hr2 ZUSPRUCH
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Becker, Michael

Ein Sendung von

Evangelischer Pfarrer, Kassel

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Pass gut auf ihn auf, Gott

Gesprochen von Pfarrerin Claudia Rudolff

Jeden Morgen macht sie das, sagt Gerda. Seit fünf Jahren. Da starb ihr Sohn, damals 15 Jahre alt. Ein Unfall. Die Welt blieb stehen. Gerda erinnert sich nur mühsam. Seitdem ist sie eine andere Gerda, hat sie gemerkt. Deswegen musste ich etwas tun, sagt sie. Jeden Morgen.

Jeden Morgen einen Kuss für ihren Sohn

Erst steht Gerda auf, dann geht sie ins Bad, dann in die Küche. Auf dem Weg zur Küche hängt sein Bild im Flur, sagt Gerda. Da sieht ihr Sohn glücklich aus. Als gehöre ihm die Welt. Gerda liebt das Bild. Es hängt kurz vor der Küchentür. Wenn Gerda morgens daran vorbeigeht, beugt sie sich ein bisschen nach unten und gibt dem Sohn einen Kuss. Seit fünf Jahren macht sie das. Küsse machen lebendig, denkt Gerda. Und ihr Sohn soll leben.

Menschen verschwinden nicht einfach 

Gerda weiß natürlich, dass er tot ist. Sie will nur nicht, dass ihr Sohn weg ist. Tote sollen nicht einfach weg sein. Gerda weigert sich, das zu glauben. Das kann nicht sein, sagt Gerda. Dass Menschen einfach verschwinden, als wären sie nie da gewesen. Das kann Gerda nicht glauben. Sie weiß nicht, ob sie an Gott glaubt. Damals sicher nicht, als die Polizei vor ihrer Tür stand. Daneben die Pfarrerin. Und ihr vom Unfall erzählten. Da blieb die Welt stehen.

Das Leben kam langsam zurück und die Frage: Wo ist mein Sohn?

Das war noch Wochen so, erinnert sich Gerda. Bis das Leben zurückkam, ganz allmählich. Und mit ihm die Frage: Wo ist mein Sohn? In ihrem Herzen natürlich. Darum der Kuss, jeden Morgen. Küsse machen lebendig, hofft Gerda. Und sagt sich dann: Mein Sohn ist nicht weg. Er ist bei Gott.

"Pass bloß auf ihn auf, Gott"

Gerda weiß nicht, wo das ist. Hinter den Wolken oder in einem Himmel oder im Paradies. Das Wort ist nicht wichtig. Sie will nur, dass ihr Sohn nicht weg ist. Dann wäre das Leben vergeblich. Wenn man einfach verschwinden kann. Nein, sagt Gerda, das kann nicht sein. Das widerstrebt meiner Vernunft. Also küsst sie ihren Sohn. Schenkt ihm ein bisschen Liebe. Und sagt dann manchmal vor sich hin: Pass bloß auf ihn auf, Gott. Wo immer Ihr auch seid. Eines Tages bin ich bei Euch. Dann musst Du mir viel erklären, Gott. Also: Pass gut auf meinen Sohn auf. Er ist ein Teil meines Herzens.