen und versucht, ihr die Angst zu nehmen. Und wirklich, nach weiterem Zögern wagt das kleine Mädchen schließlich den entscheidenden Schritt auf die fahrende Treppe. Die Mutter ist schon fast oben und lobt ihre Tochter. Diese ist jetzt auf der Treppe ganz entzückt und freut sich, dass sie sich getraut hat. Lachend fährt sie ihrer Mutter entgegen.

Wie Jakob in an der Himmelstreppe

Für mich spiegelt diese Episode etwas von der uralten Erzählung von Jakob und der Himmelsleiter. Für das zweijährige Mädchen muss die Rolltreppe ähnlich einschüchternd und wunderbar gewesen sein wie für den biblischen Urvater Jakob die Himmelstreppe. Jakob hatte von so einer Himmelstreppe geträumt. Als er auf der Flucht war vor seinem Bruder Esau. Jakob hatte Esau mit dem berühmten Linsengericht um dessen Erstgeburtsrecht betrogen und auch noch um den Segen ihres Vaters. Deshalb will Esau Jakob umbringen. Und Jakob ist davor auf der Flucht. Jakob schläft im Freien auf dem nackten Boden. Eines Nachts träumt er von einer Leiter, die von der Erde bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes hinauf und herunter. Plötzlich stand Gott selbst vor ihm und sagte: »Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks (…) Siehe, ich bin bei dir und behüte dich überall, wohin du auch gehst. (1. Mose 28, 12-13,15 a)

Eine Verbindung zwischen Himmel und Erde

Jakob träumt von einer Himmelstreppe, die auf direktem Weg Himmel und Erde verbindet. Engel schweben diese Treppe hinauf und hinunter. Und ganz oben auf der Treppe erscheint ihm Gott. Gott stellt sich vor und eröffnet Jakob Zukunft.

Eine andere Ebene 

Es ist „nur“ ein Traum, aber was heißt „nur“? Erst die Traumtreppe zeigt Jakob, dass es vielleicht noch eine andere Ebene gibt. Auf der einen Ebene, der unteren, verläuft sein Leben ziemlich chaotisch und wenig aussichtsreich. Aber auf einer anderen Ebene macht es vielleicht Sinn. Die Himmelstreppe will ihm sagen: Es gibt eine andere Wirklichkeit, in der die wirren Fäden sinnvoll verknüpft sind. Auf der unteren Ebene ist das nicht zu durchschauen und zu verstehen. Aus himmlischer Perspektive sieht das aber ganz anders aus. Das sagt sein Traum und Jakob vertraut ihm. Am nächsten Tag setzt Jakob seinen Weg selbstbewusst und gestärkt fort. Ab jetzt ist er nicht mehr nur auf der Flucht. Er sucht selbst seinen Weg und hat ein Ziel vor Augen.

Innehalten, träumen, staunen

Manchmal ist es ein Traum, der einen zum Innehalten bringt und zu sich selbst. Manchmal reicht schon aufmerksames Betrachten und Staunen. Als das zweijährige Mädchen auf der Rolltreppe so lachend zu seiner Mutter nach oben schwebte, dachte ich: Ja, ein kleiner Engel.