Vergiss die schönen Tage nicht
„Käthe, mach die Hundert voll“. So lautet der Titel eines Liederbuchs, aus dem manchmal die alten Frauen unseres Frauenkreises singen. „Neue Lieder für Senioren“ ist der Untertitel und er verrät, dass lauter Lieder über das Alter im Buch stehen. Manche Lieder finde ich ein bisschen platt, zum Beispiel: „Wir sind die Alten mit den vielen Falten“ oder „Grässlich, ich werde vergesslich“.
Insgesamt ist aber das Thema Alter in allen Liedern besungen – das Lob des Alters und seine Gebrechen, seine Würde und seine Mängel. In manchen Liedern wird die Erinnerung genannt. Und die ist für alle Menschen besonders wichtig. Sich an etwas zu erinnern, was einmal gewesen ist, heißt doch: es im Gedächtnis aufzubewahren, eben nicht zu vergessen. „Käthe, mach die Hundert voll“; erinnere dich an deinen Weg bis hierher und vergiss dabei die guten Tage nicht.
Einmal in der Woche treffe ich mich mit alten Menschen aus dem Dorf zu einer Stunde Gymnastik für Alte. Wir machen Tanzen im Sitzen und Gedächtnistraining, singen manchmal und erzählen viel. Wir sitzen im Kreis. In die Mitte stelle ich immer irgendetwas, was zum Erzählen anregt. Die Gruppe ist immer gespannt: Mal sehen, was er heute mitbringt. Das sind manchmal Früchte und Blumen, die zur Jahreszeit passen, jetzt Sonnenblumen oder reife Äpfel.
Ich bringe gelegentlich auch Gegenstände mit – eine alte Kaffeemühle, wie sie früher jeder hatte oder ein Waschbrett, ein Stück Kernseife oder eine Wärmflasche aus Zinkblech. Kaum gesehen, kommen die Erinnerungen an frühere Zeiten. Und dann wird erzählt wie mühselig die Landwirtschaft war als es noch nicht die großen Maschinen gab oder wie sie die Not der Nachkriegszeit überwunden haben.
Manchmal wird so viel erzählt, dass wir unser Training für Körper und Geist fast vergessen. Doch zu erzählen ist gerade für alte Menschen wichtig. Im gemeinsamen Erzählen finden wir zusammen. Und da findet die Erinnerung ihren Platz; sie wird zu einem Paradies, aus dem uns niemand vertreiben kann. Also: „Käthe, mach die Hundert voll und vergiss die guten Tage nicht!“