Meines Nächsten Nächster
Wie hältst du es eigentlich mit deinem Nächsten?
Die Frage stelle ich mir heute am Weltbevölkerungstag noch einmal ganz neu. Ich hab gelesen: Dieser Tag erinnert an ein Ereignis aus dem Jahr 1987: Damals – so die Berechnungen der UN – wurde der fünfmilliardste Mensch geboren. Heute, nicht mal 40 Jahre später, sind wir bei über 8,3 Milliarden.
8,3 Milliarden Menschen.
Als ich das gelesen habe, hab ich erst mal tief durchgeatmet. Was für eine unvorstellbare Zahl. Ich hab dann eine Website gefunden, auf der diese Zahl im Sekundentakt hochzählt – wie eine tickende Uhr. Und obwohl ich weiß, dass jeder dieser Zähler ein echter Mensch ist, fühlt sich das Ganze irgendwie abstrakt an.
Wer ist mein Nächster?
Ich merke, wie ich mich da schnell verliere.
In Zahlen. In Statistiken. In Weltlage und Klimakrise. Und ich frage mich: Wer ist denn überhaupt mein Nächster? Bin ich da überhaupt gemeint?
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Das habe ich oft gehört – und oft überhört. Denn ehrlich: Ich tue mich manchmal schon schwer, mich selbst gut zu behandeln. Geduldig zu sein mit mir. Nachsichtig. Wie soll ich das dann bei anderen schaffen?
Begegnung als Anfang
Aber vielleicht fängt Nächstenliebe genau da an: Nicht bei den ganz großen Weltproblemen, sondern bei der einen Begegnung. Dem einen Blick. Der einen Entscheidung, ob ich hin- oder wegsehe.
Der Weltbevölkerungstag erinnert mich heute nicht nur an aktuell 8,3 Milliarden. Sondern an Einzelne, an echte Personen. An Menschen, die ich vielleicht nie persönlich treffen werde – und doch beeinflusse, durch mein Handeln, meinen Konsum, meine Haltung.
Ich frage mich: Kann ich ein Leben führen, das anderen Raum lässt? Kann ich teilen – nicht nur Besitz, sondern auch Aufmerksamkeit, Geduld, Zeit? Ich werde heute versuchen, achtsamer zu sein. Für den Menschen, der mir heute begegnet. Und vielleicht auch für mich selbst.
Nächstenliebe fordert
Das macht Nächstenliebe manchmal unbequem – weil sie fordert, dass ich meinen Blick weite und auch die Menschen einschließe, die anders sind als ich. Aber gerade darin zeigt sich für mich die Kraft und Schönheit dieser Liebe: Dass sie keine Grenzen kennt und keine Ausnahmen macht. Sie ist eine Einladung an mich, die Würde eines jeden Menschen zu erkennen und zu achten – weil wir alle, unabhängig von Herkunft, Status oder Meinung, mit der gleichen Würde geschaffen sind. Und genau darin liegt für mich der Kern des Weltbevölkerungstags: Dass ich meinen Blick öffne – nicht nur für den Nächsten, der mir vertraut ist, sondern auch für den Nächsten meines Nächsten, den ich vielleicht gar nicht kenne, aber der genauso meine Achtung und mein Mitgefühl verdient.
Denn Nächstenliebe beginnt nicht irgendwo in der Welt. Sie beginnt in meinem Kopf. In meinem Herzen. Und manchmal ganz schlicht: in der Begegnung mit dem Nächsten meines Nächsten. Angelehnt an den großen Religionsphilosophen Martin Buber würde ich sagen: Die ganze Welt kann sich verändern, wenn ich sogar meines Nächsten Nächsten wirklich sehe.