Positive Energie
Im Marburger Land hatte ich einen katholischen Kollegen. Er war 80. Zu Meetings, die wir meist abends hatten, kam er auch im Winter die 20 Kilometer mit dem Rad.
Als seine Schwester in Fulda mehr Hilfe brauchte, ist er über vierzig Mal hintereinander mit dem Zug von Marburg nach Fulda gefahren, bevor er selbst in die Heimat zurückgezogen ist.
„Normal kommt die Bahn um fünfzehn Uhr dreißig, und der Bus geht fünfzehndreiunddreißig“ erzählt er „aber das schafft die Bahn nie.“ Ein Schmunzeln huscht über sein Gesicht. „Da macht man auch so seine Erfahrungen.“
Andere fluchen wie die Kesselflicker*innen, wenn sie zurückgelassen am Bahnsteig stehen. Zugbegleiterin und Zugbegleiter ist ein nicht ganz ungefährlicher Job geworden. Lästern über die Bahn ist eine Art Volkssport.
Gelassen bleiben
Und was macht mein Kollege? Er sieht zwar Spielraum nach oben – so nach dem Motto „freuen würde ich mich ja, wenn ich doch mal den Anschluss kriegte“. Aber wo die Queen gesagt hätte „We are not amused!“, bleibt er nicht nur so gelassen wie sie, sondern kann dem Ganzen sogar noch etwas Positives abgewinnen. „Erfahrungen!“ Man wird nicht dümmer. Man erlebt – nicht nur angenehme Sachen, aber die gilt es mit Fassung und guter Laune zu tragen.
Es war derselbe Mann, der mir nach einem Seminar mal gesagt hat: „Drei Tage waren gut. Der Rest war sehr gut“. Bestimmt hätte ich es anders formuliert. „Drei Tage waren halt nicht so toll“. Aber es freut mich doch, es so zu hören, wie er es sagt.
Positive Energie kommt aus der Liebe
Und ich frage mich erstaunt: Woher kommt so viel positive Energie? Es kann nicht anders sein: Diese positive Energie kommt aus der Liebe. Wer sich ganz und gar geliebt fühlt, der muss kleine Misserfolge nicht persönlich nehmen. Der weiß: Es geht nicht gegen Dich. Es passiert halt: Der Regen schlägt Dir ins Gesicht. Du musst auf den nächsten Bus warten. Du hast Dir eine Sache anders vorgestellt… all das passiert. Aber daran, dass Du wertvoll bist, ändert es nichts.
Wenn ich einmal 80 werden sollte und dann 50 Jahre Pfarrer gewesen bin, dann habe ich 50 Jahre lang den Auftrag gehabt, anderen das zu erzählen: „Ihr seid wertvolle und von Gott geliebte Menschen.“ Ich bin dann zwar längst im Ruhestand. Aber das macht nichts. Niemand muss Pfarrer sein, um anderen zu sagen: „Du bist wertvoll!“ Das zu sagen, lohnt sich. Denn wer es hört und darauf vertraut, der strahlt positive Energie aus, genau wie mein katholischer Kollege.