Der Zeitungsleser
„Der Zeitungsleser“, das ist eine Skulptur vom Künstler und Bildhauer Theo Balden. Neulich habe ich sie im Kunstmuseum in Leipzig entdeckt: Sie stellt einen Mann dar mit einem markant-kantigen Gesicht. Alle Striche seines Kopfes richten sich auf die Zeitung, die er in großem Format in seinen Händen hält. Seine großen staunend-gespannten Augen blicken in die Blätter. Und die Blätter der Zeitung sind wie große Fenster. Sie haben nur die Ränder und in der Mitte ein großes Loch, durch das man schauen kann. Die Zeitung ist ein Fenster, durch das der Mann in seine Umgebung guckt. Umgekehrt kann man dem Mann, wenn man vor ihm steht, durch das Fenster in sein Gesicht schauen. Der lesende Mann ist auch sonst verbunden mit der Wirklichkeit, die ihn umgibt: Er sitzt zwar, aber seine Beine sind in gespannter Haltung. Es sieht aus, als will er gleich durch seine Zeitung in das wirkliche Leben springen.
Durch die Zeitung hindurch in die Wirklichkeit schauen
Die meisten Zeitungen gibt es heute nicht mehr in so unhandlich großem Format, dass man schwer damit hantieren muss, sondern im Internet, auf dem Tablet oder auf dem Handy. Der Künstler Theo Balden hat mit seiner Skulptur aber auch ins Bild gebracht, was Zeitung-Lesen heute bedeuten kann: durch die Zeitung hindurch in die Wirklichkeit schauen - und sich durch die Zeitung von der Wirklichkeit anschauen lassen. Mit der Zeitung kann die Welt von Politik und Wirtschaft, Kunst und Kultur in meinen Alltag hereinkommen. Mich so von der Wirklichkeit der Welt anblicken lassen und die Welt in ihrer Wirklichkeit anschauen, das ist verantwortungsbewusste Zeitgenossenschaft.
Im Gespräch mit Zeitung und Bibel in Bewegung kommen
Für mich als Christ kommt noch etwas anderes dazu: „In der einen Hand die Zeitung und in der anderen Hand die Bibel“, das ist ein bekanntes Wort des evangelischen Theologen Karl Barth. Darin finde ich immer noch, was es für mich als Christ bedeutet, als verantwortungsbewusster Zeitgenosse zu leben. Auch durch die Bibel kann ich meinen Alltag anschauen, und ich kann mich durch ihre Worte ansprechen lassen. Mit der Bibel bekommt das, was ich in der Zeitung lese, ein anderes Licht. Zum Beispiel durch so ein Wort: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst.“ (Lev 19,34). Dies spricht Gott eigentlich zum Volk Israel vor mehr als 2.500 Jahren, denn das Volk Israel hat selbst als Fremde in Ägypten gelebt. Aber dieses Wort spricht auch in meine Wirklichkeit heute, von der ich in der Zeitung lese. Erst dann, wenn ich mich durch dieses Wort selber gesehen und angesprochen fühle, kommt die Bibel auch bei mir an. So kann ich Gottes Wort an mich finden - im Gespräch mit Zeitung und Bibel, wenn ich mich durch die Zeitung und durch die Bibel gesehen und angesprochen fühle. Und wie bei dem aufmerksamen Zeitungsleser von Theo Balden im Kunstmuseum in Leipzig braucht es dann noch meine Beine, die mich in Bewegung setzen.